23
Das Innere von Adriens Wagen hatte sich verändert.
Der warme Schein, über den Marinette sich beim Einsteigen noch gewundert hatte, war verschwunden.
Vermutlich lag es aber nicht an dem Schweigen, das sich zwischen ihnen breitgemacht hatte, sondern an den beiden Worten, die Adrien eben ausgesprochen hatte.
»Unser Date.«
In der Stille fühlte sich die leise Musik aus den Autolautsprechern absolut unpassend an. Trotzdem wünschte Marinette sich, sie wäre lauter, um das schnelle, heftige Schlagen ihres Herzens zu übertönen.
Sie fürchtete, Adrien könne es hören und sie durchschauen.
Ihre geröteten Wangen, ihre weit aufgerissenen Augen und ihr beschleunigter Atem mussten es ihm längst verraten, doch falls nicht ...
Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass er zu sehr von ihrem Blickkontakt abgelenkt wurde.
Schon bevor er ihren gemeinsamen Abend erwähnt hatte, war Marinette sicher gewesen, dass sie keine Freunde mehr sein konnten.
Jetzt allerdings verstand sie erst, warum genau; warum sie nicht mehr in der Lage war, ihre Gefühle im Zaum zu halten, wie sie es vier ganze Jahre lang geschafft hatte.
Das Date war mehr gewesen als ein vorsichtiges Antesten.
An diesem Abend hatten sie sich gegenseitig eingestanden, dass es zwischen ihnen eine starke Anziehung gab.
Sie hatten sich eingestanden, dass da mehr zwischen ihnen war, als nur Freundschaft, und mit dem ständigen Körperkontakt, dem Flirten und dem Kuss hatten sie es besiegelt.
Nun gab es kein Zurück mehr in die Zeit davor.
Der Ausgang des Dates änderte daran leider nichts.
Noch nicht einmal die Liebe zu anderen Personen konnte diesen Umstand beseitigen.
Marinette war sich nicht sicher, ob Adrien all das bewusst war.
Zumindest aber musste er spüren, was für eine große Sache die Erwähnung des Dates war.
Auch er sagte nichts weiter.
Auch er sah sie einfach nur an und ließ zu, dass sich ihre Blicke immer mehr und immer tiefer ineinander verflochten.
Dieser eine Abend, an dem sie sich mit Haut und Haaren aufeinander eingelassen hatten, stand zwischen ihnen, aber im gleichen Maße schien er sie nun miteinander zu verbinden.
Er war ein unerwünschter Geist aus der Vergangenheit, aber ein Geist, der sie mit materielosen Händen aufeinander zuschob.
Alles, was Marinette schließlich zustande brachte, war ein Flüstern.
»Wir können nicht ...«
Ihre Stimme erstarb, ehe sie den Satz beendet hatte.
Es vergingen mehrere Sekunden, bevor es ihr gelang, einen zweiten Versuch zu starten.
Diesmal hielt ihre Stimme lang genug durch.
»Wir können nicht befreundet bleiben.«
Sie wollte den Blick senken, um die Worte sofort mit einer Handlung zu unterstreichen, doch es gelang ihr nicht.
Und auch Adrien ließ seine Augen nicht von ihr, als er ganz langsam mit dem Kopf schüttelte.
Marinette wusste nicht, was er ihr mit dieser Geste sagen wollte; ob er ihr damit zustimmte oder widersprach. Trotzdem reagierte ihr Körper mit einer weiteren, kleinen Hitzewelle.
»Marinette.«
Die Sanftheit, mit der er ihren Namen aussprach, war überraschend schmerzhaft.
»Ich weiß, dass du recht hast und ich weiß, dass es mir nicht zusteht, aber ...«
Er stockte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sprach dann weiter.
»... aber darf ich dich noch um etwas bitten?«
Sie nickte.
Sie wusste, dass sie ihm in diesem Moment jede Bitte erfüllen würde; egal wie falsch oder verwerflich sie war.
Wollte er vielleicht eine allerletzte Umarmung? Oder sogar mehr als das?
Ihre Gefühle waren mittlerweile so durcheinander, dass sie keine Ahnung mehr hatte, was sie sich wünschen oder was sie befürchten sollte.
Sie sah, wie Adrien schwer schluckte.
»Bitte nenn mir einen Grund.«, sagte er dann.
»Nenn mir einen Grund, der nicht dieses Date ist.
Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, mit einem einzigen Abend unsere Freundschaft zerstört zu haben. Und ...«
Er stockte wieder.
