22

Die Autofahrt dauerte nicht lang, doch Marinette nutzte die Zeit, um das Durcheinander in ihrem Kopf zu beseitigen.
Einfach nur durch seine Präsenz hatte Adrien sie komplett aus der Bahn werfen können und an diesem Fakt konnte sie zu ihrem Bedauern nichts ändern.
Aber sie hatte eine Erklärung gefunden; eine ganze Liste an plausiblen Gründen für ihre heftige Reaktion: Erschöpfung, Schwangerschaftshormone, jede Menge Druck, der auf ihr lastete.
Kein Wunder, dass sie im Moment nicht sie selbst war.
Und zusätzlich zu ihrer allgemeinen Verfassung hatte Adrien sie auch noch in der denkbar ungünstigsten Situation erwischt.
Sie hatte Cat Noir seit zwei Wochen nicht gesehen und ihr Körper war auf Zärtlichkeitsentzug. Außerdem war die Gesundheit ihres Kindes in Gefahr gewesen und ihre Dankbarkeit als Mutter hatte sie vergessen lassen, wie kompliziert ihre Vorgeschichte mit Adrien war.
Er war nur noch die Person gewesen, die sie und ihr Kind vor der Kälte gerettet hatte.

Als das Auto vor der Bäckerei ihrer Eltern hielt, war Marinette recht zufrieden mit ihrer eigenen Verfassung.
Und sie atmete erleichtert aus.
Adriens Schweigen während der kompletten Fahrt hatte verhindert, dass etwas ihrer Vernunft in die Quere gekommen war, und nun war die Verabschiedung das einzige Hindernis, das es noch zu überwinden galt.
Marinette wandte den Kopf und sah zum Fahrersitz hinüber.

Adrien hatte gerade den Motor ausgeschaltet.
Mit einem leicht abwesenden Ausdruck sah er auf seine Hände hinab, die noch immer auf dem Lenkrad lagen.
Marinette wollte ihn ansprechen, doch etwas hielt sie zurück.
Und so war die leise Musik - mit Ausnahme vom Regenprasseln auf dem Autodach - das einzige Geräusch.

Zu gern hätte Marinette gewusst, was gerade in Adriens Kopf vorging.
Was hatte ihn dazu veranlasst, während der gesamten Fahrt zu schweigen?
Wie ging es ihm mit ihrer Anwesenheit in seinem Auto?
Und was dachte er ganz allgemein über sie?

Ohne seinen Oberkörper zu bewegen oder den Kopf zu heben, wandte Adrien ihr nun den Blick zu. Seine Bewegung war dabei langsam und zögerlich - als würde ihn etwas davon abhalten, sich ihr vollständig zuzuwenden.
Halb schräg sah er zu ihr auf.
Und dieser zurückhaltende – fast schon verstohlene – Blick ließ ihr Herz plötzlich höherschlagen.
Sie verstand nicht, warum, aber er wirkte viel vertrauter und inniger als der direkte Blick zuvor.

Wieder war Marinette überrascht und überwältigt davon, was für eine warme Farbe das Grün seiner Augen war.
Etwas in ihrem Innern wurde davon berührt. Unsanft.
Es fühlte sich an wie ein großes, schweres Pendel, das von Adriens Blick in Schwingung versetzt wurde und jede Menge unerwünschte Erinnerungen anstieß.
Der Abend ihres Dates.
Die Riesenradfahrt.
In der offenen Gondel hoch über dem Boden waren sie dem Wind ausgesetzt gewesen.
Marinettes Körper erinnerte sich an die Kälte und zog ganz von selbst die Verbindung zu der Kälte, die sie jetzt gerade empfand.
Und an noch etwas erinnerte sich ihr Körper: An die Wärme, die Adrien ausgestrahlt hatte.

