10
Mit einer ruckartigen Bewegung erhob Marinette sich vom Sofa.
Ihr war schummrig – ob von Cat Noirs Worten oder dem schnellen Aufstehen, konnte sie nicht genau sagen - und einen Moment stand sie leicht schwankend da.
Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde die Angst in ihr größer, dass Cat Noir weiterredete.
Sie wollte das nicht!
Sie wollte ihn nicht von Masken und Identitäten reden hören.
Er sollte ihr wieder romantisch seine Liebe gestehen und sie dabei aus sanften Augen ansehen, wie gerade eben.
Dieses ernste und komplizierte Gespräch war das Letzte, was sie gerade wollte.
»Prinzessin ...«, hörte sie ihn mit ruhiger Stimme sagen.
Sie stürmte vorwärts.
Sie wusste nicht, was sie tun wollte – sich ins Bad flüchten, zu Cat Noir hingehen und ihm den Mund zuhalten oder etwas völlig anderes.
Doch sie musste auch nicht mehr darüber nachdenken, denn mit einem dumpfen Geräusch stieß ihr Knie gegen die Kante des Couchtisches und sie geriet ins Straucheln.
Sie musste ihre Lippen mit aller Macht aufeinanderpressen, um keinen Schmerzensschrei auszustoßen.
Mit beiden Händen umklammerte sie ihr Knie, während sie mit dem anderen Bein vorwärts hüpfte, um nicht zu stürzen.
Cat Noir war sofort bei ihr.
Er packte sie an den Oberarmen und stützte sie ab, sodass sie in einer behutsamen Bewegung zu Boden sank und sich setzen konnte.
Während der Schmerz in ihrem Knie langsam nachließ, saß er schräg hinter ihr und streichelte ihr tröstend über den Rücken.
»Gehts wieder?«, fragte er schließlich und sah ihr ins Gesicht.
Noch immer hatte Marinette die Lippen fest aufeinandergepresst, aber sie nickte.
»Du hattest es auf einmal ganz schön eilig.«, meinte Cat Noir und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Zu Marinettes Erleichterung kam er ihrer Maske dabei nicht zu nah.
Sie erwiderte seinen Blick und konnte ihm ansehen, dass er gleich weiterreden würde.
Ein schmerzendes Knie war für ihn anscheinend kein Grund, das Thema ruhen zu lassen.
Und auf einmal wusste Marinette, was sie tun konnte, um ihn davon abzuhalten.
Sein Gesicht ganz nah vor ihrem brachte sie auf diese Idee, genauso wie seine Schulter in ihrem Rücken und seine Hand in ihrer Taille.
Bereits gestern hatte sie ihn mit einem Kuss von seinen enttäuschen Gefühlen und Gedanken abgelenkt.
Warum sollte es heute nicht wieder funktionieren?
Sie drehte sich so weit zu ihm herum, wie es ihr möglich war, überwand den geringen Abstand zwischen ihren Mündern und küsste ihn.
Stürmisch und ohne jede Zurückhaltung.
Ihre Hände glitten seinen Hals hinauf bis zu seinem Gesicht und sie presste ihren Oberkörper an seinen.
Sofort vergaß sie, worüber er gerade hatte reden wollen, und sie glaubte zu spüren, dass es ihm genauso ging.
Zwischen ihnen waren nur noch seine anderen Worte.
Dass er sie liebte und für immer mit ihr verbunden sein wollte.
Marinette wollte Cat Noir am liebsten zu Boden drücken, um ihm noch näherkommen zu können, doch sein Oberkörper rührte sich unter ihrem Ansturm keinen Millimeter von der Stelle.
Wie ein Fels saß er vor ihr.
Also versuchte sie, sich stattdessen auf seinen Schoß zu ziehen. Aber auch das ließ er nicht zu.
Seine Hände hatten ihre Hüfte gepackt und hielten sie wie in einem Schraubstock.
