30

Mit wild klopfendem Herzen öffnete Marinette die Haustür.
Adrien stand ihr gegenüber.
Er hatte bereits ein herzliches Lächeln auf den Lippen, doch als er sie erblickte, verrutschte es.
Mit leicht offen stehendem Mund sah er sie an.
Und er sah sie nicht einfach nur an. Seine grünen Augen wanderten über sie hinweg, und dabei blitzte etwas in ihnen auf.
Etwas wie Bewunderung oder Faszination. Und Überraschung.
Marinette spürte, wie sie rot wurde.
Dass er ihr Outfit wahrnahm, war nicht verwunderlich. Er kannte sich mit Mode aus.
Aber warum sah er auch ihr Gesicht auf diese Art an?
Warum fühlte es sich an, als wäre er nicht über ihr Styling überrascht, sondern über sie.
Als hätte er nicht erwartet, sie nun vor sich zu sehen.

Adrien sah ihr die Augen und das Lächeln breitete sich wieder auf seinem Gesicht aus.
»Hi.«, sagte er.
»Hi.«, erwiderte Marinette.
»Können wir los oder brauchst du noch einen Moment?«
»Ich bin fertig.«, antwortete sie, griff nach ihrer Jacke und zog sie an.
Sie war erleichtert, dafür den Blickkontakt mit Adrien unterbrechen zu können.
Wenn das so weiterging, würde der Tag eine größere Herausforderung werden, als erwartet.

Adrien hielt ihr die Beifahrertür des Wagens auf und überrascht stellte Marinette fest, dass sein Bodyguard nicht hinterm Steuer saß, wie sonst.
»Du fährst uns?«, fragte sie.
Er nickte.
»Es hat einige Überredung gekostet, aber ich konnte durchsetzen, dass mein Bodyguard heute Mal zu Hause bleibt.
Ich dachte mir, so ist es angenehmer, oder?«
Marinette nickte und stieg ein.
Dabei lächelte sie still in sich hinein.
»Verrätst du mir, warum du gerade lächelst?«, fragte Adrien neugierig.
Sie sah zu ihm auf und biss sich leicht auf die Unterlippe. Dann wurde ihr Lächeln zu einem Grinsen.
»Ich habe nur darüber nachgedacht, was das bedeutet.
Es bedeutet, dass ich heute dein Bodyguard sein muss! Heute ist es meine Aufgabe, dich vor Entführern und aufdringlichen Fans zu beschützen.«
Nun grinste Adrien ebenfalls.
»Du meinst das vielleicht als Scherz, aber so falsch ist das gar nicht. Meine Fans werden es bestimmt nicht wagen, meine Verabredung mit jemandem wie dir zu unterbrechen.
Und wenn die Entführer auch nur ein winziges Bisschen Herz haben, werden sie mich auch nicht ausgerechnet heute holen.«
»Jemandem wie mir?«, fragte Marinette, ohne vorher groß darüber nachgedacht zu haben.
Adriens Blick wurde eindringlicher.
»Jemand, der offensichtlich so etwas Besonderes ist, wie du.«
Er schloss die Tür und ging zur Fahrerseite hinüber.
Das ließ Marinette einige Sekunden Zeit, um tief durchzuatmen.

Adriens Bemerkung hatte sie an ihr Gespräch am Ausgang der Cafeteria erinnert. Wie er sie umarmt und ihr dabei jede Menge Komplimente zugeraunt hatte.
Was er in ihr sah. Wie besonders sie war. Was sie in seinen Augen alles verdiente.
Damals war es noch unangebracht gewesen, aber jetzt ...
Jetzt hielt ihn nichts mehr davon ab, ihr den gesamten Nachmittag und Abend solche Dinge zu sagen.

