32
Mit Adrien durch das nächtliche Paris zu laufen, war für Marinette sogar noch schöner als die Modenschau zuvor.
Und das lag vor allem an seiner Offenheit.
Er hatte ihr an diesem Abend schon viele Komplimente gemacht, doch seine Offenheit berührte sie mehr als jeder Blick und jede Bemerkung von ihm.
Bei den meisten Menschen war er verschlossen und zurückhaltend, besonders in Gruppen hielt er sich mit Reden eher zurück.
Marinette war da schon immer eine der wenigen Ausnahmen gewesen - mit ihr allein war er überdurchschnittlich gesprächig.
Doch selbst diese früheren Gespräche waren nichts im Vergleich zu dieser Nacht.
Während sie langsam die pariser Straßen entlangspazierten, redete er beinahe ohne Unterbrechung.
Und Marinette: Sie genoss jede einzelne Sekunde davon.
Gelegentlich stelle sie eine Frage, doch die meiste Zeit redete er einfach immer weiter, während sie interessiert sein Gesicht beobachtete und den angenehmen Klang seiner Stimme genoss.
Sein Rededrang war der eindeutige Beweis: Er fühlte sich in ihrer Gegenwart unheimlich wohl und er vertraute ihr ohne Einschränkungen.
Er schien es kaum erwarten zu können, jede Menge Details seines Lebens mit ihr zu teilen, und sie nahm jedes einzelne davon wie ein kostbares Geschenk an.
Sie hatte gedacht, ihn schon zu kennen und alles über ihn zu wissen, was wichtig war.
Doch da war noch so vieles, wovon sie in dieser Nacht zum ersten Mal hörte.
Sie bekam dadurch eine Antwort auf eine Frage, die sie sich schon vor langer Zeit gestellt hatte: Wie war Adrien zu so einem tollen Menschen geworden?
Sie hatte immer vermutet, dass seine Mutter ihn zu diesem Menschen gemacht hatte und das bestätigte er ihr auch, als er ihr nun zum ersten Mal etwas mehr über sie erzählte.
Doch da waren noch mehr Personen, die ihn geprägt hatten, unter anderem Bernadette und die »Mädels«, die sie bei ihrem Gespräch mit Marinette erwähnt hatte.
Schon früh hatten Adriens Eltern alles getan, um ihn zu einem erfolgreichen Model auszubilden, und zu diesem Zweck hatten sie ihn bereits mit gerade einmal zehn Jahren in Sommercamps für Models angemeldet.
Dort war er nicht nur der Jüngste gewesen, sondern auch einer der wenigen männlichen Teilnehmer.
Bernadette war eines der älteren Mädchen gewesen, die sich ihm dort angenommen hatten.
Adriens Stimme klang besonders weich und er lächelte viel, wenn er von ihnen redete. Sie waren für ihn wie große Schwestern gewesen, die auf ihn aufgepasst hatten.
Und sie hatten ihm nicht nur das Verhalten als Model, das Flechten französischer Zöpfe und den Aufbau romantischer Komödien beigebracht, sondern auch, wie man sich Frauen gegenüber respektvoll verhielt.
Zumindest hörte Marinette das aus seinen Erzählungen heraus.
Es war die Erklärung, warum er so angenehm und selbstlos im Umgang mit Menschen war, obwohl er als Einzelkind wohlhabender Eltern aufgewachsen war und lange Zeit keine richtigen Freunde außer Chloé gehabt hatte.
Je mehr Adrien ihr über sich und sein Leben erzählte, desto besser verstand Marinette ihn, und desto liebevoller wurde auch der Blick, mit dem sie ihn ansah.
Schmerz und Freude, Verlust und Glück – er ließ nichts bei seinen Erzählungen aus.
Marinette verstand nun besser sein gespaltenes Verhältnis zu seiner Modelkarriere und auch die komplizierte Beziehung zu seinem Vater konnte sie zum ersten Mal richtig nachempfinden.
Wenn Adrien ihr von den Auseinandersetzungen mit seinem Vater erzählte, wollte sie ihn trösten.