Nun zuckte Marinettes Blick von seinen Augen hinab zu seinem Mund.
Auch seine Lippen waren unheimlich warm gewesen.
Und weich.
Sie schluckte schwer.
Noch nie zuvor hatte sie auf diese Weise über den Kuss gedacht. Er war immer nur die Bestätigung gewesen, dass sie Cat Noir liebte und ihn unmöglich vergessen konnte.
Sie hatte nie ausformuliert, wie die flüchte Berührung sich angefühlt hatte.
Bis jetzt.
Ihr Gedächtnis wusste es noch.
Ihre Lippen wussten es noch.
Und genau jetzt sehnten sie sich nach der Wärme.

Marinette fühlte sich absolut elend.
Warum musste Adrien mit seinem gesamten Wesen Wärme und Geborgenheit ausstrahlen – ausgerechnet jetzt, wo sie fror und auch sonst in einer schlechten Verfassung war?
Sie wusste, dass ihre momentanen Gefühle auf keinen Fall zu Handlungen führen würden; sie fürchtete keinen Kontrollverlust.
Aber sie fürchtete sich vor den Folgen.
Vor dem schlechten Gewissen, das einsetzten würde, sobald sie aus dem Auto gestiegen war.
Vor den zwangsläufigen Überlegungen, ob sie Cat Noir davon erzählen sollte.
Und – was sie jetzt gerade am allermeisten fertigmachte – vor der unumgängliche und kompletten Beseitigung von Adrien aus ihrem Leben.

Direkt nach ihrem Date hatte es ausgesehen, als würde es keine großen Konsequenzen haben. Als würden sie eine Weile auf Abstand gehen und irgendwann einfach wieder Freunde sein.
Aber mittlerweile war klar, dass es nicht möglich war; nicht, wenn Marinette derartig auf ihn reagierte.

Schon zu oft hatte sie gedacht, ihn komplett und ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben und zu oft war sie eines Besseren belehrt worden.
Sie hatte aus seinem Mund gehört, dass er sie niemals lieben würde – und trotzdem hatte ein kurzes Gespräch mit ihm ausgereicht, um ihre Gefühle wieder zu verunsichern.
Sie war mit Cat Noir zusammengekommen – und trotzdem hatte es ihr zugesetzt, Adrien verliebt zu sehen und ihn von seiner Freundin reden zu hören.
Bei der Trennung von Cat Noir war sie sich sicher gewesen, dass die Gefühle für Adrien nie wieder auftauchen würden – und trotzdem hatte er ihr bereits wenige Tage später wieder Herzklopfen bereitet.

Nun saß sie hier, neben ihm in seinem Auto, und schon wieder war sie mit diesen verwirrenden Gefühlen konfrontiert.
Wie ein Bumerang schienen sie immer wieder zu ihr zurückzukehren, so gern sie sie auch loswerden wollte.
Dieser Moment gerade war der Beweis, dass es unmöglich war.
Es war unmöglich für Marinette, jemals vollständig von Adrien loszukommen.

Sie liebte Cat Noir, aus ganzem Herzen, und daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel.
Sie wollte ihn und das Leben mit ihm.
Das Date hatte es eindeutig und ein für alle Mal klar gemacht und seitdem war sie sich damit jeden Tag noch sicherer geworden.
Doch nicht einmal das reichte aus, um ihr Herz von Adrien zu befreien.

Demnach hatte sie nur eine einzige Möglichkeit: Sie musste ihn aus ihrem Leben entfernen.
Komplett und für immer.
Sie konnte keine Freunde sein. Noch nicht einmal Bekannte.

Marinette erlaubte sich selbst, bei diesem Gedanken traurig zu werden.
Sich nach Adrien und seiner Wärme zu sehnen war falsch, aber es war in Ordnung, das Ende ihrer Freundschaft zu bedauern.
In den nächsten Stunden und Tagen würde sie genügend Abstand zu dieser Situation im Auto haben und sie würde erkennen, dass sie Adrien nicht vermissen durfte.
Aber jetzt gerade war es in Ordnung.
Diesen einen Moment der Trauer durfte sie sich erlauben.

In den vergangen Wochen hatten sie keinerlei Kontakt zueinander gehabt, aber in Marinettes Empfinden hatten sie sich dabei nicht voneinander entfernt. Wenn sie Adrien ansah, waren da nicht nur die komplizierten, unerwünschten Gefühle für ihn. Da war auch eine freundschaftliche Verbindung, die sie mit niemandem sonst hatte.
Die viele Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, die geteilten Momente und gemeinsamen Gespräche – all das bedeutete Marinette mehr, als ihr bisher bewusst gewesen war.

