15
Cat,
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Da ist so viel, was ich dir sagen möchte.
Manches hätte ich dir schon vor langer Zeit sagen sollen.
Manches ist mir erst in den letzten Tagen bewusst geworden.
Ich bedauere, dass wir dieses »Gespräch« nicht schon viel früher geführt haben.
Und ich bedauere auch, dass ich im Moment nur auf diese Art zu dir reden kann.
Ich weiß, dass ich es dir an vielen Stellen in unserer Beziehung nicht leicht gemacht habe. Und auch hiermit verlange ich dir viel ab.
Ich hoffe aber, dass du mich nach diesem Brief verstehst.
Er ist ein Versuch, dir einen Blick in meinen Kopf und in mein Herz zu geben – auch wenn du schon jetzt die Person bist, die sich dort am allerbesten auskennt.
Vielleicht fange ich gleich damit an: Deiner Stellung in meinem Leben.
Auf dich muss es wirken, als würde der Großteil meines Lebens passieren, während ich nicht bei dir bin.
Ich kann gar nicht ausdrücken, wie falsch das ist.
Du bist nicht mein ganzes Leben, aber du bist mehr davon, als irgendjemand sonst; mehr, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.
Meine Gedanken drehen sich ständig um dich.
Wenn ich nicht bei dir bin, vermisse ich dich, und wenn ich bei dir bin, will ich nie wieder gehen.
Mein Leben ist ein völlig anderes, seit du so ein großer, wichtiger Teil davon bist.
Ich habe angefangen, anders über meine Aufgabe als Ladybug zu denken. Ich habe angefangen, anders über meine Zukunft zu denken, über meine Wünsche und Träume und Vorstellungen.
Wie ich dir schon einmal gesagt habe, hat mir das auch Angst gemacht.
Und du hast recht: Ich wollte möglichst viel Kontrolle über all das behalten.
Mit Tikki und dem Miraculous ist unheimlich viel Verantwortung in mein Leben gekommen.
Du bist die Person, die das wohl noch am ehesten verstehen kann, aber selbst du weißt vieles noch nicht.
Ich habe es nie gewagt, es auszusprechen, aber diese Aufgabe – Ladybug sein, das mächtigste aller Miraculous tragen, Paris mit seinen Menschen beschützen, als Einzige die Akumas einfangen können, als Hüterin auf so viele Miraculous achtgeben müssen – ist an manchen Tagen zu viel für mich.
Es gibt Tage, da hasse ich es, ausgewählt worden zu sein.
Nicht nur wegen der riesigen Verantwortung, sondern auch wegen der Auswirkungen, die es auf mein Leben hat.
Die Leute anlügen zu müssen, die ich liebe.
Jederzeit damit rechnen müssen, dass Ladybug gebraucht wird und somit niemals vollständig abschalten zu können.
Die Unsicherheit, wie meine Zukunft aussehen wird – wie sie überhaupt aussehen kann.
Ich musste und muss unglaublich viel aufgeben, um dieser Pflicht gerecht zu werden.
Die Auswirkungen auf mein Leben sind so weitreichend, dass es sich manchmal anfühlt, als wäre es gar nicht mehr mein Leben.
Als hätte ich gar keine echte Kontrolle mehr darüber, was mit mir passiert.
Ist es also verwunderlich, dass jede weitere Unsicherheit, jede weitere mögliche Komplikation mich zurückschrecken lässt?
Gefühlt bin ich ständig nur damit beschäftigt, zu versuchen, alles irgendwie zusammenzuhalten - und das schon seit so langer Zeit.
Ich kann mich kaum noch erinnern, wie es vorher war.
Wie fühlt es sich an, ein ganz normaler Teenager zu sein?
Manchmal schaffe ich es fast, mich in einem »normalen« Moment in meinem Leben daran zurückzuerinnern.
Aber vollständig werde ich die Verantwortung, die auf mir lastet, nicht los.
Niemals.
Und seit der allerersten Minute war ich vollkommen allein damit.
Du warst immer für mich da, aber ich habe dich all das niemals sehen lassen. Ich habe es hinter meiner Maske versteckt – wenn ich verwandelt war, genauso wie in meinem Alltag.
Vielleicht wäre vieles zwischen uns anders gelaufen, wenn ich dir schon eher davon erzählt hätte.
Vielleicht wären wir nicht an diesem Punkt, an dem wir gerade sind, wenn ich mutiger gewesen wäre.