Wenn er von seiner Mutter redete, wollte sie den traurig-schönen Ausdruck auf seinem Gesicht für immer in ihrem Gedächtnis speichern.
Und wenn er von seinen Zukunftsvorstellungen sprach, wollte ein Teil von ihr diese Zukunft an seiner Seite miterleben.
Hätte Tikki oder Alya oder sonst jemand Marinette in diesem Moment gefragt, ob sie noch – oder wieder – in Adrien verliebt war, hätte sie vermutlich mit »Ja.« geantwortet.
Wie sollte man einen Menschen wie ihn auch nicht lieben?
Selbst ohne seine Aussehen und ohne seinen Charme war da so vieles an ihm, was Marinette faszinierte und was sie noch viel genauer ergründen und am eigenen Leib erfahren wollte.
Als Adriens schließlich verstummte, war Marinette direkt ein wenig traurig. Sie hätte ihm noch stundenlang zuhören können.
Beinahe augenblicklich vermisste sie den Klang seiner Stimme und die Stille fühlte sich unschön an.
Doch dann blieb Adrien stehen und sah sie an.
Und dabei bemerkte sie erst, wie sehr sie es vermisst hatte, von seinen grünen Augen angesehen zu werden.
»Ich muss heute Abend eine furchtbare Gesellschaft sein.«, sagte er und verzog das Gesicht.
»Ich rede die ganze Zeit nur über mich. Und dabei habe ich das Privileg, mit dir unterwegs zu sein!«
Sie lächelte ihn an.
Sie hätte ihm nun sagen können, wie sehr sie seine Offenheit genossen hatte und dass er die beste Gesellschaft war, die sie sich wünschen konnte.
Doch stattdessen sah sie ihm nur tief in die Augen und versuchte es ihm mit ihrem Blick und ihrem sanften Lächeln klarzumachen.
»Du ... siehst mich schon wieder so an.«, sagte er mit gesenkter Stimme.
»Wie denn?«
Er schwieg einige Sekunden, bevor er antwortete.
»Als würdest du nicht mehr wollen, dass wir es langsam angehen.«
Zu ihrer eigenen Überraschung wurde Marinette diesmal kein bisschen Rot. Ein kleines Grinsen erschien in ihrem Mundwinkel.
»Bist du dir sicher, dass du nicht nur eine Projektion deiner eigenen Wünsche in meinen Augen siehst?«
»Das wäre sehr gut möglich.«
Er machte einen Schritt auf sie zu und Marinette rechnete schon damit, dass er sie wieder in seine Arme ziehen würde.
Doch er griff nur nach ihrer Hand.
»Wollen wir langsam umkehren oder möchtest du noch weiterlaufen?«, fragte er lächelnd.
Die Antwort fiel ihr nicht schwer.
»Ich will noch nicht zurück.«
Adrien holte sein Handy aus der Tasche, um die Uhrzeit zu kontrollieren.
»Wir haben auch noch Zeit, bis ich dich zurückbringen muss.«
»Na dann ...«
Marinette schloss ihre Hand fester um seine.
In der Nähe des Gebäudes, in dem die Modenschau stattgefunden hatte, waren die Straßen recht belebt gewesen.
Mit der Zeit waren Marinette und Adrien jedoch in deutlich ruhigere Seitenstraßen gelaufen, wo ihnen nur vereinzelt Menschen begegnet waren.
Nun änderte sich das Straßenbild ein weiteres Mal.
Sie näherten sich einem Ort in Paris, der an diesem Tag und um diese Uhrzeit zu Marinettes Überraschung noch voller Leben war: Der Rummelplatz.
Sie hatte ihn erst ein einziges Mal im geöffneten Zustand aus der Nähe gesehen, doch das war am Tag gewesen. In der Nacht verbreiteten die abertausenden bunten Lichter eine völlig andere Atmosphäre.
Und anscheinend war das so gewollt.
Statt Eltern mit ihren Kinder, waren es nun vor allem Paare und Freundesgruppen, die sich auf dem weitläufigen Gelände tummelten.
