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Hallo ihr Lieben,
ich hoffe, euch und euren Familien geht es gut.
(Vielleicht geht es euch ja gerade wir mir und ihr seid dankbar für Ablenkung.)
Ich freue mich sehr, dass es endlich weitergeht (Ihr euch hoffentlich auch.).
Ich habe leider noch nicht genügend Kapitel auf Vorrat, um wieder tägliche Uploads garantieren zu können, aber der Plan ist nun: jeden zweiten Tag.
Falls ihr nach der langen Zeit etwas aus der Geschichte raus seid, empfehle ich euch, die letzten beiden Kapitel noch mal zu lesen.
So, jetzt will ich euch nicht weiter nerven. Viel Spaß beim Lesen!
Eure LapislazuLilly
Den dritten Tag in Folge trat Marinette durch die Tür der Wohnung, ohne zu wissen, was sie im Innern erwartete.
Ihre Sehnsucht nach Cat Noir hatte verhindert, dass sie vor dem Treffen zurückgeschreckt war. Vollständig kam sie aber nicht gegen die Furcht an.
Sie befürchtete, dass Cat Noir wieder so kalt und abweisend sein könnte, wie am Vortag.
Sein flüchtiger Abschiedskuss und seine letzten Worte ließen sie auf das Gegenteil hoffen, aber wann waren in letzter Zeit ihre Hoffnungen und Wünsche in Erfüllung gegangen?
Wann war ein Gespräch mit Cat Noir zum letzten Mal tatsächlich besser ausgegangen, als erwartet?
Nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, waren sie am Nachmittag verabredet gewesen. Cat Noir hatte sie nicht nur zwei volle Stunden warten lassen, sondern nach seiner Ankunft auch kaum ein Wort gesagt. Selbst mittlerweile kannte sie den Grund dafür nicht.
Direkt danach war es zu dem großen Streit mit ihren Eltern gekommen und als es ihr endlich möglich gewesen war, mit ihrem Problem zu Cat Noir zu kommen, hatte dieses Gespräch schlimm geendet – mit ihrer Trennung.
Auch am Tag der Schwangerschaftsenthüllung, am Samstag, hatte Marinette die Wohnung mit gemischten Gefühlen verlassen. Cat Noirs Finger auf ihrer gebastelten Maske und sein wiedererweckter Wunsch, ihre Identität zu kennen, belastete sie seitdem in beinahe jeder Minute des Tages.
Und gestern, am Sonntag, war aus einem Gespräch über die Schwangerschaft ihr erster richtiger Streit geworden.
Marinette wollte es sich nicht eingestehen, doch nicht nur die äußeren Umstände ihrer Beziehung waren schwierig und kompliziert.
Auch in ihrem Miteinander gab es unzählige Herausforderungen.
So vieles war zwischen ihnen noch unausgesprochen.
In dieser Sache - und bei so ziemlich jeder Sache, die sie gerade beschäftigte - setzte sie ihre Hoffnung in den Brief, der in ihrer Jackentasche steckte.
Bei dem heutigen Gespräch konnte er ihr allerdings noch nicht weiterhelfen.
Es würde stattfinden, bevor Cat Noir den Brief gelesen hatte.
»Hi.«
Sie hatte ihn nicht am Klavier sitzen sehen, weshalb sie beim Klang seiner Stimme leicht zusammenzuckte.
Sie drehte sich zu ihm um.
Als sie sah, dass er sie anlächelte, erwiderte sie das Lächeln und hob leicht die Hand als Begrüßung.
All ihren Befürchtungen zum Trotz tat es gut, ihn zu sehen.
Auf den Anflug von Enttäuschung auf seinem Gesicht hätte sie jedoch gern verzichtet.
Die Stehlampe war die einzige Lichtquelle im Raum und sie stand so, dass Cat Noirs Gesicht halb im Schatten lag. Dennoch konnte Marinette sich nicht erfolgreich einreden, dass es nur Einbildung gewesen war.
Und seine folgende Bemerkung bestätigten es.
»Du bist also wieder stumm.«
Enttäuschung.
Nicht zu überhören.