Jetzt erst nahm Marinette deutlich den Unterschied zu ihren früheren Treffen wahr.
Sie konnte sich noch gut erinnern, mit welcher Kraft Cat Noir sie vor anderthalb Wochen im Schlafzimmer gegen den Türrahmen gepresst hatte.
Diesmal jedoch war sie nicht verwandelt und sie spürte, wie viel weniger ihr Körper ihm in diesem Zustand entgegenzusetzen hatte.
Gegen Cat Noirs Miraculous-Stärke war sie als Marinette absolut machtlos.
Und auch seine Schnelligkeit übertraf beinahe, was sie mit ihren normalen Sinnen wahrnehmen konnte.
Im Bruchteil einer Sekunde waren seine Hände nicht mehr an ihrer Hüfte, sondern in ihrem Rücken und auf ihrem Hinterkopf, und schon fand sie sich auf dem Boden liegend wieder, mit Cat Noir auf ihr.
Noch immer erwiderten seine Lippen den Kuss - mit der gleichen Heftigkeit, die Marinette vorgegeben hatte. Der harte Holzboden in ihrem Rücken war ihr deshalb vollkommen egal.
Sie genoss Cat Noirs Nähe und sogar sein Gewicht auf ihr.
Ihre Hände schienen sich in seinem Nacken und seinen Haaren regelrecht zu verirren, aber seine Hände waren dafür umso zielstrebiger.
Er hatte ihren Oberschenkel gepackt und zog ihn nach oben, bis er seitlich an seiner Hüfte lag.
Sein Griff war nun sogar noch fester als zuvor und es war beinahe mehr, als ihr zarter Körper aushielt.
Der Gedanke, dass sie von diesem Aufeinandertreffen vermutlich den ein oder anderen blauen Fleck davontragen würde, huschte durch ihren Kopf.
Das war ihr genauso egal wie der harte Boden.
Sie nahm den Schmerz wahr, doch sie hätte noch viel mehr in Kauf genommen, um von Cat Noir so gehalten und berührt zu werden.
Nun ließ er von ihrem Bein ab, schob seine Hände unter ihre Jacke und packte sie in der Taille. Seine Krallen gruben sich in ihre ungeschützte Haut.
Auch diesmal entschädigten seine Lippen sie für den Schmerz.
Genau in dem Augenblick, als sie das dachte, endete der Kuss gegen ihren Willen und sie konnte nur mit Mühe ein qualvolles Wimmern unterdrücken.
Sie öffnete die Augen und sah in Cat Noirs Gesicht, das knapp über ihrem hing.
»Soll ich mich zurückverwandeln?«, fragte er und seine raue, belegte Stimme passte zu seinem glühenden Blick.
Marinette nickte und schloss schnell die Augen.
Doch Cat Noir sprach die erwarteten Worte nicht aus.
Stattdessen kam er mit seinem Mund ihrem Ohr ganz nah.
Sein heißer Atem strich über ihren Hals und jagte eine Gänsehaut über ihren ganzen Körper.
Leise raunte er ihr zu: »Ich werde mich zurückverwandeln. Aber nur, wenn du mich dabei ansiehst und deine Maske ebenfalls abnimmst.«
Marinette riss erschrocken die Augen wieder auf.
Das Glühen war noch immer vorherrschend in Cat Noirs Blick, doch jetzt war da noch mehr.
Eine wilde Entschlossenheit.
Auf einen Schlag verschwand das wohlige Gefühl aus Marinettes Innern. Selbst ein Eimer mit kaltem Wasser hätte sie nicht derartig schnell abkühlen können.
Sie sah, wie ein erschrockener Zug auf Cat Noirs Gesicht auftauchte. Vermutlich, weil sie ihn nun voller Verärgerung anfunkelte.
Sie presste beide Hände gegen seine Brust, um ihn von sich zu schieben.
Ohne seine Beteiligung wäre ihr das unmöglich gewesen, doch er gab nach und ließ sich ungewöhnlich plump zur Seite fallen.