Doch auch wenn es so klingt: Ich bin nicht verzweifelt.
Gerade jetzt, wo mein Leben so herausfordernd und kompliziert und erschreckend ist, wie noch nie zuvor, kann ich tatsächlich hoffnungsvoll in die Zukunft sehen.
Ich habe zum allerersten Mal den Eindruck, dass ich all das nicht mehr allein bewältigen muss.
Weil ich dich habe.
Gut möglich, dass ich mit dieser Erkenntnis ziemlich spät dran bin; dass ich mich dir schon viel eher so vollständig hätte öffnen sollen.
Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass ich gefühlt schon eine Ewigkeit allein mit diesem Durcheinander klarkommen muss.
Ich habe mich richtig daran gewöhnt, alles allein bewältigen zu müssen.
Ich habe mich daran gewöhnt, dass es keinen Menschen gibt, der mich wirklich kennt.
Und im Rückblick erkenne ich, dass ich vermutlich auch die Hoffnung aufgegeben hatte, dass sich daran jemals etwas ändert.
Ich erschrecke selbst ein wenig über mich, während ich das hier schreibe. Es klingt, als würde ich nicht von Jahren reden, sondern von Jahrzehnten.
Manchmal fühlt es sich tatsächlich so an.
Ich bin noch jung, aber es kommt mir bereits vor, als müsste ich Herausforderungen bewältigen, die selbst für Menschen mit zehnmal so viel Lebenserfahrung zu viel wären.
Deshalb werde ich mich nicht dafür entschuldigen, dass ich um jedes Bisschen Kontrolle kämpfe – dass ich jede Karte ergreife, die das Leben mir gibt, und jeden Faden festhalte, den ich zu fassen kriege.
Das ist meine Überlebensstrategie.
Wenn ich erst einmal anfange, mich in meinem eigenen Leben unsicher zu fühlen, werde ich es nicht schaffen. Dann werden die Sorgen und Ängste mich überwältigen und dann werde ich meine Aufgabe nicht erfüllen können.
Es tut mir leid, dass du ein Opfer dieser Strategie geworden bist.
Ich gebe zu, dass ich in unserer Beziehung sehr genau darauf geachtet habe, wie viel Kontrolle ich dir überlasse.
Bitte glaub mir, wenn ich sage, dass es nichts mit fehlendem Vertrauen zu tun hatte.
Es gibt da nur etwas, das ich von unserer Beziehung fernhalten wollte.
Eine Sache, an der ich beinahe zugrunde gegangen wäre und die ich deshalb immer verdrängt habe, und die trotz des Verdrängens beinahe jede Entscheidung beeinflusst, die ich in meinem Leben treffe.
Ganz besonders betrifft diese Sache das Geheimhalten meiner und deiner Identität.
Etwas in mir will sich weigern, es niederzuschreiben, aber ich muss es jetzt endlich loswerden.
Du sollst wissen, warum ich bin, wie ich bin; warum ich handle und entscheide, wie ich es tue.
Ich habe dir vor einiger Zeit von der alternativen Zeitlinie erzählt, in der du akumatisiert worden bist.
Aber ich habe dir nicht alles gesagt.
Es stimmt, dass damals das Öffentlichwerden meiner Identität in irgendeiner Weise dazu geführt hat, aber ich habe noch etwas anderes erfahren, als ich auf dein akumatisiertes Ich getroffen bin.
Cat Blanc hat mir gesagt, dass unsere Liebe für all das verantwortlich gewesen ist.
Ich habe es – wie so ziemlich alles an dieser ganzen Sache – nicht verstanden. Wir waren damals nur Partner und ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals in dich zu verlieben.
Ich habe all das für lange Zeit verdrängt, um weiterhin Ladybug sein zu können.
Diese alternative Zukunft war das Erschreckendste, was ich jemals gesehen habe. Den Anblick von Paris – völlig zerstört und überschwemmt – werde ich niemals wieder vergessen. Und auch dieses Gefühl hat sich mir tief eingeprägt.
Ich wusste, dass jeder Mensch, der mir wichtig ist, in dieser Zukunft nicht mehr am Leben war - mit Ausnahme von dir.
Aber auch auf dich zu treffen, war unheimlich bedrückend. Mir war bewusst, dass es nicht wirklich du warst, trotzdem kann ich deinen Blick und deine Worte nicht mehr vergessen.