Zumindest war es aber die einzige Emotion, die Marinette aus seiner Stimme heraushören konnte. Es war kein Vorwurf gewesen.
Nur eine Feststellung.
»Und wie läuft das jetzt?«, redete er weiter, »Du wolltest mir doch eine Erklärung für all das geben.
Ist es tatsächlich so einfach, dass du es mir schnell auf einen Notizblock kritzeln kannst?«
Marinette presste die Lippen aufeinander.
Schon jetzt musste sie ihren Eindruck revidieren: Car Noir war mehr als nur enttäuscht.
Da er keinerlei Anstalten machte, sich von dem Klavierhocker zu erheben, ging sie auf ihn zu. Währenddessen holte sie den Notizblock aus ihrer Jackentasche, auf dem sie bereits eine Nachricht vorbereitet hatte.
Sie streckte ihm den Block entgegen und nun war sie nah genug, um sein Gesicht noch deutlicher lesen zu können.
Sie erkannte Widerwillen.
Doch er griff nach dem Block und las.
Ich habe dir einen Brief geschrieben, in dem ich alles erkläre.
Bitte lies ihn in Ruhe durch.
Ich muss gleich wieder gehen.
Du hast also genug Zeit, um über alles nachzudenken. Und ich hoffe, dass ich bald von dir höre.
Cat Noir hob den Kopf, ignorierte den Briefumschlag, den Marinette ihm entgegenstreckte, und sah ihr stattdessen ins Gesicht.
»Hast du diesen Weg gewählt, damit du meine Reaktion nicht mitbekommst?«, fragte er, »Hast du Angst, dass du mir danach nicht mehr in die Augen sehen kannst?«
Obwohl sein bohrender Blick es ihr schwer machte, schaffte sie es, mit dem Kopf zu schütteln.
Seine nächste Frage kam nur zögerlich.
»Werde ich es ... bereuen, den Brief gelesen zu haben?«
Wieder antwortete sie mit einem Kopfschütteln – obwohl sie sich dabei gar nicht so sicher war.
Cat Noir war noch immer nicht zufrieden, denn er stellte eine weitere Frage:
»Also sind wir noch ein Paar, wenn ich damit fertig bin?«
Diesmal rührte sich ihr Kopf nicht.
Sie wollte nickten - unbedingt. Doch ein kleiner, pessimistischer Teil von ihr flüsterte, dass es womöglich eine Lüge wäre.
Und Lügen war das allerletzte, was sie Cat Noir nun antun wollte.
»Warum antwortest du nicht?«
Seine Stimme klang plötzlich hart und gepresst. Vermutlich, weil er dadurch das Zittern überdecken wollte.
So schnell sie es fertigbrachte, schrieb sie eine Antwort auf den Notizblock.
Ich hoffe es.
Nachdem Cat Noir es gelesen hatte, fuhr er sich mit der Hand über die Augen.
Marinette beobachtete ihn genau. Sie glaubte nicht, dass er wieder so verzweifelt wie am Vortag werden würde, doch es tat ihr weh, ihm keine erfreulichere Antwort geben zu können.
Auch ihr graute es davor, dass sie erneut mit ihrer Beziehung scheiterten.
Sie sehnte sich genauso sehr nach einem Happy End, wie er.
Ohne jede Vorwarnung packte Cat Noir sie auf einmal an der Hüfte und zog sie ruckartig auf seinen Schoß.
Sie war so überrascht davon, dass sie mit großen Augen seinen Blick erwiderte und nicht wagte, sich zu rühren.
»Nur, um das klarzustellen:«
Cat Noirs Stimme klang nicht mehr hart, aber eindringlich und bestimmt. »Auch ohne das Kind wäre ich nicht dazu bereit, dich wieder gehen zu lassen.
Trennung ist keine Option mehr!«
Marinette bekam Herzflattern - und sie konnte nicht genau sagen, ob es an seinen Worten oder an seiner Ausstrahlung lag.
Es war wieder einer dieser Momente, wie sie ihn mit Cat Noir schon ein paar Mal erlebt hatte.
Alles an ihm strahlte Bedrohlichkeit aus.
Die leise, eindringliche Art, wie er redet.