Die Modenschau war noch größer und großartiger, als Marinette es sich vorgestellt hatte.
Sie konnte sich gar nicht sattsehen: Weder an den Outfits der Models, noch an den anwesenden Personen, noch an der Gestaltung des riesigen Saales.
Und dann war da natürlich Adrien, der ihren Blick immer wieder mit seinen leuchtend grünen Augen einfing.
Er blieb die ganze Zeit an ihrer Seite und es fühlte sich einfach nur toll an. Sie spürte, dass er nicht annähernd so begeistert von all dem um sie herum war, wie sie. Aber ihre Begeisterung schien ihn zum Strahlen zu bringen und er wirkte rundum glücklich.
Immer wieder lehnte er sich zu ihr hinüber und raunte ihr etwas ins Ohr. Manchmal waren es ein kleiner, interessanter Hintergrundfakt zu den Models oder den Designern. Oder er machte sie auf etwas aufmerksam, das ihr bei den vielen Eindrücken womöglich entgangen wäre.
Und ganz vereinzelt war es auch eine Bemerkung zu ihr persönlich, die er ihr zuflüsterte.
»Dir würde dieses Kleid viel besser stehen.«
»Du darfst nicht so viel lächeln. Damit stiehlst du den Models die Show.«
»Ich glaube, niemand hier hat so einen hübschen Bodyguard, wie ich.«

Marinette ließ sich ganz und gar auf seine Gesellschaft ein.
Sie reagierte auf sein Flirten.
Mit lächelnden, eindringlichen Blicken. Mit ihrer Hand auf seinem Arm. Und mit ihrem Lachen, wenn er einen Witz machte.
Und zur Abwechslung war sogar ihr Gewissen ruhig.
Vielleicht lag es an der gelösten, bezaubernden Atmosphäre.
Oder ihr Herz hatte endlich begriffen, dass es in Ordnung war, von Adrien glücklich gemacht zu werden.

Ein Teil von Marinette begann sich immer deutlicher daran zu erinnern, wie es gewesen war, in ihn verliebt zu sein.
Und sie spürte, dass sie sich gerade mitten in einem ihrer früheren Tagträume befand. Nur, dass es die Realität war.
Dieser Tag hatte alles, was sie sich immer gewünscht hatte.
Und er war noch nicht zu Ende.
Als die Modenschau in die anschließende Cocktailparty überging, schlug Adrien einen abendlichen Spaziergang vor und Marinette gefiel der Gedanke.

Vorher ging sie jedoch noch einmal auf die Damentoilette. Und dort am Waschbecken traf sie auf eines der Model, das sie im Laufe des Tages kennengelernt hatte.
Soweit Marinette sich bei den vielen Namen und Gesichtern erinnern konnte, hieß sie Bernadette.
Sie sah aus, als wäre sie in ihren mittleren oder späten Zwanzigern, aber bei der Menge an Make-up, die sie trug, war das nur schwer zu sagen.
Sie war kurz nach ihrem Eintreffen im Gebäude auf sie zugestürmt gekommen und Adrien um den Hals gefallen.
»Adrien! Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen!«
Es war für Marinette einer der weniger schönen Momente des Nachmittages gewesen, aber schon in der folgenden Minute hatte Bernadettes überschwängliche Herzlichkeit sie für sich eingenommen.
Wie ein Wasserfall hatte sie auf Adrien und Marinette eingeredet und dabei war klar geworden, dass Adrien ihr ehrlich am Herzen lag, aber auf rein freundschaftliche Art.
Sie hatte eher wie eine stolze, große Schwester geklungen, als sie davon gesprochen hatte, wie groß und erwachsen er geworden war.
Und auch als sie ihn neugierig nach der »Schönheit« gefragt hatte, mit der er unterwegs war, hatte rein freudiges Interesse in ihren eisblauen Augen gestanden.
Deshalb war es Marinette nur ein kleines Bisschen unangenehm, als das Model sie am Waschbecken der Damentoilette mit einem strahlenden Lächeln ansprach.