Es gab jede Menge Stände, an denen alkoholische Getränke angeboten wurden, eine Bühne mit Live-Musik und an vielen Ecken standen Tische, an denen man die Köstlichkeiten der verschiedenen Food-Trucks zu sich nehmen konnte.
Statt nach Zuckerwatte roch es nach frisch gebackenem Brot, gegrilltem Fleisch und leckeren Gewürzen.
Von den eigentlichen Attraktionen des Rummels waren nur einige wenige geöffnet, und als Marinettes Blick in einer unbeleuchteten Ecke auf das Trampolin fiel, musste sie gegen ein bedrückendes Gefühl ankämpfen.
Dort hatte sie Cat Noir zum ersten Mal geküsst.
Davor waren sie gelegentlich in der Nacht hier gewesen – als um sie herum alles dunkel und sie die einzigen Menschen weit und breit gewesen waren.
Marinette erinnerte sich noch gut an die Freude, die ihr das Springen auf dem Trampolin bereitet hatte, und was es für ein Gefühl gewesen war, auf dem Tuch zu liegen und in den Nachthimmel hinaufzusehen.
Nach dem Kuss waren sie nie wieder hierher gekommen.
Vermutlich hatte ihnen die Zeit gefehlt. Da war so vieles gewesen, was sie als Paar miteinander hatten machen wollen.
Zu viel für zu wenig gemeinsame Zeit.
Marinette riss ihren Blick von dem leeren Trampolin los und sah stattdessen zur Spitze des Riesenrades hinauf, das sich nach einem Halt gerade wieder langsam in Bewegung setzte.
Schon an ihrem ersten Abend mit Cat Noir auf dem Rummel hatte sie sich gewünscht, dort oben zu sein und auf die Stadt hinab zu sehen.
Aus irgendeinem Grund hatte sie sich jedoch nie mit ihrem Jo-Jo nach dort oben geschwungen. Es wäre ganz leicht gewesen und sie hatte viele Gelegenheiten dazu gehabt.
Doch sie hatte es vergessen.
Mit Cat Noir auf dem Trampolin zu sitzen, hatte ihr vollkommen ausgereicht.
»Würdest du gern mit dem Riesenrad fahren?«, fragte Adrien und riss sie damit aus ihren wehmütigen Gedanken.
Marinette wollte schon verneinen, als der glückliche Ausdruck auf seinem Gesicht sie davon abhielt.
Adrien schien es gar nicht erwarten zu können, ihr ihren vermeintlichen Wunsch zu erfüllen.
Und etwas in ihr wollte ihm diese Freude nicht nehmen.
Außerdem war da auf einmal ein Gefühl wie Trotz oder Auflehnung in ihrem Inneren.
Marinette wollte nicht zulassen, dass Cat Noir ihr an diesem Abend in irgendeiner Weise im Weg stand.
Er war dafür verantwortlich, dass sie nun hier war. Damit hatte er kein Recht, ihre angenehme Stimmung zu vermiesen!
Sie würde mit Adrien in dieses Riesenrad steigen, und sie würde ihm tief in die Augen sehen und sich mit ihm unterhalten und nur an ihn denken.
»Aber nur, wenn du auch Lust hast.«, antwortete sie endlich auf Adriens Frage.
Er lächelte sanft.
»Wenn du dabei bist, würde ich so ziemlich alles tun.«
Diese Bemerkung war schon wieder ein Verstoß gegen ihre Abmachung, es langsam anzugehen. Aber Marinette störte sich nicht daran.
Ganz im Gegenteil: Als sie Hand in Hand mit Adrien zum Riesenrad hinüberging, genoss sie den Effekt, den seine Worte, seine Blicke und sein Lächeln auf sie hatte.
Cat Noirs Präsenz verblasste und mit ihm das schmerzhafte, sehnsuchtsvolle Ziehen in ihrem Innern.
In dieser Situation hätte es das Versprechen wohl gar nicht mehr gebraucht, damit sie sich mit Haut und Haaren in das Date mit Adrien stürzte.
Sie mochte es, wie sie sich bei ihm fühlte.
