28
Als sie nach einem langen, anstrengenden Aufstieg die letzte Stufe hinter sich ließ, seufzte Marinette erleichtert auf.
Sie blieb einen Moment stehen, hielt sich am Geländer fest und wartete, bis sie wieder zu Atem gekommen war.
Seit sie denken konnte, war diese Treppe Bestandteil ihres Zuhauses und sie war es gewöhnt, sie mit Leichtigkeit zu überwinden, ohne sie überhaupt richtig wahrzunehmen.
Jetzt gerade hatte sie sich die Stufen regelrecht nach oben kämpfen müssen und dabei war sie überraschend an ihre Kindheit erinnert worden.
Etwas in ihr kannte noch das Gefühl, das sie früher beim Anblick der Treppe gehabt hatte. Für die kleine Marinette, die eben erst gelernt hatte, zu laufen, war sie ein ernst zu nehmendes Hindernis gewesen.
Je länger und kräftiger ihre Beine geworden waren, desto leichter hatte sie es überwinden können, aber anscheinend war dieser Prozess umkehrbar.
Anscheinend brauchte es nur einen durch Schwangerschaft beanspruchten Körper und einen Nachmittag, an dem sie diesen Körper nicht geschont hatte.
Marinette war müde und erschöpft, aber davon abgesehen fühlte sie sich gut und das anhaltende, zarte Lächeln auf ihrem Gesicht war der Beweis dafür.
Sie war meilenweit davon entfernt, das Treffen mit Cat Noir zu bereuen.
Sie löste sich vom Geländer, holte den Haustürschlüssel aus der Tasche und betrat die Wohnung.
Ihre Eltern waren nicht da, weshalb sie zur Abwechslung ihre Gefühle an diesem Ort nicht verbergen musste.
Es tat gut.
An diesem Tag hätte es Marinette nicht gewundert, wenn ihren Eltern - selbst mit unterdrücktem Lächeln - etwas an ihr aufgefallen wäre.
Vielleicht ein allgemeines Strahlen, das von ihr ausging.
Ein besonderes Funkeln in ihren Augen.
Oder ein zarter, rosa Hauch auf ihren Wangen.
So allerdings konnte sie völlig unbeobachtet zum Kühlschrank hinüber gehen und sich einen Teller mit verschiedenen, wild durcheinandergewürfelten Leckereien beladen.
Und während sie hinauf in ihr Zimmer ging, konnte sie bedenkenlos mit ihrer freien Hand über ihren Bauch streicheln und ihrem Kind ein paar liebevolle Worte zumurmeln.
Sie fragte sich, ob ihr Kind die gleichen Erfahrungen mit diesem Haus machen würde, wie sie selbst; ob die Treppen im Haus seiner Großeltern auch im Leben ihres Kindes zu den ersten, größeren Herausforderungen gehören würden.
In ihrem Zimmer angekommen, stellte Marinette den Teller auf ihrem Schreibtisch ab und ließ sich auf den Stuhl fallen.
Sie musste sich noch umziehen, aber diesen kurzen Moment des Ausruhens gönnte sie sich.
Sie nutzte die Zeit, um das Ultraschall-Bild aus ihrer Jackentasche zu holen, und es zum unzähligsten Mal an diesem Tag zu betrachten.
Bevor sie von Cat Noir aufgebrochen war, hatte er ihr noch einmal für seinen Abzug des Bildes gedankt und ihr gesagt, wie viel es ihm bedeutete. Und bei ihrer Umarmung zum Abschied hatte er ihr zugeraunt: »Beim nächsten Ultraschall-Termin begleite ich dich.«
»Ich hoffe es.«, hatte sie in ihren Gedanken geantwortet und ihn liebevoll angelächelt.
Marinette verstaute das Bild in ihrer Schreibtischschublade unter einem Stapel Zeichenblöcken und begann dann, sich auszuziehen.
Als sie aus ihrer Hose stieg, blieb ihr Blick an ihren Oberschenkeln hängen. Dort waren blass die Abdrücke von Cat Noirs Griff zu erkennen.
Aus Erfahrung wusste sie, dass daraus bereits morgen ausgewachsene, blaue Flecken geworden sein würden.