Die Anspannung seines Körpers, die sie überdeutlich spüren konnte, und die bei seinen Gesichtsmuskeln sogar sichtbar wurde.
Und das glühende Funkeln seiner grünen Augen.
Bei jeder anderen Person hätten nun ihre inneren Alarmglocken angeschlagen. All das hätte ihr Angst eingejagt.
Doch es war Cat Noir.
Ihr Cat Noir.
Sie wusste, dass diese düstere Ausstrahlung kein Widerspruch zu seiner Liebe zu ihr darstellte.
Im Gegenteil.
Die Festigkeit hinter seinem Griff, die Eindringlichkeit hinter seinem Blick und die Entschlossenheit hinter seinen Worten – all das war das genaue Gegenteil von Gleichgültigkeit.
Marinette bedeutete ihm mehr, als sie wagte, sich vorzustellen.
»Du hast mich noch immer in der Hand.«, redete er weiter, »Und ich nehme es dir noch immer übel, dass du meine Wünsche einfach so übergehst.
Aber was ich dir jetzt sage, ist nicht als Drohung gedacht.
Es ist nur eine Warnung.«
Marinette hatte Mühe, sich auf den Inhalt seiner Worte zu konzentrieren.
Als es ihr schließlich gelang, den kaum vorhandenen Abstand zwischen ihrem und Cat Noirs Körper in den Hintergrund ihrer Gedanken zu drängen, kam es bei ihr an.
Zu der flatternden Zuneigung, dem unterschwelligen Sorgen und der leichten Überforderung gesellte sich ein mulmiges Gefühl.
»Drohung« und »Warnung« waren nicht unbedingt die Begriffe, die sie gerade aus seinem Mund hören wollte.
Unpassenderweise kam ihr ein weiteres Mal der Gedanke, ihn mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen.
Es wäre ganz einfach. Sie waren sich bereits ganz nah und ihre Münder nur durch wenige Zentimeter Luft voneinander getrennt ...
Sie konnte sich beherrschen und wartete unruhig darauf, dass er weitersprach.
»Dein Verhalten sagt mir bereits ziemlich deutlich, dass du deine Meinung nicht geändert hast.
Bevor du mich also mit diesem Brief allein lässt, solltest du wissen, dass ich ...«, er stockte.
Aus welchem Grund konnte Marinette nicht sagen.
Womöglich war er unsicher mit der Formulierung. Oder er fürchtete sich davor, diese »Warnung« auszusprechen.
Schließlich ließ er den Satz unvollendet und begann von vorn.
»Wie gesagt: Ich will dir nicht drohen. Aber du solltest wissen, dass ich mir selbst hierbei misstraue.
Ich weiß nicht, was mit mir passiert, wenn du meine Hoffnung endgültig zerstörst.
Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich es schwarz auf weiß vor mir habe.«
Zum ersten Mal, seit er sie auf seinen Schoß gezogen hatte, brach Cat Noir den Blickkontakt ab.
Er sah zur Seite.
»Bei unserer Trennung habe ich es hinbekommen, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten, aber jetzt ...
Jetzt ist es etwas anderes.
Ich ... kann nicht mehr.«
Mit einer ruckartigen Bewegung hob er den Kopf und sah ihr - noch eindringlicher als zuvor - in die Augen.
Mit unnachgiebiger Stimme fügte er hinzu:
»Also wenn es dir bei all dem – diesem ganzen verdammten Identitätskram – tatsächlich nur darum geht, Paris zu beschützen, solltest du das mit bedenken.
Ich kann für nichts garantieren.«
Wenn Cat Noirs düstere Ausstrahlung nicht schon überzeugend genug gewesen wäre, hätte Marinette spätestens beim Gedanken an den Vortag die Tragweite seiner Aussage erkannt.
Sie glaubte nicht, dass er den Akuma gesehen hatte. Umso mehr beeindruckte sie seine Selbsteinschätzung.
Anscheinend war er sich bewusst, wie anfällig er gerade war.
In Marinettes Augen machte ihn das jedoch nicht schwach oder bemitleidenswert, sondern es beeindruckte sie.