»Marinette, richtig?«
Sie nickte und erwiderte das Lächeln.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es mich vorhin gefreut hat, dich an Adriens Seite zu sehen – vor allem, bei dem Strahlen auf seinem Gesicht!«
Bernadette zwinkerte ihr zu und Marinette bekam – wieder einmal – gerötete Wangen.
»Ich hatte schon gehört, dass endlich jemand geschafft haben soll, ihn für sich zu gewinnen. Aber ich musste es erst mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.
Ich meine, er hat sich ziemlich lang rar gemacht, und das, obwohl es ihm nie an Anwärterinnen gefehlt hat.«
Sie warf Marinette einen kurzen Blick zu.
»Na, das muss ich dir bestimmt nicht sagen. Du weißt ja, wie charmant er ist. Und dann noch das süße Lächeln und die Haare ... «
Marinette kam gar nicht dazu, in irgendeiner Weise darauf zu reagieren, denn da hatte Bernadette sich schon wieder ihrem Spiegelbild zugewandt und plapperte weiter.
»Jedenfalls haben wir - also die Mädels und ich - uns schon langsam Sorgen um ihn gemacht.
Es gab nicht nur unter uns Models jede Menge Gerüchte, warum er noch auf dem Markt war. Aber selbst an männlichen Bewerbern hat es für ihn nie gemangelt, und Probleme beim Reden mit Mädchen hatte er auch nie.
Meine Theorie war ja immer, dass er schon längst auf ein bestimmtes Mädchen festgelegt war.
Ich meine: Er ist eindeutig ein hoffnungsloser Romantiker. Wie er am Ende von Titanic geheult hat ...«
Für zwei Sekunden schien Bernadette in einer Erinnerung festzuhängen, dann redete sie sofort weiter.
»Es gab auch mal diese eine Visagistin – wie hieß sie noch? Betty? Oder Peggy? - die hat jedenfalls behauptet, dass sie mal etwas mit ihm gehabt hätte. Aber es kam schnell heraus, dass sie nur eine kleine Wichtigtuerin war.
Als Naomi mir dann erzählt hat, dass sie bei dem Fotoshooting letzten Monat »glücklich verliebte Schwingungen« bei ihm aufgefangen hat, hab ich es erst auf die neuen Präparate geschoben, die sie nimmt.
Aber anscheinend hatte sie recht.
Verrätst du mir, wie lange ihr euch schon kennt?
Ich hab ja immer noch die Hoffnung, dass meine Theorie stimmt und er der »Eine oder keine«-Typ ist.«
Mit ihren großen, eisblauen Augen sah Bernadette sie an und erwartete eine Antwort.
Marinette war so überfordert, dass sie vollkommen ehrlich auf ihre Frage antwortete: »Wir gehen in dieselbe Klasse.«
»Na das passt doch!«, sagte ihr Gegenüber und strahlte übers ganze Gesicht.
»Verrätst du mir, wie du das gemacht hast? Wie hast du ihm so lange Zeit widerstehen können? Gibt es da irgendeinen Trick?
Wenn ja, musst du ihn mir unbedingt verraten. Mich muss ein süßer Typ nur für ein paar Sekunden nett anlächeln, damit ich ihm verfalle. Und bisher war noch nicht einer dabei, der auch nur ansatzweise so ein guter Fang gewesen wäre, wie Adrien.«
Bernadette seufzte leise auf.
»Solche wie er sind leider viel zu selten. Ich wünschte, jemand würde mal für mich reihenweise Models und weibliche Fans stehen lassen ...«
Marinette senkte verlegen den Blick.
Nicht, weil Adrien getan hatte, wovon Bernadette da redete.
Sondern weil diese Modenschau ihr erstes Date war und er vor einem Monat noch mit einem anderen Mädchen zusammen gewesen war.
Ein Mädchen, in das er – wie Marinette von dem belauschten Gespräch mit Nino wusste – lange Zeit und bis über beide Ohren verliebt gewesen war.
»Hey, Schätzchen!«
Bernadette hatte einen mitleidigen Blick aufgesetzt.
Überraschenderweise hatte sie Marinettes Reaktion mitbekommen.
»Du musst dich doch deswegen nicht schlecht fühlen!
Los! Ich will wieder dein umwerfendes Lächeln sehen!
Vergiss mein dummes Gejammer. Ich finde schon noch jemanden, der mich auf die gleiche Weise ansieht, wie Adrien dich.«
Ihr Lächeln war wieder von solch überwältigender Herzlichkeit, dass Marinette gar nicht anders konnte, als es zu erwidern.

