27

Es war ein ungewöhnliches Gefühlsgemisch, das Marinette befiel, als sie von Adrien die Treppe im Schulfoyer hinabgeleitet wurde.
Einerseits war da ein schlechtes Gewissen.
Es fühlte sich völlig falsch an, ihm so nah zu sein.
Als würde sie Cat Noir damit betrügen.
Auf der anderen Seite wusste sie, dass es genau seinem Wunsch entsprach und sie keinen Grund hatte, sich deshalb schlecht zu fühlen.
Eine Annäherung hatte sie ihm sogar versprochen und auch wenn sie in diesem konkreten Fall nichts Bewusstes dafür getan hatte, konnte sie direkt ein wenig stolz auf sich sein.
Nicht nur war die Angespanntheit zwischen ihr und Adrien ausgeräumt. Er fuhr sie nun sogar nach Hause.
Und: Er war ihr so nah, wie schon lange nicht mehr.
Wenn das kein Erfolg war ...

Etwa auf halber Höhe der Treppe fing Adrien wieder an zu sprechen.
»Da du ja jetzt keinen Zeitdruck mehr hast und wir sowieso die nächsten Minuten gemeinsam verbringen,«, interessiert hörte Marinette ihm zu, sie war ihm dankbar für diese willkommene Ablenkung, »haben wir ja doch noch die Möglichkeit, uns zu unterhalten.«, beendete er den Satz.
Augenblicklich zog Marinette ihre Dankbarkeit zurück.
Auf ein klärendes »Wie-das-jetzt-zwischen-uns-wird«-Gespräch hatte sie noch viel weniger Lust, als auf Schweigen.
Doch zu ihrer Erleichterung wollte Adrien auf etwas ganz anderes hinaus.
»Verrätst du mir, wofür du den Hausarrest bekommen hast?«
Neugierig sah er sie von der Seite an.
»Warum interessiert dich das?«, wich sie der Frage mit einer Gegenfrage aus.
»Naja, weder du noch deine Eltern wirken wie die typischen Kandidaten für Hausarrest.
Also sag schon: Was hast du angestellt?«
»Nichts Besonderes. Ich hab ihnen nur nicht gesagt, dass ich unterwegs war, während sie den ganzen Abend im Theater waren.«
»Und wo warst du?«
»Das«, sie hielt kurz inne, um ihn geheimnisvoll anzugrinsen, »werde ich dir vielleicht bei unserem zehnjährigen Klassentreffen verraten.
Erinnere mich ruhig daran.«
»Jetzt machst du mich noch neugieriger. Verrätst du es mir wirklich nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du weißt aber schon, dass ich mir jetzt viel schockierendere Dinge vorstellen werde, als die Realität, oder?«
Marinette grinste nur vielsagend und dachte: »Diese Wette würdest du verlieren.«

Als sie endlich draußen auf der Straße angekommen waren, kam Alya mit einem besorgten Gesichtsausdruck auf sie zugelaufen.
Sie hatte noch mit einigen ihrer Mitschüler auf dem Bürgersteig gestanden und sich unterhalten.
»Was ist passiert?«
Sie sah zwischen Adrien und ihrer besten Freundin hin und her.
»Adrien wollte mich die Treppe runterschubsen.«, antworte Marinette trocken.
Empört rief er aus: »Hey!«
Schon wieder – zum dritten Mal in den letzten zehn Minuten – musste Marinette grinsen.
Lag das tatsächlich nur an Adriens Gegenwart oder waren ihre Gefühlsrezeptoren bei all dem Chaos durchgebrannt?

»Ich bin nur blöd gestürzt und habe mir den Knöchel verdreht.«, gab sie Alya schließlich eine ernst gemeinte Antwort.
»Und was hattest du damit zu tun?«
Alya sah Adrien an - etwas zu vorwurfsvoll für den Anlass.
»Er hat nur angeboten, mich nach Hause zu fahren. Damit ich nicht zu spät komme.«
»Naja, genau genommen hatte ich auch eine Mitschuld daran, dass du gestürzt bist.«
Marinette wollte ihn noch mit einem Blick davon abhalten, doch es war schon zu spät.
Er hatte es ausgesprochen.
Alyas Augen verengten sich und sie musterte ihn mit unverhohlener Feindseligkeit.
»Und da glaubst du, dass ich dich alleine mit ihr in ein Auto steigen lasse? Nachdem du ihren Knöchel zertrümmert hast?«
Sie wirkte plötzlich wie eine wilde Löwenmama, die ihr Kind verteidigte.
Marinette bekam direkt Mitleid mit Adrien.
Alyas Ablehnung gegen ihn war nicht ganz unbegründet - erst recht nach den neuen Informationen, die Marinette ihr heute zu diesem Thema mitgeteilt hatte. Trotzdem hatte Adrien das nicht verdient.
Ja, er war nicht unbedingt auf die sensibelste und anständigste Art mit Marinette umgegangen, aber direkt falsch gemacht, hatte er auch nie etwas. Und heute erst recht nicht.