Sofort rappelte Marinette sich auf und erhob sich vom Boden.
Ein winziger Teil von ihr bedauerte das abrupte Ende ihrer romantischen Kollision, aber der Rest von ihr bereute lediglich, dass sie Cat Noir gerade keine wütende, verbale Reaktion an den Kopf werfen konnte.
Egal, wie verführerisch seine Lippen waren und egal, wie sehr sich ihr Körper gerade nach seinen Berührungen sehnte: Nach dieser Aktion brauchte sie erst einmal Abstand zu ihm.
Ihre Beine hatten sie bereits durch den halben Raum getragen, als hinter ihr wieder Cat Noirs Stimme ertönte.
»Komm schon! Lauf doch nicht einfach weg!«
Sein Tonfall klang unangemessen locker und kumpelhaft.
Sie drehte sich ruckartig zu ihm um.
Er hatte sich ebenfalls vom Boden erhoben und stand in einigen Metern vor ihr.
Ohne erkennbares Gefühl von Scham oder Schuld in seinem Blick sah er sie an.
»Das war doch nur Spaß!«, meinte er nun.
Marinette hätte ihm das gern geglaubt, doch sie kannte ihn zu gut.
Sie konnte ihm ansehen, dass er log.
Ihre Wut schwoll noch weiter an und sie musste ihre Lippen mit aller Macht aufeinanderpressen, um ihm keine gefühlsgeladene Erwiderung entgegenzuschleudern.
Der Kerl hatte echt Nerven!
Er hatte versucht, ihre Gefühle und ihr Verlangen gegen sie einzusetzen. Er hatte versucht, sie damit zu erpressen, um seinen Willen zu bekommen.
Und jetzt tat er auch noch so, als sei nichts passiert und log sie an?
»Jetzt schau nicht so finster.«, konnte er noch immer seine Klappe nicht halten.
Seine Stimme klang sanft, aber Marinette war meilenweit davon entfernt, sich davon einwickeln zu lassen. Und auch sein Blick, der nun einen leicht flehenden Unterton bekommen hatte, ließ sie kalt.
Sie war sich bewusst, dass auch sie selbst nicht gerade auf die beste Art mit ihm umgegangen war. Statt sich seine Gedanken zu dem Thema in Ruhe anzuhören, hatte sie sich auf ihn gestürzt und seinen Mund regelrecht mit ihren Lippen blockiert.
Trotzdem sah sie die Schuld gerade allein bei ihm.
Sie hatte nicht Cat Noirs Schwäche ausgenutzt, so wie er es bei ihr vorgehabt hatte.
Im Gegenteil. Sie hatte sich ihm hingegeben.
Er hätte alles mit ihr tun können, was er wollte.
An ihre Probleme und Differenzen hatte sie in diesem Moment keinen einzigen Gedanken verschwendet, sondern nur er hatte ihren Kopf und ihr Herz beherrscht.
Es war keine pure Selbstlosigkeit von Marinettes Seite gewesen, aber sie hatte dabei im gleichen Maß an sein Vergnügen gedacht, wie an ihr eigenes.
Er dagegen ....
Ihr fiel nur eine Sache ein, die sie noch tun konnte, außer ihn verärgert anzusehen: Verschwinden. Also drehte sie sich um und ging mit festen Schritten auf die Tür zu.
»Warte!« Sein Ausruf war der gleiche, wie am Vortag.
Ganz im Gegensatz zum Vortag hielt er sie diesmal jedoch nicht nur mit seiner Stimme vom Gehen ab.
Mit einem großen Satz war er zur Tür gesprungen und presste nun oberhalb ihres Kopfes seine Hand dagegen.