Trotzdem fragte sie sich, ob Bernadette ihre letzte Bemerkung nur so dahingesagt hatte, oder ob etwas dahinter stand.
War ihr tatsächlich etwas an Adriens Blick aufgefallen?
Sah er Marinette so interessiert an, wie es sich für sie selbst anfühlte?
Sie wusste noch immer nicht, wie viel Zeit seit seiner Trennung von seiner Freundin vergangen war, aber sehr lang konnte es noch nicht her sein.
Marinette war sich bewusst, dass sie selbst darüber am allerwenigsten urteilen durfte, aber eben weil sie in einer ähnlichen Situation war, machte sie sich nun leichte Sorgen.
Warum war Adrien schon so bald nach seiner Trennung auf sie zugekommen?
Hatte er ernsthaftes Interesse oder suchte er vielleicht doch nur Ablenkung?

»Entschuldige, bitte.«, redete Bernadette weiter.
»Ich quatsche dir hier die Ohren voll, dabei willst du nur so schnell wie möglich wieder zu Adrien, hab ich recht?«
Sie lächelte entschuldigend und holte dann ihr Handy aus ihrer Handtasche.
»Darf ich noch schnell ein Foto mit dir machen?«
»Ein Foto?«, fragte Marinette verwirrt.
»Für die Mädels.«, antwortete Bernatte, zog sie an sich und lächelte breit in die Handykamera.
Aus Reflex verzog sich auch Marinettes Mund und schon war das Foto geschossen.
Bernadettes Rededrang schien aber noch immer kein Ende gefunden zu haben.
»Ich will dir ja keine Angst machen,«, sagte sie und verstaute ihr Handy, »aber nach heute Abend wirst du eine kleine Berühmtheit sein. Die Fotos von dir und Adrien werden in den nächsten Tagen als Premium-Tratsch in der Branche rumgehen.
Und ohne das Beweisfoto würden mir die Mädels niemals glauben, dass ich sogar mit dir geredet habe.«
Marinette begann langsam der Schädel zu brummen von Bernadettes aufgedrehter Art und dem Tempo, in dem sie redete.
Sie sehnte sich tatsächlich danach, wieder bei Adrien zu sein.
»Keine Sorge. Sie werden sich alle freuen und dir nur die nettesten Gefühle entgegenbringe - mit Ausnahme von Neid, vielleicht.
Aber zumindest bei den älteren Mädels wie mir musst du dir keine Gedanken um so was machen. Wer in Adriens traurige, grüne Augen so ein glückliches Strahlen zaubern kann wie du, ist uns herzlich willkommen!«
»Danke.«, sagte Marinette und lächelte zurückhaltend.
Dann endlich machte Bernadette einen Schritt in Richtung Ausgang.
»Hat mich sehr gefreut, Marinette!«
»Mich auch.«
Schwungvoll stieß Bernadette die Tür auf und rauschte nach draußen.
Und endlich konnte Marinette tief durchatmen.
Gegen die bohrenden Gedanken half das aber leider nichts.

Eine Frage hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt:
Was für ein Typ war Adrien in Wahrheit?
Der »Eine oder keine«-Typ, wie Bernadette es vermutet hatte?
Das würde auch zu den Dingen passen, die er bei seinem Gespräch mit Nino gesagt hatte; dass er niemals aufhören würde, dieses andere Mädchen zu lieben.
Oder hatte sich sein Interesse tatsächlich auf Marinette verlagert?
Und da ihr Kopf einmal dabei war, machte er gleich noch eine weitere Schublade auf, mit einem ganz ähnlichem Inhalt: Marinettes eigene Position in all dem.
War sie mit ihren flirtenden Blicken aufrichtig?
Oder war sie vielleicht doch eher der »Cat Noir oder keiner«-Typ?

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