Nicht einmal mich selbst dort zu sehen – das, was du von mir noch übrig gelassen hattest – war so schwer zu ertragen, wie dir zu begegnen.
Ich will dich nie wieder so sehen müssen.
In den Tagen und Wochen danach hatte ich Angstattacken und jede Nacht Albträume von diesem Erlebnis.
Es hat die Art und Weise verändert, wie ich die Welt sehe - dich, mich, meine Rolle als Lady, die Verantwortung, die wir tragen.
Beinahe hätte ich es nicht geschafft, es hinter mir zu lassen.
Aber ich habe einen Weg gefunden.
Den Großteil von all dem habe ich verdrängt. Ich habe mir wieder und wieder eingeredet, dass es kein Teil meiner Realität und auch kein Teil meiner Zukunft ist.
Es war mir jedoch unmöglich, einfach so weiterzumachen, wie zuvor.
Um meine Angst zu besiegen, musste ich Konsequenzen aus dieser Erfahrung ziehen.
Ich muste ganz konkret etwas tun, etwas an meiner Lebensweise ändern.
Die Vorstellung, dass es durch einen Fehler von mir wieder dazu kommen könnte, war und ist unerträglich.
Also habe ich versucht, eine klare Lehre daraus zu ziehen.
Ich wusste nicht, wie genau es dazu gekommen ist, aber ich hatte Hinweise; die Sachen, die Cat Blanc mit verraten hat.
Schließlich habe ich es zu einer simplen Formel zusammengefasst:
Unsere Liebe + offenbarte Identität = das Ende der Welt
Mir ist bewusst, dass es eine starke Vereinfachung ist.
Mir ist bewusst, dass diese Formel auf sehr wenigen Fakten beruht.
Aber sie hat mir geholfen.
Sie hat mir geholfen, die Kontrolle über meine Ängste zu erlangen und weiterzuleben.
Sie war simpel genug, um sie in meinem Alltag ohne viel Nachdenken anwenden zu können.
Sie war wie ein Geländer, an dem ich mich festhalten konnte.
Eine Sicherheit.
»Wenn ich nur darauf achte, dass es nie wieder zu dieser Konstellation kommt, ist die Welt außer Gefahr.«
Das war der Gedanke dahinter.
Also habe ich mein Leben an diese Einstellung angepasst.
Noch viel mehr als vorher habe ich von da an darauf geachtet, dass wir die Identität des anderen nicht erfahren.
Und im Nachhinein erkenne ich, dass wohl auch der zweite Aspekt mich beeinflusst hat. Er hat mich von dir ferngehalten und vielleicht hat er sogar verhindert, dass ich mich schon eher in dich verliebt habe.
Ich bin nicht stolz auf all das, aber ich kann mich nur wiederholen: Es war meine Rettung. Ich habe das gebraucht, um weitermachen zu können – mit allem.
Darauf zu achten, dass meine Identität auf keinen Fall öffentlich wird, hat mich beruhigt. Genauso, wie darauf zu achten, dass wir uns nicht zu nahe kommen.
Erst, als die Gefühle für dich aufgetaucht sind, ist all das wieder hochgekommen.
Die Ängste, die ich so erfolgreich bekämpft hatte, sind auf einmal wieder aufgetaucht.
Mich in dich zu verlieben war unheimlich furchteinflößend und wenn es mir irgendwie möglich gewesen wäre, hätte ich meine Gefühle für dich einfach abgestellt.
Nur, weil du und Tikki mir Mut gemacht habt, habe ich es überhaupt zulassen können.
Und noch etwas hat mir in dieser Sache die Angst genommen: Das Wissen, dass es nicht ausschließlich unsere Liebe gewesen ist, die zu dieser Zukunft geführt hat.
Selbst in diesem Moment hat mir die Formel weitergeholfen.
Sie hat mir gesagt, dass die Liebe nicht der alleinige Grund für all das gewesen ist.
Dieses Wissen war wie ein Schlupfloch; ich konnte es schließlich zulassen, dich zu lieben.
Allerdings nur, wenn ich dafür umso mehr auf den zweiten Faktor achte: Der Schutz unserer Identitäten.
Verstehst du jetzt?
Deshalb kann ich nicht zulassen, dass du erfährst, wer ich bin.
Ich weiß, dass es nicht so einfach ist, Voraussagen für die Zukunft zu treffen.