Sie hätte es niemals zugegeben, aber Adrien kannte sie genauso gut wie Cat Noir.
Er kannte all die Teile von ihr und ihrem Leben, die sie Cat Noir nicht zeigen konnte. Und die Vorstellung schmerzte, dass dieses Wissen schon bald verloren gehen würde.
Beinahe fühlte es ich an, als würde sie mit Adrien auch diesen anderen Teil von sich selbst verlieren; den grüblerischen und manchmal schwermütige Teil von sich, aber auch die lockere und unbeschwerte Seite ihres Wesens.
Die Marinette, die nicht perfekt sein musste und die sich einfach fallen lassen konnte, ohne sofort Angst vor den Konsequenzen haben zu müssen.
Die Marinette, die sie weder bei Alya noch bei Cat Noir noch bei ihren Eltern sein konnte.

Ob Adrien wusste, dass er bei vielen Dingen der Einzige war, dem sie davon erzählt hatte?
Wusste er, wie sicher und angenommen sie sich bei ihm immer gefühlt hatte?
Sie hatte es ihm nie direkt gesagt; würde es ihm auch niemals sagen.
Aber vielleicht hatte er es ja gespürt.
Sie wusste nicht, ob sie es sich wünschen oder sich davor fürchten sollte.

Marinettes Blick war mittlerweile von seinem Mund wieder zu seinen Augen gesprungen und der Sog, den sie bei diesem Blickwechsel empfand, machte sie noch trauriger und gedrückter.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie es ihm erklären sollte.
Was konnte sie sagen, damit er sich genauso von ihr fernhielt, wie sie sich von ihm?
Ihr einziger Trost war, dass es nur noch galt, das restliche Schuljahr zu überstehen. Danach würde es leicht werden.

Nach dem Abschluss würde Adrien in eine andere Stadt ziehen. Sogar auf einen anderen Kontinent, auf die andere Seite der Erde.
Erst würde es vielleicht nur eine räumliche Trennung sein. Aber irgendwann – so hoffte Marinette - würde er den Platz freigeben, den er nach wie vor in ihrem Herzen hatte, und vielleicht würde sie sogar vergessen, wie bedeutsam ihre Freundschaft gewesen war.
Gerade jetzt wünschte sie sich, es wäre schon so weit.
Zumindest redete sie sich das ein.

»Marinette?«
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf und brauchte einen Moment, um sich wieder in der Situation zurechtzufinden.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lang sie Adrien angestarrt hatte oder wie oft er ihren Namen schon gesagt hatte, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Äh, was?«, erwiderte sie.
»Ich hab gefragt, ob bei dir alles in Ordnung ist.«

Erst jetzt fiel ihr auf, wie sorgenvoll sein Blick schon wieder geworden war.
Und noch etwas bekam sie mit: Sein Zögern, bevor er mit leiser Stimme hinzufügte: »Du siehst ... traurig aus.«
Ein dicker Kloß schob sich von unten ihren Hals hinauf.
Bevor er sie vollständig vom Antworten abhalten konnte, sprach sie den erstbesten Gedanken aus, der ihr einfiel.
»Ich hab nur gerade daran gedacht, dass wir schon bald unseren Abschluss machen und du dann Paris verlässt.«

Noch ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, bereute sie ihn bereits.
Nicht nur inhaltlich war diese Bemerkung das genaue Gegenteil von dem, was sie dachte. Es lenkte auch das Gespräch in eine völlig falsche Richtung.
»Es macht dich traurig, dass ich weggehe?«
Adriens Frage machte deutlich, wie falsch die Richtung gewesen war.
Hastig versuchte Marinette, Schadensbegrenzung zu betreiben.
»Naja, du bist nicht der Einzige, der geht. Die allermeisten von uns werden sich wohl auseinanderleben, sobald die Schule vorbei ist. Und auch sonst wird sich sehr viel ändern.«

