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Es dauerte nicht lang, dann war der Türrahmen in Marinettes Rücken von der Matratze des Bettes ersetzt worden, und sie und Cat Noir verwandelten sich beide zurück.
Irgendwie bekamen sie es hin, sich vorher noch schnell ein paar Sicherheitsmaßnahmen zuzumurmeln: Augen geschlossen halten, Marinettes Klamotten neben ihrer Seite vom Bett auf dem Boden, Cat Noirs neben seiner Bettseite.
Marinette hatte Mühe, in der Dunkelheit nicht die Orientierung zu verlieren, aber das galt nur für den Raum.
In Relation zu Cat Noir wusste sie ganz genau, wo sich jeder Teil ihres Körpers befand.
Überdeutlich.
Seine Küsse und seine Berührungen verlangsamten ihre Gedanken. Trotzdem nahm Marinette wahr, was es bedeutete, was sie da gerade taten.
Dass es nicht echt war.
In der Realität – im echten Leben – hatten sie keine gemeinsame Wohnung. In der Realität waren sie kein Paar mehr und in der Realität durften sie sich nicht wieder so nahekommen.
Aber das hier war nicht die Realität.
Es war nur ein Traum.
Sie gaben sich gerade einem wunderschönen Traum hin.
Es war der gleiche Traum, den Marinette in ihren einsamen Nächten in diesem Bett geträumt hatte - nur, dass sie ihn jetzt wieder mit Cat Noir teilte.
Und gemeinsam stürzten sie sich mitten hinein.
Keine Grenzen mehr.
Nichts, was mehr unmöglich war.
Nichts, was zu unrealistisch oder zu undenkbar für diesen Traum war.
Als endlich alle Kleidungsstücke zwischen ihnen beseitigt waren, war es für Marinette, als hätten sie damit auch ihr echtes Leben abgelegt.
Als hätte sich ihre realistische Zukunft, in der sie unabhängig voneinander existieren mussten, in Luft aufgelöst.
Und da war nur noch das Leben, dass sie eigentlich miteinander führen sollten.
Gemeinsam in dieser Wohnung.
Ohne Masken und ohne Geheimnisse.
Mit ihren Freunden, die sie besuchten, und ihren Familien, die sich mit ihnen freuten.
Gemeinsame Reisen und Ausflüge.
Und vor allem: Gemeinsamer Alltag.
Jeden Abend nebeneinander einschlafen und am nächsten Morgen nebeneinander aufwachen.
Und dort hörte der Traum noch nicht auf.
Marinette wollte noch mehr, das ganze Paket.
Gemeinsam getroffene Lebensentscheidungen, Hochzeit, das Erschaffen eines echten Zuhauses, ein Hamster, irgendwann Kinder ...
Kurz gesagt: Ein ganzes Leben an Cat Noirs Seite.
Noch nie zuvor hatte Marinette es gewagt, dieser Sehnsucht in ihrem Innern nachzugeben.
Sie hatte es nie gewagt, so groß und weit zu träumen.
Aber etwas in ihr spürte, dass hier und jetzt ihre einzige Möglichkeit dazu war.
Wenn dieser Traum irgendwann wieder endete - und er würde enden, viel zu bald schon - würde all das wieder in unerreichbare Ferne rücken.
Und vermutlich würde es dann noch viel schmerzhafter sein, als vorher.
Doch Marinette war das in diesem Moment egal.
Sie ließ sich komplett fallen – mitten hinein in Cat Noirs leidenschaftliche Umklammerung.
Marinette lag auf Cat Noirs nackter Brust. Und da sein Gesicht außerhalb ihres Sichtfeldes lag, hatte sie die Augen geöffnet.
Mit langsamen Bewegung strich sie mit ihrem Finger über seinen muskulösen Oberkörper.
Das Tageslicht, das durch die Gardine zu ihnen drang, hatte mittlerweile deutlich abgenommen und sie musste sich anstrengen, um die Details seiner Haut erkennen zu können.
Trotzdem saugten ihre Augen den Anblick regelrecht auf.
Als würden sie ihn sich für schlechte Zeiten einprägen wollen.
Marinette hatte keine Ahnung, wie spät es war.
Sie schätze, dass sie sich schon mindestens anderthalb Stunden in diesem Bett befanden, aber gut möglich, dass es auch schon zwei oder drei Stunden waren.