Sie erkannte, dass nicht nur sie selbst an der Aufgabe als Miraculous-Trägerin gewachsen war.
Auch Cat Noir war seinem Alter voraus.
Auch aus ihm hatte die Verantwortung vorzeitig einen Erwachsenen gemacht.
Er war selbstreflektierter, gewissenhafter und besonnener, als sie es ihm bisher zugetraut hatte, und sie bedauerte, dass ihr das erst jetzt bewusst wurde.
Auch sie hatte Cat Noir nicht aufmerksam genug in die Augen gesehen, um die Tiefe seines Wesens zu erkennen.
Was war da noch, was sie nicht über ihn wusste?
Wie viel mehr von ihm existierte hinter dieser Maske?
Noch heftiger als zuvor flammte der Wunsch in ihr auf, das zu erfahren. Dabei ging es ihr nicht um seine Identität – seinen Namen, sein Gesicht oder seine Lebensumstände – sondern es ging ihr um den Teil von ihm, den selbst seine Familie und Freunde nicht kannten.
Sie wollte zu dem Menschen werden, der ihn besser kannte, als irgendjemand sonst; der ihn besser verstand als irgendjemand sonst.
Vielleicht war sie dieser Mensch bereits, doch es war ihr noch nicht genug.
Da war noch mehr.
Sie konnte es kaum erwarten, all diese verborgenen Seiten von ihm kennen und lieben zu lernen.
Marinette konnte nicht länger widerstehen.
Sie lehnte sich nach vorn, schloss die Augen und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Sie legte all ihre Liebe in diese kurze, viel zu flüchtige Berührung.
Und nicht nur ihre Liebe, sondern auch all die Worte, die sie ihm nicht sagen konnte.
»Es wird alles gut.«
»Wir können das schaffen.«
Und ein weiteres Mal: »Vertrau mir.«
Als sie die Augen wieder öffnete, erwiderte sie für einen Moment Cat Noirs Blick.
Dann sah sie hinab, wo ihre Hand mit dem Briefumschlag auf seiner Brust lag. Genau über seinem Herzen.
Sie spürte das Pochen durch seinen Anzug und das Papier hindurch, und sie hoffte, dass auch er ihren Herzschlag spüren würde, wenn er den Brief las.
Mit einer langsamen Bewegung erhob sie sich von seinem Schoß.
Cat Noir gab ihre Hüfte frei.
Er legte seine Hand anstelle ihrer auf den Brief, sodass sie sich vollständig von ihm lösen konnte.
Als sie bereits rückwärts zwei Schritte in Richtung Tür gemacht hatte, blitzte etwas in seinen Augen auf und er fragte: »Wie kann ich dich erreichen?«
Marinette lächelte ihm beruhigend zu.
Es war ein Abschied; ein qualvoller Abschied, bei dem es ihr ungeheuer schwerfiel, den Mund nicht aufzumachen.
Aber wenn Cat Noir die Erklärungen in dem Brief akzeptierte und genau wie sie an ihrer Beziehung festhalten wollte, würde es kein langer Abschied werden.
Sie hob die Hand und tippte auf Höhe ihres Herzens gegen ihre Brust.
Cat Noir verstand.
Der Brief, den er noch immer gegen seine Brust drückte, enthielt auch eine Anleitung, wie er sie erreichen konnte.
Das, und noch so viel mehr.
Obwohl ihn nichts davon abhielt, seine Stimme zu benutzen, sagte Cat Noir nichts mehr.
Ihr Blickkontakt brach erst ab, als Marinette die Wohnungstür hinter sich schloss.
Marinette eilte durch die Straßen von Paris.
Vor wenigen Minuten hatte sie ihren Rucksack aus dem Schließfach einer nahe gelegenen U-Bahn-Station geholt, ihre Jacke und Schuhe gewechselt und sich dann auf den Weg zu Alya gemacht.
Die Verabredung mit ihrer besten Freundin war heute einerseits Ausrede für ihre Eltern und andererseits Ablenkung.
Gerade jetzt, in dieser Sekunde, las Cat Noir den Brief.
Dieser Gedanke machte sie unruhig.
Richtig nervös.