Adrien schwieg einen Moment und sah sie weiter unverwandt an.
Sein Blick war unergründlich und das machte sie unruhig.
Nahm er ihr diese Erklärung ab?
»Ja, es wird sich viel ändern.«, sagte er schließlich. »Aber vielleicht ist es ja ein kleiner Trost für dich, dass ich in Paris bleiben werde, genau wie du.«
Überrascht zog sie die Augenbrauen nach oben.
»Wirklich?«
Er nickte.
Sie wartete ab, ob er noch etwas dazu sagen oder erklären würde, doch er schwieg.
Sie spielte mit dem Gedanken, nachzufragen.

Marinettes letztes Update zu Adriens Zukunftsplänen lag zwei Monate zurück. Während ihres Dates hatte er ihr von seinen Gedanken dazu erzählt - und von den Streits, die er deswegen schon mit seinem Vater gehabt hatte.
Ursprünglich war sein Plan gewesen, für sein Studium in Paris zu bleiben. Sein Vater allerdings wollte, dass er in die USA ging, dort studierte und in die amerikanischen Ableger des Agreste-Unternehmen einstieg.
Bei seinem Date mit Marinette hatten schon jede Menge Diskussionen mit seinem Vater hinter Adrien gelegen, die nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren.
Sie hatte gespürt, dass ihm die Beziehung zu seinem Vater wichtig war und er sich nicht gern gegen ihn stellte. Und er hatte zugegeben, neuerdings gar nicht mehr so sicher zu sein, ob er tatsächlich in Paris bleiben wollte.
»Im Moment gibt es keinen Grund, hierzubleiben.«, hatte er gesagt. »Falls sich daran nichts ändert, werde ich in die USA gehen.«

Marinette erinnerte sich noch gut an diesen Punkt in ihrem Gespräch.
Sie hatte sich gefragt, ob er dabei von ihr gesprochen hatte. Ob er die Möglichkeit gesehen hatte, dass Marinette der Grund für ihn wurde, in Paris zu bleiben.
Da ihr Date nicht auf diese Art geendet hatte, war sie davon ausgegangen, ihn würde nun nichts mehr hier halten.
Anscheinend war das falsch.
Anscheinend gab es mittlerweile etwas – oder jemanden - was ihn zum Hierbleiben veranlasste.

Obwohl sie neugierig war, fragte Marinette nicht nach.
Adrien wirkte nicht, als wolle er noch weiter darüber reden und sie respektierte das.
Außerdem war ihr Plan ja noch immer, ihn hinter sich zu lassen. Und ein vertrautes Gespräch über seine Gedanken und Zukunftsvorstellungen wäre schon wieder in die falsche Richtung gegangen.

Leider wusste Adrien noch nichts von all dem.
Solang es dabei nicht um seine eigenen Pläne ging, hatte er anscheinend Interesse an einem Gespräch.
»Und was ist mit dir?«, fragte er, »Hast du immer noch vor, ein soziales Jahr im Altenheim zu machen?«
Mit schräg gelegtem Kopf und einem interessierten Ausdruck in den Augen sah er sie an.

Marinette hatte Mühe, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.
Adrien war heute absolut treffsicher, wenn es darum ging, ihre Gedanken zu erspüren. Vor allem die Gedanken, die sie zurückhielt und die sich um Themen drehten, die sie eigentlich für sich behalten wollte.
Er hatte es schon immer verstanden, den Finger auf die sensiblen Stellen ihrer Seele zu legen und sie mit seinen Fragen und Blicken herauszufordern.
Eine Eigenschaft, die im gleichen Maße unangenehm wie schön war.

