21
Obwohl nur der Bürgersteig ihren Unterstand von der Straße trennte, wurde Marinette auf dem kurzen Weg zu Adriens Auto komplett durchnässt.
Nicht nur von oben drang die Feuchtigkeit auf sie ein, sondern auch von unten und den Seiten.
Es waren nur drei Sekunden unter freiem Himmel, doch in dieser Zeit schien der Wind mehrmals die Richtung zu wechseln, um ihren kompletten Körper mit den dicken Tropfen zu treffen. Und als ob das nicht ausgereicht hätte, war da auch noch das aufspritzende Wasser von den Pfützen unter ihren Füßen.
Halb blind vom Regen, der ihr in die Augen lief, und praktisch taub von seinem Rauschen, stolperte sie auf die offene Beifahrertür zu.
Irgendwie gelang es ihr, sich beim Einsteigen weder den Kopf noch die Schienbeine an der Karosserie zu stoßen.
Die Wärme des Wageninnern umfing Marinette und mit einem leisen Seufzen ließ sie sich in den Sitz fallen.
Schnell zog sie die Tür hinter sich zu. Das laute Krachen war das befriedigendste Geräusch, dass sie seit Langem gehört hatte.
Sie schloss die Augen und gönnte sich einen Moment, um die Wärme und Stille zu genießen, die sie nun umgaben.
Genau genommen war das ohrenbetäubende Prasseln des Regens nicht verstummte, aber es klang nun viel weniger aggressiv und dröhnend.
Es fühlte sich weit, weit weg an.
Es gehörte zu der kalten, nassen Welt »dort draußen«, die so gar nichts mit dem warmen, trockenen Innern des Autos zutun hatte.
Marinette war sich nicht sicher, welche Veränderung gravierender war: die ihrer Umgebung oder die ihrer Gefühle.
Schon beim Anblick von Adriens Auto war ihre gedrückte Laune von einer Welle aus Erleichterung und Dankbarkeit weggespült worden.
Jetzt, wo sie darin saß, hatten ihre Gefühle noch einen draufgesetzt.
Sie fühlte sich wie berauscht.
Ihr Herzschlag und ihre Atmung waren beschleunigt und als sie die Augen wieder öffnete, schien das Wageninnere in ein warmes Licht getaucht zu sein - obwohl der Regen, die dichte Wolkendecke und die eng stehenden Häuser jegliches Sonnenlicht abschirmen mussten.
Marinette wischte sich das Wasser aus den Augen, doch der Eindruck blieb. Vielleicht war es ja dieses überwältigende, erlösende Gefühl, das nun all ihren Sinnen Behaglichkeit signalisierte, und im Fall ihrer Augen vorgaukelte.
Auf jeden Fall war es dieses Gefühl, was sie ein strahlendes Lächeln aufsetzen und sich Adrien zuwenden ließ.
Ihr Blick begegnete seinen grünen Augen und sie sprach spontan aus, was sie gerade dachte: »Du bist mein Held!«
Ihre laute, überschwängliche Stimme wirkte unpassend in der Enge des Wageninnern, doch Marinette war das in diesem Moment egal.
Was ihr jedoch nicht egal war und sie außerdem überraschte, war Adriens Reaktion.
Sie hatte sich vorher keinerlei Gedanken darüber gemacht, aber wenn, hätte sie wohl nicht mit einem so schnellen, ruckartigen Abwenden seines Blicks gerechnet.
»Ist doch selbstverständlich.«, murmelte er und rieb sich den Nacken.
Seine sichtliche Verlegenheit dämpfte Marinettes Überschwang ein wenig – weit genug, damit die Gedanken in ihrem Kopf langsam in Bewegung kamen und sie ihr Auftreten überdachte.
Adrien hatte sie vor der Kälte und dem Regen gerettet und würde sie jetzt vermutlich nach Hause fahren, wo trockene Kleidung, eine heiße Tasse Tee und ihr Bett auf sie warteten.
Sie hatte allen Grund, sich zu freuen.
Allerdings war sie mit ihrem Ausruf wohl etwas zu weit gegangen.
Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde, wie unangebracht es gewesen war, ihn als ihren »Helden« zu bezeichnen – auch wenn sie damit nur ihre Dankbarkeit hatte ausdrücken wollen.
Genau genommen waren aus Marinettes Mund alle Bezeichnungen, die auf das Wörtchen »mein« folgten, ihm gegenüber unangebracht.
Seit ihrem Date am 30. Dezember hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt.