Und das wiederum bestätigte ihr, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, währenddessen nicht bei ihm zu bleiben.
Sie hätte es nicht ausgehalten, seine direkte Reaktion mitzubekommen.
Sie wollte erst wieder auf ihn treffen, wenn er jedes Wort des Briefes gelesen und ausführlich darüber nachgedacht hatte.
Obwohl ihr Vertrauen in den Brief unverändert war, konnte Marinette nicht anders, als über Cat Noirs Bemerkung – seine Warnung - nachzudenken.
Sie ließ nicht zu, dass sie sich um ihn und einen möglichen Akuma Sorgen machte, doch sie musste sich eingestehen, dass sie am Vortag nur knapp einer riesigen Katastrophe entgangen waren.
Es war ihr nicht einmal ansatzweise das Ausmaß der potenziellen Folgen bewusst gewesen. Und hätte sie in dem Moment, als der Akuma aufgetaucht war, die Möglichkeit gehabt, die Zeit anzuhalten, hätte sie sich mit Sicherheit anders entschieden.
Sie hätte anders reagiert – mit dem Abnehmen der Maske und dem Aussprechen ihres echten Namens.
Jetzt im Nachhinein aber war sie froh darüber, wie es ausgegangen war.
Sie hielt es nach wie vor für besser, dass er ihre Identität nicht kannte. Doch sie musste zugeben, dass ihrem Bauchgefühle zu folgen, ohne noch einmal darüber nachzudenken, beinahe schief gegangen wäre.
Erst jetzt drang es vollständig bis zu ihr durch, wie tragisch die Situation hätte enden können: mit einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Cat Noir war nur so verzweifelt gewesen, weil sie seinen Wunsch nach Demaskierung ein weiteres Mal abgelehnt hatte.
Und ausgerechnet dadurch wäre er beinahe akumatisiert worden.
Nur weil sie eine Katastrophe verhindern wollte, hatte sie ihn abgewiesen, und dadurch wäre es beinahe zu genau dieser Katastrophe gekommen.
Wenn sie in diesem Moment darüber hätte nachzudenken können, wäre es ihr mit Sicherheit bewusst geworden. Sie hätte erkannt, dass es viel riskanter war, an ihrem Entschluss festzuhalten, als die Maske abzunehmen.
Und sie hätte anders gehandelt.
Aber sie hatte keine Zeit zum Nachdenken gehabt.
Die Entscheidung, mit einer Umarmung zu reagieren, hatte nicht ihr Verstand getroffen, sondern irgendein anderer Teil von ihr.
Selbst mit dem Akuma im Raum war etwas in ihr überzeugt davon gewesen, dass ihre Identitäten geheimbleiben mussten.
Während sie sich dem Haus näherte, in dem Alya mit ihrer Familie wohnte, versuchte Marinette ein weiteres Mal, diesen Teil ihres Kopfes zu ergründen.
Sie wusste genau, was alles für die Geheimhaltung sprach.
Sie wusste, warum ihr Verstand an diesem Standpunkt festhielt.
Sie wusste sogar, warum ihre Gefühle sie manchmal in diese Richtung drängten: aus Angst.
Aber warum wollte auch ihr Unterbewusstsein - ihre Intuition, ihr Bauchgefühl - verhindern, dass sie vor Cat Noir ihre Maske abnahm?
Selbst in so kritischen Momenten wie gestern ...
Als sie so darüber nachdachte, fielen ihr zahlreiche weitere Situationen ein, in denen eine Art »innere Stimme« sie davon abgehalten hatte.
Schon seit dem ersten Superheldeneinsatz mit Cat Noir hatte ihre Neugier sie immer mal wieder in Versuchung geführt.
Aber nie war sie schwach geworden.
Sie hatte es immer ihrem Pflichtbewusstsein zugeschrieben, und seit der Sache mit Cat Blanc hatte sie sogar ein klares Bild im Kopf, wozu ein Bruch der Miraculous-Regel führen konnte.
Doch mittlerweile glaubte sie nicht mehr, dass ausschließlich rationale, fassbare Gründe zu diesem Verhalten geführt hatten.