»Mal sehen, was bis zum Sommer noch so passiert.«, antwortete Marinette ausweichend und flehte ihn im stummen an, sich dieses eine Mal zurückzuhalten.
Wenn da ausschließlich Abneigung in ihrem Innern gewesen wäre, hätte Adrien es vermutlich gespürt und es dabei belassen.
Leider verspürte sie in genau diesem Moment den leisen Wunsch, mit ihm über all das zu reden.
Und Adrien?
Er fing diese leisen Schwingungen auf und fragte gnadenlos nach.
»Was könnte denn bis dahin passieren, dass du deine Pläne änderst?«

Marinette wusste nur noch einen Ausweg.
Sie rieb sich mit den Händen über die Oberarme und hörte auf, sich gegen das Zittern ihres Körpers zu wehren.
Wie erhofft sprang Adrien sofort darauf an.
»Entschuldige. Ich hab ganz vergessen, dass du noch immer frierst. Geh lieber schnell rein!«
Sie nickte hastig und legte ihre Hand auf den Türöffner.

»Ich habe leider keinen Regenschirm dabei, aber du kannst meine Jacke mitnehmen, um sie dir bis zur Haustür über den Kopf zu halten.«, fügte er noch hinzu.
Marinette verharrte in ihrer aktuellen Position.
Unwillkürlich hatte sie an Adriens schwarzen Regenschirm denken müssen, der in der Truhe in ihrem Zimmer lag.
Der Regenschirm, den er ihr an seinem zweiten Tag an der Schule gegeben hatte und unter dem sie gestanden hatte, als zum allerersten Mal die Gefühle für ihn aufgetaucht waren.

Marinette merkte erst, dass sie lächelte, als Adrien das Lächeln erwiderte und meinte: »Ich würde zu gern wissen, was du gerade denkst.«
Nur noch die kleine Bewegung ihrer Hand trennte Marinette davon, die Situation mit dem Öffnen der Tür zu beenden.
Doch ihre Hand rührte sich nicht.
Wieder war es die Wärme in Adriens Blick und in seinem Lächeln, was sie innehalten ließ.
Sie wusste, dass es falsch war; trotzdem antwortete sie ihm ganz ehrlich.
»Ich habe daran gedacht, dass ich dir deinen Regenschirm nie zurückgegeben habe.«

Sie rechnete damit, dass er nicht verstehen würde, doch laut seinem Blick wusste er sofort, wovon sie sprach.
Das Lächeln auf seinen Lippen wurde noch breiter.
»Bis jetzt habe ich ihn nicht vermisst.
Wenn ich allerdings gewusst hätte, dass du an Tagen wie heute trotzdem völlig ungeschützt im Regen stehst, hätte ich ihn womöglich zurückgefordert.
Dann hätte ich ihn wenigstens parat, wenn ich mal wieder als dein Held gefordert bin.«
Ein kleines Grinsen hatte sich in seinen Mundwinkel geschlichen und Marinette spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
Um sich darüber hinwegzuretten erwiderte sie schnell: »Jetzt ist es dafür aber zu spät. Nach so langer Zeit ist der Schirm ganz offiziell in meinen Besitz übergegangen.«

Trotz ihres lockeren Tonfalls wurde Adriens Blick plötzlich eindringlich und er sagte mit gesenkter Stimme: »Den Tausch war es auf jeden Fall wert.«
»Tausch?«, fragte Marinette.
Ihr Herz schlug schon wieder schneller.
»Ich habe einen Regenschirm hergegeben und dafür eine enge Freundin bekommen.«, antwortete er.

Sofort machte sich der dicke Kloß wieder in Marinettes Hals breit.
Es wäre der richtige Moment gewesen, um ihre nicht existierende, gemeinsame Zukunft anzusprechen, doch auch ohne den Kloß im Hals hätte sie es nicht fertiggebracht, es auszusprechen.
Vermutlich würde sie es niemals schaffen, Adrien direkt zurückzuweisen.
Sie würde es wohl einfach aussitzen müssen.

Auch wenn er in Paris blieb, bedeutete das zum Glück nicht, dass sie nach dem Schulabschluss in Kontakt bleiben würden.
Paris war eine riesige Stadt und solang Marinette standhaft blieb und sich von ihm distanzierte, würde das Problem sich irgendwann von selbst erledigen.
Das hoffte sie zumindest.