»Schon gut, Alya.«
Sie lächelte ihre Freundin besänftigend an.
»Wenn er mich nicht fährt, komme ich zu spät nach Hause. Und dann werden meine Eltern den Hausarrest bis in den Sommer verlängern.«
Sie wollte sich wieder in Bewegung setzen, doch Adrien rührte sich nicht und lehnte sich stattdessen zu Alya hinüber – als wäre sie ihn nicht eben erst so unhöflich angegangen.
»Diesen Hausarrest ...«, sagte er, »Wofür hat Marinette den noch mal bekommen?«
Trotz ihres schmerzenden Knöchels packte Marinette ihn am Arm und zog ihn in Richtung Auto davon.
»Netter Versuch!«, sagte sie.
Dann warf sie Alya über die Schulter noch ein Lächeln zu und sagte ihr per Handgeste, dass sie sie später anrufen würde.
Als sie endlich im Inneren des Wagens angekommen war, atmete sie erleichtert auf.

In den vergangenen Tagen war Alyas Ablehnung gegen Adrien kein Problem gewesen.
Aber wenn Marinette sich ihm tatsächlich wieder annähern würde: Wie würde Alya darauf reagieren?
Es stimmte, dass Marinettes Leben ohne die Beziehung mit Cat Noir deutlicher unkomplizierter sein würde. Aber einfach war es deshalb trotzdem nicht.
Sie war noch immer ein siebzehnjähriges Mädchen in ihrem Abschlussjahr. Und gerade jetzt saß sie im Auto neben ihrem Ex-Schwarm, der neuerdings nicht nur der Erzfeind ihrer besten Freundin war, sondern auch noch eine verwirrende Art hatte, mit ihr umzugehen.
Und nicht zu vergessen: Dem sie auf möglichst würdevolle Art und Weise klarmachen musste, dass sie - eventuell - an einer Beziehung mit ihm interessiert war, um das Versprechen an ihren Superhelden-Ex-Freund zu halten.
Es wurde wirklich Zeit, dass dieses Jahr zu Ende ging.
Neues Jahr, neues Glück. So hieß es doch immer.
Und noch seltsamer, ungewöhnlicher und verwirrend konnte es doch gar nicht werden, oder?

Nach einer schweigsamen Fahrt hielt das Auto vor der Dupain-Cheng-Bäckerei.
Marinette verabschiedete sich hastig und wollte nach draußen springen, aber Adrien bestand darauf, sie bis zur Tür zu bringen.
Schon wieder hielt er sie am Arm fest, um sie zu stützen.
Als sie auf diese Art die Bäckerei betraten, lagen sofort die überraschten Blicke von Marinettes Eltern auf ihnen.
Marinette war sich nicht sicher, was ihre Aufmerksamkeit mehr auf sich zog: Das Hinken ihrer Tochter oder der blonde Junge, der an ihrem Arm hing.
»Adrien! Schön, dich mal wieder zu sehen!«, sagte ihre Mutter und kam mit einem strahlenden Lächeln auf sie zu.
Dann – erst dann – fragte sie: »Marinette, was ist passiert? Hast du dir den Fuß verletzt?«
»Ich bin gestolpert und hab mir den Knöchel verdreht. Nichts Schlimmes.«
»Schon wieder? Du bist doch erst am Wochenende die Treppe runter gestürzt, als du -«, Marinette gelang es gerade noch rechtzeitig, sie mit einem Blick zum Schweigen zu bringen.

»Vielen Dank, dass du sie nach Hause gebracht hast!«, wandte ihre Mutter sich wieder an Adrien.
»Keine Ursache.«
»Dürfen wir dir etwas anbieten? Ein paar Macarons?«
»Gern. Vielen Dank.«
Während ihre Mutter eine Gebäckschachtel hinter der Theke hervorholte, wandte Adrien sich an Marinette.
»Du musst doch bestimmt nach oben in die Wohnung. Ich helf dir noch die Treppe rauf.«
»Nein, schon ok.«, wehrte sie ab. »Ich schaff das. Jetzt hab ich doch keinen Zeitdruck mehr.«
Er kniff die Augen leicht zusammen und sah sie eindringlich an.
»Wenn du sogar schon ohne verletzten Knöchel die Treppe runterstürzt, kann ich dieses Risiko unmöglich eingehen.«
»Wir wären dir wirklich sehr dankbar, wenn du sie noch nach oben bringst.«, mischte sich Marinettes Mutter ein.
»Wir erwarten jeden Moment die Abholung einer großen Bestellung und können deshalb beide nicht hier weg.«