»Und dieser Abend hat das nicht verdient. Er war zu schön, um ihn so sehr zu bereuen.«
Marinette sah in seinen Augen, wie wichtig ihm die Worte waren und wie inständig er seine Bitte erfüllt haben wollte.
Wie erwartet war da nichts, was sie von einer Erwiderung abhielt.
Keine Scham.
Keine Furcht.
Sie sprach ganz offen aus, was sie zu dem Thema dachte, in der Hoffnung, damit seiner Bitte zu entsprechen.
»Es ist in Ordnung, wenn du den Abend in schöner Erinnerung behältst. Du musst ihn nicht bereuen.
Du musst rein gar nichts bereuen, was du getan hast. In unserer Freundschaft hast du nie einen Fehler gemacht.
Wenn jemand die Schuld daran trägt, dann bin ich das.«
Adrien verzog bei diesen Worten widerwillig das Gesicht, doch bevor er ihr widersprechen konnte, redete Marinette schnell weiter.
»Es war schon vorher klar, dass wir auf lange Sicht keine Freunde bleiben können. Meinetwegen.
Ich war so lange Zeit in dich verliebt.
Du wirst für mich immer eine besondere Stellung einnehmen und daran lässt sich nichts ändern.«
Adriens Augen waren groß geworden.
Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie diese Tatsache so direkt ansprechen würde; dass sie ohne zu zögern zugeben würde, was sie beide wussten, aber noch nie zwischen ihnen ausgesprochen worden war.
»Ich war so lange Zeit in dich verliebt.«
Marinette fühlte sich direkt erleichtert, diesen Satz endlich loszusein.
Es tat gut, zuzugeben, dass diese lange Zeit des Verliebtseins ihre Spuren auf ihr hinterlassen hatte.
Bleibende Spuren.
Sie waren sich einig, dass ihre Freundschaft keine Zukunft hatte.
Darum spielte es keine Rolle mehr, dass Marinette sich durch ihre Offenheit verletzlich machte und sich Adrien dadurch emotional auslieferte.
Wenn es ihm das Loslassen erleichterte, war es das Unbehagen wert, das sie nun empfand.
»Warum hast du es mir nie gesagt?«
Adriens Frage kam wie aus dem Nichts.
Marinette blinzelte verwirrt.
War sie mit ihrer Offenheit missverständlich gewesen?
Sie hatte ganz sicher kein Gespräch über ihre Gefühle anstoßen wollen.
»Was spielt das noch für eine Rolle?«, fragte sie, sobald sie ihre Gedanken etwas geordnet hatte.
»Verdammt, Marinette!«
Adrien stieß geräuschvoll die Luft aus und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
Nun war sie noch verwirrter.
»Ich habe dich doch nur darum gebeten, es mir leichter zu machen.«, redete er weiter, »Warum musstest du jetzt damit anfangen?«
»T-tut mir leid.«, stotterte sie, »Ich wollte doch nur, dass du dir keine Vorwürfe machst.«
Ein gequälter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
»Und zu hören, dass du all die Zeit in mich verliebt gewesen bist ... Wie genau soll mir das dabei helfen, mir weniger Vorwürfe zu machen?«
Seine plötzliche Erregtheit verwirrte Marinette nicht mehr nur, sie verunsicherte sie auch.
Mit gesenktem Kopf und leiser Stimme sagte sie: »Ich habe es doch nur ausgesprochen, damit du weißt, dass es auch vor dem Date schon kompliziert zwischen uns war - also ... von meiner Seite. Unsere Freundschaft hatte also nie eine realistische Chance.«
»Bei dir klingt es so, als wärst du von uns beiden der einzig entscheidende Part.«
Adriens Stimme klang gepresst.
Marinette konnte nicht anders, als den Kopf wieder zu heben und ihn anzusehen.
»Was ist mit mir?«, redete er weiter. »Mit meinen Gefühlen?
Warum gehst du einfach davon aus, dass sie keine Rolle spielen und auch nie eine gespielt haben?«
Marinettes Verwirrung hatte ihren Höhepunkt erreicht.
»Tue ... ich das?«, fragte sie, weil ihr nichts besser einfiel.
Adrien stieß ein leises Seufzen aus, wandte den Blick ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Auf einmal sah er unheimlich müde aus.
Und auch seiner Stimme war die Erschöpfung anzuhören.
»Du hast dich mir doch nicht aufgedrängt, Marinett!
Ich habe dich nach dem Date gefragt.
Ich habe den entscheidenden Schritt auf dich zu gemacht.
Und es waren meine Gefühle für dich, die alles erst so kompliziert gemacht haben.«
Marinette wurde auf einen Schlag schwindelig.