Sie hatten an Silvester telefoniert, weil Adrien am Vortag dummerweise ihren kleinen Zusammenbruch mitbekommen hatte und es ihr wichtig gewesen war, die Sache aufzuklären. Aber darüber, wie genau sie neuerdings zueinander standen, hatten sie bei diesem Telefonat nicht geredet.
Und auch seitdem nicht.
Es war demnach nicht klar, was sie beide eigentlich waren.
Freunde?
Ehemalige Freunde?
Mitschüler ohne jeden Kontakt?
Kein Wunder, dass Adrien unsicher war, wie er mit der Situation umgehen sollte.
Ihn als ihren Helden zu betiteln und ihn dermaßen offen anzustrahlen war eindeutig der falsche Weg gewesen, aber mehr als das wusste Marinette auch nicht.
Sie spürte nur, wie sich etwas in ihr gegen das betretene Schweigen sträubte.
Ihr missfiel der Gedanke, dass ein paar missliche Minuten auf einem Riesenrad all die Vertrautheit und Ungezwungenheit kaputtmachen durften, die in den Jahren ihrer Freundschaft zwischen ihnen entstanden war.
Sie wollte die unangenehme Spannung nicht einfach hinnehmen.
Um etwas dagegen zu unternehmen, ergriff sie wieder das Wort.
»Was ich damit eigentlich nur sagen wollte: Danke, dass du mich mitnimmst!«
Als Adriens Blick kurz zu ihr sprang, hatte sie ihr Lächeln zurückgeschraubt, doch sie dachte gar nicht daran, irgendeine Art von Verlegenheit zuzulassen.
»Freut mich, wenn ich so einfach helfen kann.«, erwiderte ihr Gegenüber und zog dabei seinen rechten Mundwinkel ein Stück nach oben.
Schon jetzt schien seine Anspannung ein wenig nachgelassen zu haben.
Marinette musste sich schon wieder über die Augen wischen.
Von ihrer durchnässten Wollmütze rann ihr das Regenwasser übers Gesicht.
Ehe wieder Schweigen aufkommen konnte, redete sie weiter.
»Tut mir leid, dass ich so nass bin und hier alles volltropfe.«
Sie hatte einen entschuldigenden Gesichtsausdruck aufgesetzt, den Adrien allerdings gar nicht mitbekam.
»Ich schick dir dann die Rechnung für den Sitz und den Bodenbelag.«, erwiderte er, ohne sie anzusehen.
Sie riss erschrocken die Augen auf.
»Was?«
Da wandte er sich zu ihr um und sie entdeckte das belustigte Funkeln in seinem Blick.
Auf einmal wusste sie nicht mehr, wo sie hinsehen sollte; in seine leuchtend grünen Augen oder auf seine Lippen, die nun von einem zarten Grinsen umspielt wurden.
Es dauerte mehrere Sekunden, bis ihr die Antwort klar wurde: Weder noch.
Ruckartig sah sie zu Boden und rieb mit ihren Händen über ihre Oberschenkel.
Sie war sich selbst nicht ganz sicher, ob sie es aus Verlegenheit tat oder wegen der Gänsehaut, die sich trotz der warmen Luft großflächig unter dem nassen Stoff ihrer Kleidung ausgebreitet hatte.
Keins von beidem ließ sich durch das Reiben beseitigen.
Marinette konnte kaum das Zittern unterdrücken.
»Soll ich dir die Sitzheizung einschalten?«, fragte Adrien, und sie nickte wortlos.
Noch immer hatte sie ihren Blick gesenkt und versuchte, sich ganz auf ihre Körpertemperatur zu konzentrieren.
»Haben die drei Meter ausgereicht, damit du so nass geworden bist oder hattest du vorher schon was abbekommen?«, stellte Adrien die nächste Frage.
Mittlerweile klang seine Stimme vollkommen locker und souverän.
Für ihn hatte es anscheinend funktioniert, durch seine scherzhafte Bemerkung etwas der Spannung zu beseitigen.
Von Marinettes Seite her war jedoch das Gegenteil der Fall.
Bevor sie ihm antworten konnte, musste sie sich erst räuspern.
»Ich hab mich sofort untergestellt, als es losging, aber nass bin ich auch da schon geworden.«
Adrien sagte daraufhin nichts.
Marinette zupfte an der Kante ihres Wintermantels und sah zu, wie das angesammelte Wasser zu Boden tropfte.
Wieder war das Schweigen ihr unangenehm, doch diesmal fühlte sie sich nicht in der Verfassung, etwas daran zu ändern.
Ihre Hochstimmung war in eine unsichere Befangenheit übergegangen.
Und sie fror noch immer.