Marinette war machtlos.
Also blieb Adrien an ihrer Seite, während sie die vielen Stufen bis zur Wohnung nach oben humpelte.
Dort angekommen ließ er endlich ihren Arm los und sie hatte schon die Hoffnung, dass er nun verschwinden würde, doch stattdessen ging er zielstrebig auf den Gefrierschrank in der Küche zu.
»Habt ihr so etwas wie einen Kühlakku? Für deinen Knöchel?«
»Oberste Schublade«, antwortete sie, sich ihrem Schicksal ergebend, und hüpfte in Richtung der Treppe, die zu ihrem Zimmer hinaufführte.
Als Adrien wieder zu ihr kam, hielt sie sich am Treppengeländer fest.
Der Aufsteig war selbst mit seiner Hilfe anstrengender gewesen, als erwartet.
»Ich kann dich auch noch hoch in dein Zimmer bringen.«, bot er an und hielt ihr den Kühlakku entgegen.
»Das musst du nicht. Ich hab dich schon viel zu lang aufgehalten.«
Er zuckte mit den Schultern und erwiderte: »Ich hab es nicht eilig.«
Schon wollte er wieder nach ihrem Arm greifen, doch sie wich ihm aus.
»Wirklich, du kannst ruhig gehen. Ich wollte sowieso noch hier unten bleiben.«
Seine grünen Augen musterten sie aufmerksam und ein kleines Lächeln erschien in seinem Mundwinkel.
»Ist da oben irgendetwas, das ich nicht sehen soll?«, fragte er und lehnte sich zu ihr hinüber.
»Dann hilf mir halt nach oben ...«, sagte sie statt einer Antwort und verdreht die Augen.
Sie zog sich die erste Stufe hinauf und schon war Adrien wieder an ihrer Seite, um sie zu stützen.
»Du solltest wirklich mal lernen, wie man erkennt, dass man sich gerade aufdrängt.«, bemerkte sie mit einem Seitenblick. »Das sollte man in deinem Alter eigentlich schon können.«
»Und in deinem Alter sollte man schon gelernt haben, wie das mit dem Laufen funktioniert. Aber es kann ja niemand in allem perfekt sein.«
Er grinste sie an und obwohl sie es so gar nicht wollte, konnte auch Marinette sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

Marinette wollte, dass Adrien endlich ging, doch auch in ihrem Zimmer angekommen, machte er keinerlei Anstalten in diese Richtung.
Stattdessen sah er sich neugierig um.
»Hier ist ja immer noch alles rosa.«, bemerkte er.
Seiner Stimme war nicht anzuhören, ob das eine wertende Bemerkung gewesen war, oder nur ein Satz, um die Stille zu füllen.
»Ist dein schlechtes Gewissen jetzt beruhigt?«, fragte Marinette und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken.
»Ich bin rechtzeitig zu Hause gewesen, befinde mich in meinem Zimmer und habe einen Kühlakku für meinen Knöchel.
Bis auf eine heiße Schokolade bin ich mit allem versorgt, was ich mir wünschen kann.«
»Ich kann dir auch noch eine heiße Schokolade machen, wenn du das willst.«
Adrien wandte sich zu ihr um und lächelte sie an.
»Du müsstest mir nur verraten, wo ich in der Küche die Zutaten dafür finde.«
Sie erwiderte zurückhaltend sein Lächeln und sagte mit ruhiger Bestimmtheit in der Stimme: »Du kannst jetzt wirklich gehen, Adrien.«

Sein Blick wurde schuldbewusst und er senkte den Kopf.
»Tut mir leid. Du hast ja gerade erst gesagt, dass ich mich nicht aufdrängen soll.
Es ist nur ... Ich habe gerade keine große Lust, zu Hause zu sein.
Oder allein.«
Der verletzliche Ausdruck auf seinem Gesicht ließ Marinette sofort weich werden.
Jegliche Genervtheit verschwand.
»Das war nicht so gemeint, dass ich dich rausschmeißen will. Du kannst gern noch ein wenig hierbleiben, wenn du willst.«
»Das ist nett von dir. Aber du hast recht.
Ich sollte jetzt gehen.«
Er machte einen Schritt in Richtung der Bodenluke und Marinette seufzte. »Jetzt mach es doch nicht so kompliziert.
Wenn ich sage, dass du hierbleiben kannst, dann meine ich das auch so.
Ich muss noch lernen und Hausaufgaben machen, aber wenn du nicht nach Hause willst und du keine Probleme deswegen bekommst, kannst du dich ruhig hier hinsetzen. Oder du spielst etwas auf meinem Computer.
Wie du willst.«
»Und das wäre wirklich in Ordnung für dich?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Klar. Wir sind doch Freunde.«