Dass er sie vergessen ließ.
Und dass er sogar ganz langsam begann, ihr Hoffnungen zu machen.
Darauf, dass eine glückliche Zeit nach Cat Noir existierte.
Obwohl sie seit mehreren Stunden beinahe ununterbrochen zusammen gewesen waren, machte sich zwischen Marinette und Adrien auf einmal Verlegenheit breit, sobald sich die Tür der Gondel hinter ihnen geschlossen hatte.
Sie waren schon lange miteinander allein gewesen.
Aber nun waren sie allein in einer kleinen Riesenradgondel, deren leichtes Schaukeln ihre Körper nah aneinanderrutschen ließ.
Marinette sah in die Ferne und versuchte sich auf den Ausblick zu konzentrieren.
Doch Adriens Hand, die noch immer ihre umschlossen hielt, zog all ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Je höher sie stiegen, desto kälter wurde der Wind und desto deutlicher stach auch die Wärme seiner Haut hervor.
Und dann bewegte sich auf einmal sein Finger.
Ganz sacht strich sein Daumen über ihren Handrücken.
Marinette erschauderte und im gleichen Moment erinnerte sich die Haut auf ihren Handrücken an eine ganz ähnliche Berührung.
Von Cat Noir.
Ruckartig hob sie den Kopf und zum ersten Mal, seit sie in das Riesenrad gestiegen waren, sah sie Adrien in die Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und sie nickte hastig.
»Ist dir kalt?«, fragte er weiter und sie wollte schon den Kopf schütteln, hielt sich dann aber zurück.
»Ein bisschen.«, antwortete sie.
Sie rückte ein Stück näher an ihn heran, sodass sich ihre Beine und Schultern berührten.
Adrien nahm nun ihre beiden Hände in seine und hob sie langsam nach oben zu seinen Mund, um sie mit seinem Atem zu wärmen.
Währenddessen ließ er den Blickkontakt keine Sekunde abbrechen.
Marinette ließ zu, dass seine Augen alles in ihr ausfüllten.
Es war ein Gefühl, als würde er mit seinem Blick ihre Seele von Kummer befreien wollen.
Und es funktionierte ziemlich gut.
»Marinette?«, sagte er leise.
Er ließ ihre Hände wieder hinab auf ihren Schoß sinken.
»Sag es mir direkt, wenn ich damit aufhören soll, ja?«
»Womit aufhören?«
»Damit, es so schnell angehen zu lassen.«
Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Adrien fügte noch leise hinzu:
»Ich fürchte, wenn du mich nicht davon abhältst, werde ich mich nicht zusammenreißen können.«
Sie konnte sehen, wie er schwer schluckte. Und sein Blick flackerte.
»Dann tue es nicht.«, erwiderte sie, ihre Stimme nur noch ein Flüstern.
Sie lehnte sich zu ihm hinüber und Adriens Körper reagierte auf dieselbe Weise.
Auf einmal waren sie sich so nah, dass sein Atem über ihre Lippen strich und sie wärmte und zum Kribbeln brachte.
Und auch Adriens strahlend grünen Augen war Marinette so nah wie noch nie zuvor.
Beinahe schon verzweifelt versuchte sie, in ihnen zu versinken und alles andere zu vergessen.
Doch da war ein Gefühl.
Dass etwas an der Situation nicht stimmte.
Dass etwas daran falsch war.
Dass etwas fehlte - die schwarze Maske um die Augen.
Marinette schloss ihre Augen und näherte sich Adrien noch weiter, bis sie mit ihrer Stirn an seiner lag. Ihre Nasen berührten sich ganz leicht.
Und ihre Lippen waren nur noch einen Zentimeter voneinander entfernt.
»Bitte, Adrien, beweise mir, dass ich mich irre!«, bat sie ihn im Stummen.
»Beweise mir, dass meine Lippen nicht allein Cat Noir gehören!
Bitte mach den letzten Schritt - denn ich kann es nicht.«
Adrien erhörte ihr Flehen.
Er überwand die letzten Millimeter zwischen ihren Lippen und küsste sie.
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