Mittlerweile war klar, dass die Kälte nicht so leicht zu vertreiben war, wie es im ersten Moment gewirkt hatte.
Der nasse Stoff ihrer Kleidung war wie eine Barriere, die die Wärme des Autos daran hinderte, ihren Körper zu erreichen.
Je länger das Schweigen dauerte, desto lauter schien der Regen auf das Autodach zu prasseln.
Schließlich wurde es Marinette zu unangenehm.
Sie hob den Kopf und sah zu Adrien hinüber. Sie wollte ihn fragen, warum er nicht losfuhr, doch sein Blick ließ sie ihr Vorhaben vergessen.
Er sah sie direkt an und sie erkannte deutlich die Sorge in seinen Augen.
Doch da war noch mehr. Ein Gefühl von Wärme.
Kam das von der Sitzheizung oder lag es an dem sanften Ausdruck in seinem Blick?
Marinette kämpfte gegen die Verwirrung an, die sich in ihrem Kopf breitmachen wollte.
Es gelang ihr nicht.
Gegen ihren Willen tauchte die Frage darin auf, ob er sie schon die ganze Zeit so angesehen hatte.
»Du frierst immer noch, oder?«
Passend zu seinem Blick klang auch Adriens Stimme unheimlich sanft. Und warm.
Er legte den Kopf leicht schräg und sie nahm wahr, wie sich das Grün seiner Augen veränderte.
Es wirkte nun dunkler. Und auf sonderbare Weise tiefer.
Marinette brachte keine Antwort zustande.
»Die Sitzheizung scheint wohl nicht auszureichen.«, fügte er hinzu, als sie nichts sagte und ohne jede Vorwarnung lehnte er sich nach vorn.
Sofort gab die Vernunft ihrem Körper den Befehl, zurückzuweichen, doch ihre Gefühle waren stärker und die Wärme in seinem Blick zog sie wie magisch an.
Auch ihr Oberkörper kippte nach vorn, auf ihn zu.
Alles, was sie wahrnahm, waren die schier endlosen Tiefen seiner Augen und ihr einziger Wunsch war es, darin zu versinken.
In diesem Moment drehte er den Kopf und griff mit seinem Arm nach hinten auf den Rücksitz.
Seine grünen Augen verschwanden aus ihrem Sichtfeld.
Ihr Blick traf ins Leere.
Und die Magie verschwand.
Marinette blinzelte.
Und voller Entsetzen realisierte sie, was sie gerade getan und gedacht hatte.
Im nächsten Moment verspürte sie den Impuls, aus dem Auto zu springen und einen Sprint durch den Regen hinzulegen - um sich selbst zu bestrafen, um sich von den Wassermassen den Kopf freispülen zu lassen und um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Adrien zu bringen.
Doch sie rührte sich nicht.
Sie war sich nicht sicher, ob das Zittern ihres Körpers nach wie vor von der Kälte kam oder von dem Schock über sich selbst.
»Hier. Vielleicht hilft das noch ein kleines Bisschen.«
Adrien hielt ihr seine Jacke hin, die er von der Rückbank geholt hatte.
Ohne Marinettes Zutun griff ihre Hand danach und aus ihrem Mund kam ein tonloses »Danke.«
Kurz darauf realisierte sie, dass die Jacke ausgebreitete über ihren Beinen lag. Sie konnte sich nicht erinnern, sie dort hingelegt zu haben.
»Richtig warm wird dir vermutlich erst werden können, wenn du trocken bist.«
Sowohl Adriens Stimme als auch der Sinn seiner Worte schafften es kaum, zu Marinette durchzudringen.
Sie schüttelte leichte den Kopf, in der Hoffnung, sich danach besser konzentrieren zu können.
Adrien redete weiter.
»Ich sollte dich jetzt schnell nach Hause bringen, damit ich dir die nassen Klamotten ausziehen kann.«
Marinette Gedanken stolperten. Überschlugen sich. Und blieben schließlich als undurchschaubarer Haufen auf dem Boden liegen, ohne den geringsten Sinn zu ergeben.
Passend dazu schien ihre Lunge das Atmen verlernt zu haben.
Irgendwie bekam Marinette es hin, sich zu Adrien umzudrehen und nach Luft japsend zu fragen: »W-w-was hast du gerade gesagt?«
Mit einem verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht erwiderte er ihren Blick.
Er musterte sie einige Sekunden, anscheinend mit der Absicht, ihre Reaktion zu verstehen.
Schließlich antwortete er zögerlich: »Ich habe gesagt, dass ich dich schnell nach Hause bringen sollte, damit du die nassen Klamotten ausziehen kannst.