Es war nicht das erste Mal, dass Cat Noir mit seiner Miraculous-Stärke Spuren auf ihrem Körper hinterlassen hatte, aber es fiel ihr schwer, ihm einen Vorwurf daraus zu machen.
In der Situation selbst hatte sie es kaum wahrgenommen.
Außerdem hatte sie ihn noch nie darauf aufmerksam gemacht und vermutlich wusste er nicht einmal, dass er sie auf diese Art zeichnete.
Ihm schien bewusst zu sein, wie sehr er ihr körperlich Überlegen war – immerhin ging er in weniger hitzigen Situationen sehr vorsichtig mit ihr um –, aber anscheinend dachte er nicht ununterbrochen daran und dafür hatte sie Verständnis.
Während sie mit ihren Fingern über die leicht verfärbte Haut strich, musste Marinette sogar ein kleinwenig lächeln.
Die Tatsache, dass Cat Noir sich nicht mehr hundertprozentig unter Kontrolle hatte, wenn er sie auf diese Art berührte, tat ihrem Selbstbewusstsein unheimlich gut.
Und auch wenn die Flecken leichte Verletzungen waren, gefiel es ihr, eine Erinnerung an diesen Nachmittag auf ihrem Körper zu tragen.
Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie daran dachte, dass sie Cat Noir heute zur Abwechslung ebenfalls »markiert« hatte.
Irgendwo in Paris war ein blondhaariger, grünäugiger, junger Mann unterwegs, dessen Hals ein großer Knutschfleck zierte.
Marinette holte sich eine bequeme Jogginghose und einen Pulli aus dem Schrank und schlüpfte hinein.
Währenddessen musste sie daran denken, wie es zu dem Knutschfleck gekommen war.
Sie hatte Cat Noir im Nachhinein gefragt, warum er sich erst so spät zurückverwandelt hatte und auch jetzt jagte die Erinnerung an seine Antwort einen wohligen Schauer über ihren Körper.
»Ich wollte dich noch möglichst lang mit meinen Katzensinnen wahrnehmen. Ich wollte trotz des gedämpften Lichts jedes Detail deines Körpers sehen.
Ich wollte deinen Herzschlag und deinen Atem ganz deutlich hören und jede noch so kleine Veränderung mitbekommen.«
Marinette war sofort wieder heiß geworden, als er das gesagt hatte, und ihre Wangen mussten geglüht haben.
Aber die Ursache dafür war nicht gewesen, dass sie sich geschämt hätte oder peinlich berührt gewesen wäre, sondern sie hatte sich schlicht davon geschmeichelt gefühlt.
Und: Sie war ein wenig neidisch geworden.
Sie hätte Cat Noir gern genauso deutlich wahrgenommen, wie er sie.
Als ihre Kleidung in der separaten Kiste in ihrem Kleiderschrank verstaut war, hatte Marinette es geschafft.
Endlich konnte sie es sich auf ihrem Sofa bequem machen und ihren Hunger stillen, ohne sich um das plötzliche Auftauchen ihrer Eltern Gedanken machen zu müssen.
Sie wusste nicht, wann genau sie von dem Ausflug zurückkommen würden, der ihr das unkomplizierte Treffen mit Cat Noir ermöglicht hatte.
Sie hoffte, dass es noch etwas dauerte.
Sie wollte sie nicht schon wieder anlügen müssen, wenn sie fragten, was sie heute nach der Schule so gemacht hatte.
Marinette hatte es in keiner Weise provoziert, doch ihre Gedanken drängten immer deutlicher in eine bestimmte Richtung.
Für die erste Hälfte der Mahlzeit kämpfte sie noch dagegen an.
Dann ergab sie sich dem Drang.
Es war die Art Moment, bei dem sie sich für gewöhnlich mit Tikki ausgetauscht hätte.
Sie dachte kurz darüber nach, Wayzz aus der Schatulle zu holen und mit ihm zu reden, blieb dann aber doch mit ihren Gedanken allein.