Dafür war es immer zu deutlich, zu klar und vor allem zu schnell gewesen.
Noch vor dem Nachdenken - noch bevor der Gedanke an die möglichen Folgen überhaupt bis zu ihrem Kopf hatte vordringen können – war sie vor einer Demaskierung zurückgeschreckt.
Sofort.
Jedes einzelne Mal.
Und selbst wenn starke, gegenteilige Gefühle im Spiel waren und ihr Kopf kurz davor stand, seine Meinung zu ändern, war dieser Reflex übermächtig.
Sie dachte an den Morgen nach ihrer gemeinsamen Nacht in der Wohnung. Cat Noirs Gesicht war unbedeckt gewesen und Tikki hatte sie darauf aufmerksam gemacht, bevor sie ihm hatte zu nahekommen können.
Der Anblick eines schlafenden, halb nackten Cat Noirs, die Nachwirkungen all seiner Berührungen und Küsse, ihr vor Liebe vernebeltes Hirn - selbst diese gefährliche Mischung hatte sie nicht übermütig werden lassen.
Obwohl sie sich in diesem Moment ohne Zweifel gewünscht hatte, seine Identität zu kennen, war sie vor ihm zurückgeschreckt.
Vorgestern, am Samstag, hatte sie statt mit Zurückschrecken mit Stillstand und Atem anhalten reagiert, aber darüber hinaus war der Unterschied nur minimal.
Seine Finger an ihrer Maske hatten sie sofort panisch werden lassen.
Eine reflexartige Reaktion.
Und dann natürlich die Situation am Sonntag, als sie ihre Kontrolle vollständig an diesen nicht fassbaren Teil ihres ... - ja, wo kamen diese Impulse überhaupt her? Aus ihrem Kopf? Ihrem Herzen? Oder ihrem Bauch? – verloren hatte.
Marinette stieg die Treppe zu Alyas Wohnung nach oben und versuchte, in der letzten ungestörten Minute ihre Gedanken an einen halbwegs zufriedenstellenden Punkt zu bringen.
Es gelang ihr nicht.
Stattdessen tauchte nun ein neuer Aspekt in ihrem Kopf auf: Cat Noirs ähnliche Erfahrungen.
Er hatte ihr erzählt, dass es ihm auch schon so ergangen war.
Auch er war mehr als einmal – entgegen seinem Wunsch und ohne all das Wissen, über das Marinette verfügte – vor dem letzten Schritt zurückgeschreckt, ohne es sich richtig erklären zu können.
Alya wartete bereits an der offenen Wohnungstür auf sie und als sie sich zur Begrüßung umarmten, flüchtete Marinette sich nur zu gern in das Treffen mit ihrer besten Freundin.
Vollständig verbannen konnte sie die ganze Sache aber nicht aus ihrem Kopf. Und so blitzte im Laufe des Abends immer mal wieder etwas zwischen ihren Gedankengängen zu ganz anderen Themen auf.
Eine wage Vermutung.
Eher ein Gefühl als ein klarer Gedanke.
Das Gefühl, dass Tikkis um diese »innere Barriere« wusste und sogar schon über sie gesprochen hatte.
Satzfetzen wie »richtiger Zeitpunkt für Informationen«, »entscheidend, dass es passt« und »Vertrauen in Kwami-Erfahrungen« huschten durch ihren Kopf, zusammen mit Tikkis ernstem, besorgtem Blick beim Thema »offenbarte Identitäten«.
Marinette ignorierte diese losen Gedankenenden.
Sie hatte ausführlich über das Thema nachgedacht, eine Entscheidung getroffen und alles im Brief an Cat Noir niedergeschrieben.
Es gab keinen Grund, warum sie sich weiter damit quälen sollte. Selbst die vergangenen zwanzig Minuten des Nachdenkens hatten sie kaum weitergebracht.
Es war genug.
Sie verstand nicht jedes Detail im Zusammenhang mit der Miraculous-Regel, aber ausreichend, um die Sache ruhen zu lassen.
Und Ruhe brauchte sie gerade dringender als präzise Antworten auf all ihre Fragen.
Ruhe und eine baldige Reaktion von Cat Noir.
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