Erst als sie den Satz ausgesprochen hatte, fiel es ihr auf: Das Gleiche hatte Adrien bei ihrem letzten längeren Gespräch gesagt - am Ausgang der Cafeteria, nachdem er sie unpassenderweise getröstet und umarmt hatte.
Damals hatte Marinette widersprochen und gemeint, dass sie nicht irgendeine Freundin sei.
In Adriens Augen glaubte sie nun zu erkennen, dass er ebenfalls an diese Situation denken musste.
Und sie erwartete, dass er ihr Angebot nun ablehnen würde.
Eben weil ihre Freundschaft nicht ganz unkompliziert war - und weil er eine feste Freundin hatte.
Doch zu ihrer Überraschung lächelte er und sagte stattdessen: »Dann hol ich mal meine Schulsachen aus dem Auto und sage meinem Bodyguard bescheid. Ich muss auch noch lernen.«
Er verschwand durch die Bodenluke und ließ Marinette mit leichter Verwirrung zurück.

Tikki kam einen Moment später aus ihrer Tasche geflogen und sah sie aufmerksam an.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Meinst du meinen Knöchel oder mein Gefühlsleben?«
»Beides.
Bei Ersterem würde mich interessieren, ob du ihn dir tatsächlich verdreht hast.«
»Was?«
»Naja, es war doch schon ganz schön praktisch, dass du dir ausgerechnet heute wehgetan hast, sodass du nicht mehr richtig laufen kannst – und dann auch noch vor Adrien.
Das hätte man ja gar nicht besser planen können.«
»Tikki!«, Marinette war ehrlich schockierte über diese Anschuldigung ihres Kwamis.
»Du solltest mich mittlerweile besser kennen! Außerdem hatte ich dir gesagt, dass ich die Sache mit Adrien heute noch nicht angehen wollte.
Das war einfach nur Pech.«
»Oder eben Glück. Cat Noir wäre bestimmt stolz, wenn er euch beide hier sehen würde.«
Marinette sank ein Stück in sich zusammen.
»Erwähne ihn nicht! Ich fühl mich schon schlecht genug.«
»Tut mir leid.«, sagte Tikki kleinlaut. »Ich war nur so froh, dass die Sache mit dem Versprechen so gut läuft.
Und ich hatte den Eindruck, dass Adrien ziemlich gut darin ist, dich abzulenken.«
»Ist er ja auch. Aber es fühlt sich trotzdem falsch an.«
»Das ist es nicht! Daran ist gar nichts falsch.
Etwas Besseres kannst du gar nicht tun. Vergiss das nicht.«
»Ich versuchs.«
Auf der Treppe waren Schritte zu hören und Tikki verschwand wieder.
Adrien erschien und lächelte Marinette an.
»Sag mir bitte sofort Bescheid, wenn ich dich störe, ja?«
Sie nickte und wandte sich ihren Schulsachen zu.
Adrien nahm auf ihrem Sofa platz und packte ebenfalls seine Hefter und Bücher aus.

In der nächsten Stunde lernten sie beide parallel und keiner von ihnen sagte ein Wort.
Immer mal wieder sah Marinette zu Adrien hinüber.
Es war ein ungewohntes Gefühl, ihn dort in ihrem Zimmer sitzen zu sehen. Und immer wieder musste sie sich selbst an das erinnern, was Tikki gesagt hatte.
Es war in Ordnung, dass er hier war – zumindest von ihrer Seite.
Aber was war mit ihm?
Warum war er hier?
Warum wollte er nicht nach Hause? Warum wollte er nicht allein sein?
Und warum hatte er kein Problem damit, im Zimmer des Mädchens zu sein, das so lange Zeit in ihn verliebt gewesen war?
Plötzlich hob er den Kopf und ertappte sie dabei, wie sie ihn ansah.
Ein hauchzartes Lächeln erschien auf seinen Lippen.
Marinettes Herz reagierte darauf, indem es einen Ticken schneller schlug.
Hatte Cat Noir etwa recht gehabt?
Konnten die Gefühle für Adrien einfach so wieder auftauchen – als hätte es die Beziehung mit Cat Noir nie gegeben?
Sie spürte, wie sich hinter ihren Augen ein Druck aufbaute und sie sah schnell wieder auf ihren geöffneten Schulhefter hinab.

Selbst wenn es bedeutete, dass sie niemals vollkommen über ihn hinwegkommen würde: Sie würde Cat Noir, und das, was sie mit ihm hatte, niemals vergessen.
Sie würde ihr Versprechen an ihn halten, aber Adrien würde ihn niemals ersetzen können.

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