Ihre Eltern, die nach wie vor nichts von ihrer Schwangerschaft wussten, Cat Noir, der es hinauszögerte, sich zurückzuverwandeln, die Anstrengung, die das Überwinden der Treppen sie gekostet hatte: All das schien sie daran erinnern zu wollen, dass ihr eine sehr wichtige Entscheidung bevorstand.
»Die Zeit läuft uns davon.«, hörte sie Cat Noirs Stimme leise in ihrem Hinterkopf und wie bei allem, was mit ihrer gemeinsamen Zukunft zutun hatte, bewegten sich ihre Gefühle auch hierbei in einem sehr weiten Spektrum.
Sie war verärgert, weil Cat es einfach nicht lassen konnte, sie in diese anstrengenden Situationen zu bringen.
Sie war genervt davon, kaum mal einen Moment zum ruhigen Durchatmen zu haben.
Sie hatte Angst, ihre Entscheidung irgendwann zu bereuen – wie auch immer sie ausfiel.
Sie empfand die ersten Anflüge von Erleichterung, wenn sie daran dachte, dass es schon bald mit all den Geheimnissen vorbeisein könnte.
Sie sehnte sich nach dem Leben an Cat Noirs Seite.
Aber am deutlichsten stach die Traurigkeit aus all dem hervor.
Cat Noir war sehr überzeugend gewesen. Und in gewisser Weise glaubte sie ihm auch, dass er die Sache gründlich durchdacht hatte.
Sie glaubte ihm, dass er bereit war, seinen Ring herzugeben.
Jedoch fühlte sie sich nicht bereit dafür.
Die Vorstellung, ihm das Aufgeben seines Miraculous zuzumuten ...
Egal, wie wundervoll-perfekt das Bild ihres gemeinsamen Lebens auch war: Es fühlte sich falsch an, wenn Cat Noir – zumindest Cat Noir, so wie sie ihn kannte – darin nicht mehr existierte.
Der Mensch, den sie liebte, war viel mehr als nur der Superheld.
Aber das bedeutete nicht, dass der Held nicht ein Teil von ihm war.
Ein Teil, denn sie nicht verlieren wollte und von dem sie nicht wollte, dass er ihn aufgeben musste.
Sicher, er konnte auch auf andere Art Menschen helfen und er konnte Freiheit auch an anderen Ort erleben, als über den Dächern der Stadt.
Aber würde er noch derselbe sein – genauso glücklich und hoffnungsvoll und begeisterungsfähig – wenn er nur noch ein ganz normaler, junger Pariser war?
Wieder einmal wurde Marinette schmerzhaft bewusst, dass sie noch zu wenig über ihm wusste.
Was für ein Leben führte er, wenn er nicht gerade verwandelt war oder Zeit mit ihr verbrachte?
Vielleicht würde es ihr leichter fallen, seinem Wunsch zu entsprechen und seinen Ring anzunehmen, wenn sie einen besseren Einblick in sein Leben hätte.
Vielleicht hatte er ja einen Beruf oder ein Berufsziel, das ihn erfüllte.
Vielleicht begeisterte er sich für jede Menge Sachen und die Superheldenaufgabe war nur eine von vielen.
Sie war versucht, ihr Handy hervorzuholen und ihn per Mail zu fragen.
Allerdings war das wohl kein Thema, dass sie per Textnachricht klären sollten.
Sie musste sein Gesicht dabei sehen; musste ihm in die Augen sehen, wenn sie seinen Gefühlen auf den Grund gehen wollte.
Bei ihrem heutigen Treffen war die Entschlossenheit sehr überzeugend gewesen. Beinahe schon zu überzeugend.
Marinette wurde das Gefühl einfach nicht los, dass er nicht hundertprozentig ehrlich mit ihr war.
Sie nahm ihm nicht ab, dass es ihm so wenig ausmachte.
Sie wusste, wie schwer es war, sein Miraculous herzugeben.
Selbst mit der Aussicht, es nach der Schwangerschaft zurückzubekommen, hatte es sich wie den Verlust einer Gliedmaße angefühlt.
Tikki verlieren.
Die Möglichkeit verlieren, sich zu verwandeln.
Bei den Kämpfen nur noch zusehen können.