Sie spürte bereits das leichte Drängen in ihrem Inneren – ihre Vernunft, die sie davor warnte, zu spät nach Hause zu kommen.
Doch noch konnte sie sich nicht von Cat Noir und ihrem Traum losreißen.
Nur noch ein paar Minuten.
Sie wollte nur noch ein paar Minuten so mit ihm daliegen.
Auf seinen Herzschlag hören, seinen Geruch einatmen und die Wärme seines Körpers spüren.
Obwohl das kaum möglich war, schmiegte sie sich noch enger an ihn.
Er reagierte darauf und zog sie mit seinem Arm fester an sich. Dann begann er, mit seiner Hand langsam über ihren Rücken zu streicheln.
Marinette schloss genüsslich die Augen.
Sie hätte noch Ewigkeiten so daliegen können.
Doch irgendwann hielt sie es nicht länger aus.
Sie hob den Kopf – langsam, damit Cat Noir noch genügend Zeit hatte, um ebenfalls die Augen zu schließen – und näherte sich seinem Gesicht mit ihrem.
Zum unzähligsten Mal in den vergangenen Stunden küsste sie ihn und wie bei jedem einzelnen Mal zuvor erwiderten seine Lippen gierig den Kuss, als wäre es ihr letzter.
Und diesmal stimmte es sogar.
Sie wussten es beide.
Sie schmeckten die qualvolle Sehnsucht aus dem Kuss heraus, und sie spürten die Verzweiflung, mit der sie sich in ihrem letzten gemeinsamen Moment aneinanderklammerten.
Als der Kuss schließlich geendet hatten, blieb Marinette noch ein paar Sekunden mit ihrem Gesicht ganz nah über seinem hängen.
Sie schluckte all die Worte hinunter, die sie zu ihm sagen wollte und löste sich dann von ihm.
Ihre Haut schien leise aufzuseufzen, dort, wo sie eben noch so eng an ihn gepresst gewesen war.
Marinette setzte sich auf die Bettkante und sah hinab auf dem Boden, wo ihre Kleidungsstücke lagen.
Mit langsamen Bewegungen begann sie sich anzuziehen.
Beinahe rechnete sie damit, dass Cat Noirs Hände jeden Moment wieder nach ihr greifen und sie noch ein paar Minuten länger im Bett festhalten würden.
Ja, sie wünschte es sich regelrecht, dass er hinter ihr auftauchte, die Arme um ihre Taille schlang und sich an sie drückte.
Doch es passierte nicht.
Der Traum war endgültig vorbei.
Sobald sie fertig angezogen war, erhob Marinette sich und ging auf die Tür zu – sorgfältig darauf bedacht, dem Bett dabei immer den Rücken zuzuwenden.
Sie hatten sich voneinander verabschiedet.
Trotzdem fühlte es sich schrecklich an, nichts sagen zu können.
Nicht einmal ein geflüstertes »Leb wohl.«.
Im Wohnzimmer sah Marinette sich suchend nach Tikki um. Sie saß am Fenster und als sie Marinette hinter sich hörte, wandte sie ihren Blick von der Straße auf der andern Seite der Scheibe ab.
Sie sah Marinette in die Augen, sagte aber nichts.
Und Marinette war ihr ehrlich dankbar dafür.
»Tikki, verwandle mich.«, sagte sie – gerade laut genug, dass ihr Kwami sie hörte.
Ihr Ladybuganzug erschien.
Sie blieb noch einen Moment in der Mitte des Raumes stehen und atmete tief durch.
Sie hatte schon einmal gedacht, die Wohnung ein allerletztes Mal zu verlassen.
Doch diesmal würde es endgültig der Fall sein.
Sie durfte nie wieder herkommen.
Das war ihr bewusst.
Nur so konnte sie verhindern, dass so etwas wie heute erneut passierte.
Marinette hörte Schritt hinter sich. Und ihr erster Gedanke war, dass er noch immer unverwandelt sein musste, denn als Cat Noir bewegte er sich geräuschlos wie eine Katze.
Doch als sie sich vorsichtig umdrehte und auf seine Füße sah, steckten sie bereits wieder in den schwarzen Stiefeln seines Anzuges.