»Meine Gefühle für dich.«
Die Worte halten in ihrem Kopf nach, rutschten dann hinab in ihre Magengegend und verursachten dort ein starkes Kribbeln.
Sie hatte mittlerweile nicht mehr den blassesten Schimmer, was das hier gerade zwischen ihnen war.
Warum sie dieses Gespräch führten.
Was es bedeutete.
Und: Wo es enden würde.
Als sie wieder den Mund aufmachte, klang ihre Stimme zittrig.
»Ich weiß nicht, was du von mir hören willst, Adrien!«
Es war die Wahrheit.
Und doch schien es ihn zu verärgern.
»Ich will, dass du dich nicht länger selbst als den Täter darstellst!«, erwiderte er erregt, »Wenn du aussprichst, dass wir keine Freunde mehr sein können, sollst du dabei nicht schuldbewusst oder traurig klingen, sondern nur entschlossen.
Ich will sehen, dass es dir damit gut geht!«
Er verstummte, allerdings nur für drei Sekunden.
Dann fügte er mit etwas leiserer Stimme hinzu: »Das hättest du sagen sollen, damit ich nichts bedauere.
Dass es dir damit gut geht und es das Richtige ist.«
»Es ist das Richtige.«
Als Marinette das sagte, hob Adrien den Kopf und sah ihr direkt in die Augen.
»Das siehst du doch genauso, oder?«
Er nickte.
Kurz herrschte ein unerwartetes, ruhiges Schweigen zwischen ihnen.
Dann ergänzte Adrien noch: »Du verstehst hoffentlich, dass mir hierbei die richtige Art und Weise wichtig war; dass es ohne Missverständnisse und ohne Fehleinschätzungen endet.«
Während er das sagte, hatte er ein zartes Lächeln auf den Lippen und nach kurzem Zögern erwiderte Marinette es.
Sie hatte nicht mehr daran geglaubt, dass das Gespräch so gut und vernünftig enden würde. Und sie war erleichtert, dass Adriens Aufregung sich relativ schnell wieder gelegt hatte.
Sie hatte ihn noch nie so gefühlsgebeutelt erlebt und war dementsprechend überfordert davon gewesen.
Jetzt waren sein Blick und seine Stimme wieder so sanft, wie sie es von ihm kannte.
»Es ist jetzt alles geklärt, oder?«, fragte er und legte den Kopf leicht schief. »Du weißt jetzt, dass du mit uns beiden richtig lagst.«
Sie runzelte die Stirn, weil sie nicht sicher war, worauf er hinauswollte.
»Damit, dass wir zusammenpassen würden, meine ich.
Du hast es schon viel eher erkannt als ich.
Ich habe mitbekommen, dass du eine unglaubliche Freundin bist, aber ich war wohl nicht schlau genug, rechtzeitig genauer hinzusehen.«
Er grinste schief.
Und jetzt verstand sie, was er vorhatte.
Er wollte das Gespräch auf einer lockeren Note enden lassen.
Sie war sich allerdings nicht sicher, ob ihm das mit diesem Thema gelingen würde.
Genau in dem Moment, als sie das dachte, nahm sie ein zartes Aufflackern in seinem Blick wahr.
Intuitiv wusste sie, dass er mit dem nächsten Satz zu weit gehen würde.
»Ich bin mir sicher: Wenn die Dinge anders gelaufen wären, hätten wir miteinander glücklich werden können.«
Marinette kämpfte dagegen an, doch sie spürte, wie ihr Lächeln einen gequälten Unterton bekam und sich in ihrem Innern leichter Ärger andeutete; Ärger über seine unüberlegte Bemerkung.
Erst durch ihre Reaktion schien Adrien bewusst zu werden, was er gerade gesagt hatte.
Mit einem zerknirschten Ausdruck auf dem Gesicht wandte er den Kopf zur Seite.
Augenblicklich verschwand der Anflug von Ärger und sie wünschte sich nur noch, ihn wieder lächeln zu sehen.
»Du hast recht.«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Aber das bedeutet nicht, dass wir ohne einander nicht noch glücklicher sein können.«
Adrien hob den Kopf wieder und sah sie mit großen Augen an.
Sie schenkte ihm ein warmherziges Lächeln.
»Du wolltest doch hören, dass es mir nach dem hier gut gehen wird.«, fuhr sie fort. »Das wird es.
Ich bin nicht glücklich darüber, dich als Freund zu verlieren, aber ich bin glücklich darüber, wie mein Leben verläuft.«
Auf einmal lagen ihr Sätze auf der Zunge, die sie gern ausgesprochen hätte.