Wenn Cat Noir seinen Ring für immer aufgab, würde das sogar noch größeren Schmerz für ihn bedeuten.
Er würde seine Bestimmung aufgeben, ohne sie erfüllt zu haben.
Marinette und das Kind waren ein mehr als guter Grund dafür, aber trotzdem würde er aufgeben, ohne Hawk Moth besiegt zu haben.
War er tatsächlich so sehr mit sich und seinen Gefühlen im reinen, dass er das aushalten würde?
Oder würde er sie in nicht all zu ferner Zukunft anflehen, ihm den Ring zurückzugeben?
Dieses Szenario erschien ihr gar nicht mal so unwahrscheinlich.
Es gab noch mehrere Tatsachen, die gegen seinen Entschluss sprachen – zum Beispiel hatte Marinette keine Ahnung, wem sie den Ring an seiner Stelle geben sollte und mit Beta Bug in der Eingewöhnungsphase war der Zeitpunkt für einen Wechsel ziemlich riskant – doch Cat Noirs Zustand war der Hauptgrund, warum sie um Bedenkzeit gebeten hatte.
Sie wollte nicht, dass er diesen Verlust durchmachen musste.
Er sollte alles bekommen, was er sich wünschte und ein Teil von ihr hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es irgendwie möglich sein musste.
»Hi, was gibts?«, fragte Alya am anderen Ende der Leitung.
Die Wahrheit? Marinette brauchte dringend Ablenkung.
Wie so oft konnte sie ihrer besten Freundin die Wahrheit nicht sagen, aber zumindest konnte sie ihr etwas im Gegenzug anbieten.
»Alya, du hattest recht!«, sagte sie in den Lautsprecher ihres Handys und hoffte, dass der entschlossene Tonfall bei ihrer Freundin ankam.
»Schön, dass du es auch erkennst.«, erwiderte Alya, »Aber wovon genau sprichst du?«
»Ich war in den letzten Wochen ziemlich Schul-fixiert und habe es mit dem Lernen etwas übertrieben.«
Alya stieß ein lautes Seufzen aus und meinte dann: »Na endlich!«
Marinette lächelte in sich hinein.
Auf diese Reaktion hatte sie gehofft.
»Tut mir leid, dass ich keine Zeit für dich hatte.«, fuhr sie fort. »Ich will es wieder gut machen.«
»Und wie?«, fragte Alya interessiert.
»Hast du morgen Abend schon was vor?«
»Nichts Festes.«, antwortete sie. »Vermutlich hätte ich mich mit Nino getroffen.«
»Gegenvorschlag: Wir gehen aus. Wir machen, was auch immer du willst und ich bezahle. Wie klingt das?«
»Mhm.«
Alya machte ein Geräusch, als würde sie erst darüber nachdenken müssen, doch Marinette ließ sich nicht täuschen.
Sie kannte ihre Freundin und wusste, dass Alya ihr niemals lang böse sein konnte.
Und so ein verlockendes Angebot würde sie niemals ausschlagen.
»Unter einer Bedingung.«, sagte sie schließlich.
»Und die wäre?«
»Du darfst den ganzen Abend kein einziges Wort über die Schule oder die Prüfungen sagen.«
Grinsend erwiderte Marinette: »Nichts leichter als das.«
Und sie meinte es auch so.
Die Schule war nicht der Hauptgrund, warum sie die Freundschaft mit Alya in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Trotzdem würde es ihr guttun, einen Abend auf völlig andere Gedanken zu kommen.
Es war viel zu lange her, dass sie länger als eine Stunde nicht über die Schwangerschaft, Cat Noir, den Umzug oder die Schule nachgedacht hatte.
Sie freute sich darauf - darauf und auf die Gesellschaft ihrer besten Freundin.
Sie war zu beschäftig und abgelenkt gewesen, um es zu bemerken, aber sie hatte Alyas Ausgelassenheit, ihr aufgeregtes Geplapper und ihr ansteckendes Lachen vermisst.
Ja, sie musste schon bald eine große Entscheidung treffen.
Doch diesen einen unbeschwerten Abend hatte sie sich verdient.
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