Langsam hob sie den Kopf und ließ ihren Blick seinen Körper hinaufgleiten, bis sie bei seinen Augen angekommen war.
Er stand nur drei Meter von ihr entfernt.
Trotzdem fühlte es sich an, als wären sie meilenweit voneinander entfernt - und dann auch wieder nicht.
Da war eine ungewohnte, verwirrende Spannung zwischen ihnen.
Als würden sie noch immer den leisen Nachhall der Berührung des anderen auf der Haut spüren, aber als hätte sie gleichzeitig vergessen, dass sie sich jemals näher als diese drei Meter gekommen waren.
Eben noch hatte Marinette sich gewünscht, zum Abschied etwas zu ihm sagen zu können.
Nun hätte sie die Möglichkeit dazu gehabt.
Trotzdem blieb sie stumm, und Cat Noir tat es ihr gleich.
Marinette wusste nicht, ob sie über sein Schweigen erleichtert oder enttäuscht war.
Sie hätte gern noch einmal seine Stimme gehört, aber was sollte er schon zu ihr sagen?
Dass er die gemeinsame Zeit genossen hatte?
Oder dass er es bereute?
Jedes einzelne Wort zwischen ihnen wäre falsch gewesen.
Entweder gelogen oder unangebracht.
Obwohl es in genau dieselbe Kategorie fiel, begann Marinette sich nun zu fragen, was Cat Noir wohl gesagt hätte, wenn sie ihn vorhin mit ihrem Kuss nicht zum Schweigen gebracht hätte.
Dass er sie noch liebte?
Dass er sie wollte?
Oder hätte er vielleicht ein allerletztes Mal versucht, sie davon abzuhalten?
Sie würde es wohl nie erfahren.
Mit einer ruckartigen Kopfbewegung riss Marinette sich von seinem Blick los, öffnete das Dachfenster und sprang nach draußen.
Ohne noch einmal hinter sich zu schauen, machte sie sich auf den Heimweg.
Und je weiter sie sich von Cat Noir entfernte, desto deutlicher kam das seltsame Gefühlsgemisch bei ihr an, dass diese gemeinsamen Stunden ihr beschert hatten.
Ja, es tat weh, sich ein zweites Mal von ihm losreißen zu müssen.
Ein zweites Mal diese Verbindung zwischen ihnen zu durchtrennen.
Und doch war Schmerz nicht das Einzige, was sie empfand.
Da war auch ein Art Wärme oder Glühen in ihrem Innern.
Diese Zeit – dieser Traum – war trotz alledem wunderschön gewesen und die Erinnerung daran hatte sich für immer in ihr Herz eingeprägt.
Und vielleicht, redete sie sich ein, war dieser Nachmittag sogar notwendig gewesen, damit sie das Warten auf Cat Noir in Zukunft aushalten konnte.
Denn nun wusste sie noch einmal viel genauer, worauf sie wartete und wofür sie in Zukunft kämpfen würde.
Es war ihr also gar nicht möglich, es zu bereuen – so sehr ihre Vernunft auch versuchte, sie dazu zu bringen.
Marinette konzentrierte sich auf die Schule, ihre Freundschaft mit Alya und die Beziehung zu ihren Eltern – so, wie sie es sich an Silvester vorgenommen hatte.
Und es funktionierte ziemlich gut.
Sie kam zurecht. War sogar auf gewisse Art glücklich.
Sie fürchtete sich ein wenig vor ihrem nächsten Superhelden-Einsatz, aber nicht so sehr, dass es sie bedrückt hätte.
Sie wusste, dass es so ein problematisches Aufeinandertreffen wie in der Wohnung nicht wieder geben würde.
Den geheimen Wunsch danach konnte sie nicht abschütteln, doch ihre Vernunft hatte bereits die erforderlichen Schutzmaßnahmen getroffen – indem sie sie daran erinnert hatte, was ihr Verhalten für Folgen haben konnte.
Sie selbst hatte nicht vor, eine Beziehung mit jemand anderem einzugehen. Aber Cat Noir wollte sie den Weg dorthin nicht versperren.
Er sollte keine Sekunde lang denken, dass es sich lohnte, auf eine baldige Wiedervereinigung zu hoffen.
Und in Marinettes Augen hatte er viel mehr Glück verdient, als nur ab und an eine gemeinsame Nacht des Träumens.