»Ich liebe jemanden aus ganzem Herzen.
»Dieser Jemand liebt mich auch.«
»Wir werden schon bald zusammen leben.«
Und: »Ich bin schwanger von ihm.«
Marinette war sich nicht ganz sicher, warum sie diese Sätze nicht aussprach - etwas in ihr wollte ihr Glück mit Adrien teilen, so seltsam das in dieser Situation auch war.
Vielleicht hielt sie sich zurück, aus Angst, ihn damit zu verletzten.
Oder weil sie Rückfragen fürchtete, auf die sie noch keine Antworten geben konnte.
Vielleicht aber auch, weil das Aussprechen gar nicht nötig war.
Sie hatte bereits gesagt, dass sie mit ihrem Leben glücklich war und Adrien musste ihr ansehen, dass es stimmte.
Er erwiderte ihr Lächeln.
Und nach einigen Sekunden, in denen sie sich in die Augen gesehen hatten, meinte er: »Geht mir genauso.«
Marinette holte tief Luft.
»Dann gibt es ja gar keinen Grund, etwas zu bedauern oder traurig zu sein.«, sagte sie zum Abschluss.
Die Unbeschwertheit in ihren Worten und ihrer Stimme war nicht komplett aufrichtig und sie glaubte, in Adriens Augen zu erkennen, dass es ihm nicht entgangen war.
Trotzdem nickte er.
»Machs gut, Marinette.«
»Du auch.«
Sie wandte sich von ihm ab, öffnete die Beifahrertür und stieg nach draußen.
Von Marinette unbemerkt hatte der Regen geendet und die ersten Sonnenstrahlen schafften es schon wieder durch die Wolkendecke bis hinab zum Boden.
Die plötzliche Helligkeit um sie herum ließ Marinette die Augen zusammenkneifen.
Erst einen Moment später fiel ihr Adriens Jacke auf, die sie noch in der Hand hielt.
Sie drehte sich noch einmal um und beugte sich zur offenen Autotür hinab, um sie auf dem Sitz abzulegen.
Hierbei konnte sie nicht widerstehen, ein letztes Mal zum Fahrersitz hinüber zu sehen.
Sie begegnete Adriens Blick.
Im direkten Vergleich zur sonnenbeschienen Straße wirkte das Wageninnere viel düsterer als zuvor, weshalb sie sein Gesicht kaum erkennen konnte.
Aber seine Augen waren zu sehen.
Leuchtendes Grün umrahmt von schwarzer Dunkelheit.
Marinette hatte das seltsame Gefühle, als wäre dieser flüchtige Gedanke von Bedeutung. Als sollte sie ihn festhalten und genauer ergründen.
Doch ehe sie den Entschluss dazu fassen konnte, wurde sie von etwas abgelenkt und der Eindruck verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.
Im Wageninneren hatte das Lied aus den Lautsprechern gewechselt und nun erfüllten vertraute Klänge die Luft.
Marinettes Herz schlug sofort höher.
Im Laufe der letzten Wochen hatten sie und Cat Noir sich immer wieder per Mail kleine »Aufgaben« gestellt, um sich gegenseitig zum Ausruhen oder zum Genießen oder zum Innehalten zu animieren.
Musik hatte dabei eine wichtige Rolle gespielt und besonders das allererste Lied, das ihr von ihm empfohlen worden hatte, hatte sie mittlerweile unzählige Male gehört.
Schon in der allerersten Sekunde hatte sie es wiedererkannt.
Während sie sich langsam aufrichtete und die Tür schloss, lächelte Marinette in sich hinein.
Auf eine behutsamere und sanftere Art, als mit dem Gedanken an Cat Noir, hätte die Situation gar nicht enden können.
Dieses Mal legte sie ganz bewusst ihre Hände auf ihren Bauch.
Die Liebe zu Cat Noir und dem Kind ließ ihre Gefühle für Adrien in den Hintergrund rücken, ließ ihn in den Hintergrund rücken.
Und das war nicht nur in Ordnung, sondern gut.
Was Marinette vor wenigen Minuten noch für unmöglich gehalten hatte, war ihr tatsächlich gelungen.
Sie hatte ausgesprochen, was notwendig gewesen war. Und statt dafür mit Schuldgefühlen oder Traurigkeit über den Verlust bestraft zu werden, wie sie es erwartet hatte, wurde sie mit einem Gefühl der Ausgeglichenheit belohnt.
Mit einer angenehmen Gewissheit, das Richtige getan zu haben.
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