War ... irgendetwas falsch daran?«
Hastig schüttelte Marinette den Kopf.
Nein, an dieser Version war absolut gar nichts falsch.
»Ich fahr dann mal los.«, sagte Adrien nach einigen Sekunden der Stille und sie nickte.
Kurz spürte sie noch seinen forschenden Blick auf sich, mit dem er ihr in den Kopf zu schauen versuchte. Dann wandte er sich dem Lenkrad zu.
Marinette hörte ein leises Klimpern, als er den Schlüssel im Zündschloss drehte.
Zu dem Prasseln des Regens auf dem Autodach gesellte sich erst das Röhren des Motors und eine Sekunde später laute Musik.
Plötzlich dröhnte sie von allen Seiten aus den Autolautsprechern und Marinette zuckte zusammen.
Die Bässe ließen ihr Inneres vibrieren und sofort waren ihre Gedanken bei ihrem Kind.
Sie wollte gerade etwas sagen, als Adrien schon leise gedreht hatte und sich bei ihr für die Lautstärke entschuldigte.
Während er den Blinker setzte und sich in den Verkehr einordnete, wagte Marinette einen kurzen Seitenblick.
Dabei glitten ihre Augen zum ersten Mal, seit sie in das Auto gestiegen war, bewusst über das Lenkrad und etwas erweckte ihr Interesse.
Der Anhänger an Adriens Schlüsselbund.
Sie hätte ihn überall wiedererkannt.
Die Erinnerung daran, wie sie ihn gebastelt hatte, war noch so präsent in ihrem Kopf, als wäre es erst gestern gewesen.
Wie lange es gedauert hatte, die passenden Perlen auszuwählen.
Wie feucht und zittrig ihre Finger bei Auffädeln gewesen waren.
Wie sie den Knoten immer wieder hatte lösen müssen, weil er noch nicht hundertprozentig perfekt gewesen war.
Sie erinnerte sich an das Gefühlsgemisch aus Nervosität, Vorfreude und Furcht – die Furcht, das Geschenk würde ihm nicht gefallen und es würde ihm nicht einmal ansatzweise so viel bedeuten wie ihr.
Vielleicht hatte er den Anhänger irgendwann an seinen Schlüsselbund gemacht und ihn nur aus Gewohnheit dort gelassen. Vielleicht wusste er schon gar nicht mehr, wo er ihn her hatte; dass es ein Geschenk von Marinette gewesen war.
Oder aber – ihr Herz flatterte ganz leicht bei diesem Gedanken – er dachte jedes einzelne Mal an sie, wenn er den Anhänger sah.
»Ich habe ihn immer in Ehren gehalten.«, durchbrach Adriens Stimme auf einmal wieder die Stille.
Sie hob den Kopf.
Er schaute mit einem konzentrierten Ausdruck nach vorn auf die Straße, aber offenbar hatte er ihren Blick zu dem Anhänger mitbekommen.
Er lächelte ganz leicht; wegen dem, was er gerade gesagt hatte?
Marinette schluckte.
»Freut mich.«, erwiderte sie mit belegter Stimme.
Dann wandte sie schnell von ihm ab und sah aus dem Seitenfenster nach draußen.
Sie versuchte, sich vorzustellen, dort draußen zu sein.
Sie sehnte sich nicht nach dem Regen oder der Dunkelheit, aber nach dem »Nicht hier.«.
Das Wageninnere selbst mit seiner Behaglichkeit hatte sich nicht verändert, doch mittlerweile wollte sie davon nicht mehr angetan sein. Sie wollte es abstoßend finden.
Sogar gegen die Wärme wehrte sie sich.
Denn die Wärme war untrennbar mit Adriens Gegenwart verknüpft und seine Gegenwart erschütterte Marinette viel mehr, als es angemessen war.
Es gelang ihr nicht, ihn zu ignorieren - so sehr sie es auch versuchte.
Sie musste ihn nicht ansehen oder seine Stimme hören, um ihn mit all ihren Sinnen wahrzunehmen.
Sobald ihr das klar geworden war, änderte sie ihre Taktik. Statt sich mit dem verregneten Paris auf der anderen Seite der Fensterscheibe abzulenken, versuchte sie es mit Logik.
Logik und Vernunft.
Es gab eine logische, vernünftige Erklärung dafür, warum ihr Kopf in den letzten Minuten so verrückt gespielt hatte.
Und wenn sie diese Erklärung erst gefunden hatte, würde all das kein Problem mehr sein.
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