Er sollte sein Leben ohne sie leben, und damit würde er es auch ihr leichter machen.
Auch sie musste lernen, auf ihn zu verzichten, um nicht in alte, ungute Muster zurückzufallen.
Die Lügen, die heimlichen Treffen, die zurückgehaltenen Alltagsprobleme – all das lag hinter ihr und das war gut so.
Jeden Tag, immer und immer wieder, rief Marinette sich das ins Gedächtnis.
Und als anderthalb Wochen später, an einem Samstagvormittag, ihr Handy einen Superschurken ganz in der Nähe ihres Wohnortes meldete, reagierte sie mit ruhiger Entschlossenheit.
Diesmal musste Tikki sie nicht erst mit einer flammenden Rede in die richtige Heldenstimmung versetzen.
Sie wusste, dass sie eine makellose und selbstbeherrschte Ladybug sein würde.
Da ihre Eltern nicht da waren, musste Marinette nicht erst die Wohnung verlassen, um sich zu verwandeln.
Sie legte einfach nur den Schulhefter zur Seite, in den sie gerade vertieft gewesen war, erwiderte den aufmunternden Blick ihres Kwamis und sagte mit fester Stimme: »Tikki, verwandle mich.«
Doch nichts passierte.
Tikki schwebte noch immer eine Armlänge vor ihrem Gesicht und hatte sich nicht vom Fleck gerührt.
Verwirrt fasste Marinette sich an die Ohren, doch ihr Miraculous war an Ort und Stelle.
Natürlich – sie legte die Ohrringe niemals ab.
»Bist du hungrig?«, fragte sie ihr Kwami, doch Tikki schüttelte den Kopf.
Sie sah auch kein bisschen erschöpft aus. Außerdem gab es gar keinen Grund, warum sie hätte hungrig sein sollen.
Seit ihrem letzten Treffen mit Cat Noir hatte Marinette sich nicht wieder verwandelt und erst recht nicht ihre Spezialfähigkeit benutzt.
Und doch schwebte Tikki noch immer reglos vor ihr in der Luft.
»Tikki, verwandle mich!«, sagte Marinette noch einmal mit besonderer Eindringlichkeit.
Wieder passierte nichts - außer, dass Tikkis große, dunkelblaue Augen sich immer mehr weiteten.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Marinettes Magengegend breit.
»Was ... ist los?«, fragte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme, »Warum wirst du nicht in meine Ohrringe gezogen?«
Tikki sagte nichts und starte Marinette nur weiter an.
Unter diesem Blick fühlte Marinette sich, als hätten ihre Worte sie tatsächlich verwandelt. Aber nicht in Ladybug, sondern in einen Flamingo oder ein anderes exotisches Tier.
»Tikki!«, sprach sie ihr Kwami ein weiteres Mal an.
Diesmal kam das Zittern in ihrer Stimme nicht von Verunsicherung, sondern von Verärgerung.
Oder war es vielleicht Angst?
»Was. Ist. Los?«
»Marinette ...«, sagte Tikki mit schwacher Stimme.
»Ich kann dich nicht verwandeln!«
»Das sehe ich.«, erwiderte Marinette, mittlerweile schon fast ungehalten, »Aber warum? Ist mein Miraculous kaputt?«
Ihr Kwami schüttelte den Kopf.
»Was ist es dann?«
»Du ... darfst jetzt aber nicht ausflippen!«, sagte Tikki zögerlich.
Marinette konnte ihr das unmöglich versprechen, aber mit einem unmissverständlichen Blick machte sie ihr klar, dass sie auf jeden Fall ausflippen würde, wenn Tikki nicht endlich mit der Sprache herausrückte.
»Ich kann dich nicht verwandeln, weil ... weil ...«
Marinettes Augen verengten sich drohend zu Schlitzen und brachten ihr Kwami dazu, weiterzureden.
»Weil ich mithilfe des Miraculous nur einen Menschen verwandeln kann.«
Endlich hatte Marinette eine Antwort.
Aber sie war kein Stück schlauer.
»Was soll denn das heißen?«, fragte sie verwirrt.
Tikkis Blick wurde eine Mischung aus ängstlich und entschuldigend.
»Es bedeutet, dass du schwanger bist, Marinette.«
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