Ich weiß, dass ich mich irren kann.
Aber bitte versteh, dass ich diese Verantwortung nicht tragen will. Dass ich sie nicht tragen kann.
Wenn es nur um mein eigenes Leben gehen würde, hätte ich schon längst nachgegeben.
Aber es geht um so viel mehr.
Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn unsere Liebe für das Ende der Welt verantwortlich wäre.
Das klingt komplett verrückt und überzogen, aber ich übertreibe nicht.
Die Welt hat eine zweite Chance bekommen – ich habe eine zweite Chance bekommen.
Wie könnte ich all das für unser Glück aufs Spiel setzen?
Ich bin schon lang genug eine Superheldin, um zu wissen, was das im Kern bedeutet.
Es bedeutet, das eigene Leben zurückzustellen für das Wohl der anderen.
Wir beide haben schon so viel Zeit und Kraft in diese Aufgabe gesteckt, haben schon so viel aufgegeben und geopfert, um Paris und seine Menschen zu schützen.
Es ist ungerecht und kaum auszuhalten, dass wir jetzt sogar noch viel mehr opfern müssen.
Aber du stimmst mir mittlerweile hoffentlich zu, dass uns keine Wahl bleibt.
Wir dürfen das Risiko nicht eingehen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder zu so einer Katastrophe kommt wie in der alternativen Zeitlinie, mag nur sehr gering sein.
Aber wenn es um das Wohl so vieler Menschen geht, ist Glücksspiel keine Option.
Wir dürfen die Fakten, die ich durch meinen Einsatz in der Zukunft erfahren habe, nicht einfach ignorieren.
Während ich das alles schreibe, ist mir nur zu bewusst, was diese Haltung uns beide kostet.
Ich könnte seitenweise aufzählen, warum ich deine Identität kennen will. Und seit ich von unserer Schwangerschaft weiß, ist diese Liste um das Hundertfache länger geworden.
Obwohl wir damit so viele Menschen schützen, ist es mir noch nie so schwer gefallen »das Richtige« zu tun.
Ich ertrage es kaum.
Doch wie schon so oft in diesem Brief gibt es auch an dieser Stelle ein »Aber«.
Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Ich habe uns nicht aufgegeben.
Ich weiß mittlerweile, dass ich das gar nicht kann, und das Kind hat es noch einmal besiegelt.
Auch hierbei haben wir keine Wahl.
Wir müssen einen Weg find.
Auch wenn wir das Risiko nicht eingehen können, die äußeren Masken voreinander abzunehmen, steht längst nicht fest, dass wir niemals das Gesicht des anderen sehen.
Wie du schon einmal gesagt hast, gibt es auch noch die Möglichkeit, dass es ohne unser Zutun dazu kommt.
Dass es irgendwann einfach passiert und in Ordnung ist.
Doch ehrlich gesagt schrecke ich davor zurück, all meine Hoffnung auf dieses Szenario zu setzten.
Ich will meine Zeit nicht mit Warten verbringen.
Stattdessen will ich mit allem, was ich bin, dafür kämpfen, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben - ganz unabhängig vom Schicksal oder Zufall.
Das wollte ich schon, bevor ich schwanger geworden bin.
An diesen Punkt bin ich schon während unserer Trennung gekommen.
Cat, im Moment sieht es unmöglich aus, aber wir können das schaffen.
Ich weiß noch nicht, wie. Ich habe keine Antworten auf all die Fragen, die zwischen uns stehen.
Aber ich will es angehen.
Mit dir zusammen.
Deine Prinzessin
PS: Um das Gleichgewicht in unserer Beziehung zu verbessern, habe ich den zusammengefalteten Zettel mit in den Umschlag gesteckt (der, auf dem »Nicht lesen« steht).
Sollte es irgendwann absolut keinen anderen Weg geben, darfst du in öffnen. Darauf stehen mein Name und meine Adresse.
Ich vertraue darauf, dass du ihn sicher verwahrst.
PPS: Ich habe mir überlegt, wie wir in unserem Alltag Kontakt miteinander halten können. Ich habe mir zu diesem Zweck eine E-Mail-Adresse erstellt.
Bitte tue das Gleiche und schreib mir.
PPPS: Ich weiß, dass ich sehr viele wichtige Themen in diesem Brief noch nicht angesprochen habe.
Ich hoffe, dass es als erster Schritt ausreicht.
Ich liebe dich.
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