»Es ... tut mir leid.«, redete er erweiter. »Ich bin noch immer ziemlich überfordert von der ganzen Sache.«
Marinette fuhr wieder zu ihm herum und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
»Ach, und ich etwa nicht?«, pflaumte sie ihn stumm an. »Ich bin hier diejenige mit dem Kind im Bauch und dem Gefühlschaos im Kopf!«
Der schuldbewusste Ausdruck in seinen Augen machte es ihr mit jeder Sekunde schwerer, aber ganz so leicht wollte sie ihn nicht davonkommen lassen.
Sie ließ nicht zu, dass die Verärgerung aus ihrem Blick verschwand.
»Kannst du mich denn gar nicht verstehen?«, setzte er ihr mit seinen Worten weiter zu. »Ich will doch nur wissen, wer die Mutter meines Kindes ist. Ist das denn wirklich zu viel verlangt?«
Marinette schloss für einen Moment die Augen.
Sie wollte seine Ausreden nicht hören! Sie wollte gar nichts mehr aus seinem Mund hören.
Sie schnappte ihre Jacke und griff nach der Klinke. Cat Noir blockierte die Tür noch immer mit seinem Arm, trotzdem drückte sie die Klinke nach unten und zog entschieden daran.
»Bitte! Renn jetzt nicht davon!«, flehte er.
Marinette riss nur noch heftiger an der Tür, doch Cat Noir war viel zu stark, als dass sie dagegen ankommen konnte.
In den letzten zwei Minute hatte sie ihm beinahe ununterbrochen ihre Wut auf ihrem Gesicht und in ihren Augen gezeigt.
Jetzt jedoch wurde daraus ein richtiger Mörderblick.
Dass er sie nicht gehen lassen wollte, war beinahe genauso schlimm wie seine Erpressung.
Erst hatte er ihre Schwäche ausnutzen wollen und jetzt setzte er auch noch seine Stärke gegen sie ein.
Sie erkannte ihn gar nicht wieder und deswegen hatte sie auch kein Problem damit, ihm ebenfalls eine neue Seite von sich zu zeigen.
Eine unnachgiebige und erbarmungslose Seite, die immer dann in Aktion trat, wenn sie sich wie jetzt in die Ecke gedrängt fühlte.
Der Blick verfehlte seinen Zweck nicht.
Cat Noir wich einen Schritt zurück und gab die Tür frei.
»Bitte!«, flehte er noch einmal. »Lass uns darüber reden!«
»Zu spät.«, dachte Marinette. »Auf diese Art hättest du es versuchen sollen, bevor du dich wie ein Arschloch verhalten hast!«
Sie riss die Tür auf und verschwand nach draußen.
Sein letztes geflüstertes »Bitte...« hörte sie noch, dann fiel die Tür mit einem Krachen hinter ihr ins Schloss.
Zwei Sekunden lang blieb Marinette davor noch stehen.
Dann verdrängte sie die Vorstellung von Cat Noir, wie er mit gesenktem Kopf und hängenden Katzenohren auf der anderen Seite stand, und lief mit festen Schritten auf den Fahrstuhl am Ende des Ganges zu.
Sie kam nicht mehr dort an, denn ein furchtbarer Gedanke überfiel sie:
Ein gebrochener Cat Noir war ein gefundenes Fressen für Hawk Moth und seine Akumas.
Egal, wie wütend sie gerade auf ihn war: Sie durfte ihn nicht in dieser Verfassung zurücklassen.
Das war viel zu gefährlich.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte los, zurück zur Wohnungstür.
Ihr Herz schlug hart und schmerzhaft gegen die Innenseite ihrer Brust.
»Nicht so!«, dachte sie und hämmerte gegen die Tür, als würde ihr Leben davon abhängen.
Und vielleicht tat es das sogar.
Sie hatte es schon so viele Male selbst erlebt. Sie hatte gesehen, wie schnell es gehen konnte, dass ein Mensch verschwand und an seiner Stelle ein Superschurke auftauchte, der uneingeschränkt Hawk Moths Willem folgte.
Und sie war auch ihm schon begegnet.
Cat Blanc.
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