Marinette war mit ihren Gedanken – und ihren Gefühlen – längst weitergewandert, doch Adrien schien noch immer bei dem Regenschirm zu sein.
»Ich hätte dir an diesem Tag so ziemlich alles gegeben, damit du deine Meinung über mich revidierst.«, redete er weiter. »Meinen Schulranzen, meine Jacke – sogar meine Schuhe.
Ich wäre lieber Barfuß nach Hause gelaufen, als noch länger dein falsches Bild über mich zu ertragen.«
Beinahe ärgerte Marinette sich darüber, wie leicht er sie mit diesen Worten ablenken konnte.
Doch sie ließ zu, dass ihre Gesichtszüge sich entspannten, und erwiderte in ihren Gedanken: »Dafür wäre nicht einmal der Regenschirm notwendig gewesen. Deine Worte und dein Lächeln hätten vollkommen ausgereicht.«

»Ich bin unheimlich froh, dass wir eine zweite Chance bekommen haben.«, redete Adrien weiter.
Wie schon kurz zuvor spielte er auch hierbei auf das Missverständnis an, das ihr erstes engeres Aufeinandertreffen ausgemacht hatte.
Chloe hatte damals einen Kaugummi auf Marinettes Sitzplatz geklebt und beim Versuch, ihn zu beseitigen, war Adrien von Marinette überrascht worden.
Sie hatte die Situation missverstanden und ihn für den Täter hinter dem Streich gehalten, weshalb er sofort bei ihr unten durch gewesen war - allerdings nur bis zu dem Moment, als er die Sache aufgeklärt und ihr den Regenschirm überlassen hatte.

»Ich muss zugeben, dass dein Selbstbewusstsein mich damals neugierig auf dich gemacht hat.« Adrien lächelte noch immer.
»Aber ich muss auch zugeben, dass ich sehr froh war, als du dein Verhalten mir gegenüber geändert hast.
Die nette Marinette gefiel mir schon vom ersten Moment an viel besser.«
Marinette erwiderte das Lächeln und sagte: »Ich mochte dich auch lieber, als ich dich nicht mehr für einen streichespielenden Idioten gehalten habe.«
Längst hatte sie vergessen, dass sie eben noch bedrückt gewesen war.

Adrien fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah für einen Moment hinauf an die Decke.
»Ich wollte damals so unbedingt von jedem gemocht werden.«, meinte er und als er sie wieder ansah, war sein Blick leicht verlegen geworden.
»Zu meinem Glück.«, sagte Marinette. »Ansonsten hättest du dich vielleicht von meiner ungerechtfertigten Ablehnung abschrecken lassen.«
»Meinst du?«
Er legte den Kopf schräg und seine Augen verengten sich ganz leicht, als er darüber nachdachte.
»Ich denke, ich hätte schon sehr bald bemerkt, dass du die Mühe wert bist und dass ich keine bessere Freundin als dich finden könnte.«

»Sag so etwas nicht!«, schoss es Marinette sofort durch den Kopf.
Sie wollte nicht hören, wie viel ihre Freundschaft ihm bedeutete; wie viel sie ihm bedeutete.
Mit der Absicht, das Gespräch so schnell wie möglich wieder in eine andere Richtung zu lenken, murmelte sie mit gesenktem Kopf: »Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, das mit den Komplimenten sein zu lassen?«
»Tut mir leid.«, erwiderte er. »Ich weiß noch nicht, wie die neuen Verhaltensregeln nach unserem Date aussehen.«

Marinettes Atem stockte.
In den vergangenen Minuten hatte Adrien schon vieles gesagt, was ihr unangenehm gewesen war.
Er hatte ihre Traurigkeit angesprochen, sie nach ihren Zukunftsplänen gefragt und Bemerkungen über sie gemacht, die etwas zu persönlich und innig für ihren Geschmack gewesen waren.
Und jetzt hatte er auch noch das letzte Thema angesprochen, das sie am liebsten umgangen hätte: Ihr Date.

Obwohl ihr die Regenkälte noch immer tief in den Knochen steckte, wurde Marinette heiß.
Als sie den Kopf hob und Adrien ansah, mussten ihre Wangen bereits tiefrot glühen, doch verloren war sie spätestens, als sie dem bohrenden Blick aus seinen grünen Augen begegnete.

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