24
Marinette fühlte sich, als hätte sie die Spitze erreicht.
Oder genauer gesagt: Als hätten ihre Gefühle die Spitze erreicht. Im negativen Sinne.
Völlig reglos saß sie auf dem roten Sofa in ihrer und Cat Noirs Wohnung und erwiderte seinen panischen Blick.
Gerade hatte sie eine fatale Schwachstelle in ihrer Beziehung erkannt und ausgesprochen. Und sie wollte gern genauso mit Panik und Bestürzung reagieren, wie er.
Doch sie war viel zu erschöpft dafür.
Die Worte, die sie in den letzte Minuten beide ausgesprochen hatten, schienen noch immer zwischen ihnen in der Luft zu hängen.
Cat Noirs Ängste, weil er ihre Identität nicht kannte.
Seine Qual, wenn er ihren Schmerz mitbekam und nichts dagegen tun konnte.
Sein Wunsch, nichts mehr von ihren Probleme zu wissen.
Und schließlich Marinettes Erkenntnis, dass er ihr die Entscheidung bereits abgenommen hatte, ob sie im Gegenzug von seinen Problemen wissen wollte.
Cat Noir hatte nach ihren Händen gegriffen und sah sie nun mit weit aufgerissenen Augen an.
»Hör mir zu!«, sagte er flehend, »Du denkst jetzt vielleicht, dass ich dir die ganze Zeit etwas vorgemacht habe; dass ich nicht offen zu dir war.
Aber so ist das nicht!
Ich war tatsächlich so glücklich und unbeschwert, wenn ich bei dir war.
Ich habe dir nicht bewusst verschwiegen, was in meinem Leben los ist, sondern es ist jedes Mal zurückgeblieben, wenn ich zu dir gekommen bin.
Wenn ich dich getroffen habe, hat alles andere an Bedeutung verloren.
Es gab nur noch dich!
Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich dir nicht von meinen Problemen erzählen können. Denn wenn ich mit dir zusammen war, hatte ich keine Probleme.
Bei dir haben sie sich einfach in Luft aufgelöst.«
Marinette schloss für einen Moment die Augen, um die Tränen zurückzuhalten.
Als sie wieder zu reden begann, kostete es sie unheimlich viel Kraft, seinen Blick zu erwidern.
»Wir wussten beide, dass es nicht einfach sein wird und dass wir nicht wie andere Paare sein können.
Wir müssen permanent aufpassen, unsere Identität nicht zu verraten.
Wir können uns nur zu bestimmten Zeiten erreichen.
Wir können uns nicht gegenseitig in unserem Alltag unterstützen.
Wir müssen unsere Familie und unsere Freunde darüber anlügen.
Wir müssen einiges füreinander aufgeben.
Und wir können nur einen kleinen Teil unserer Leben miteinander teilen.«
Sie hielt einen Moment inne, um schwer zu schlucken.
Dann redete sie weiter.
»Wir wussten all das und haben es trotzdem versucht.
Aber anscheinend war nur einem von uns beiden klar, was das im Umkehrschluss bedeutet.
Es bedeutet, dass alles andere umso wichtiger ist;
dass die wenigen Elemente einer Beziehung, die für uns tatsächlich möglich sind, absolut entscheidend sind.
Und du, Cat, hast genau so eine wichtige Sache einfach aufgegeben!«
Cat Noir war die Verwirrung anzusehen, also sagte sie es noch einmal ganz deutlich.
»In schwierigen Situationen füreinander da zu sein – das kann man nicht einfach weglassen!
Hattest du tatsächlich vor, alles von mir fernzuhalten? Alles Schlechte in deinem Leben?
Du wolltest mir niemals die Möglichkeit geben, dich zu trösten? Du wolltest mir nie zeigen, was du in deinem Innern fühlst?
Das hält keine Beziehung auf Dauer aus.
Erst recht nicht, wenn sie so kompliziert und herausfordernd ist, wie unsere.«
Cat Noirs Gesicht wurde bleich.
»Das .. das meinst du nicht ernst!«, stammelte er.
Und obwohl Marinette verstand, was er meinte, war sie von seiner Reaktion verwirrt.
Ja, ihre Stimmung war düster. Und ja, im Moment fiel es ihr schwer, sich eine Lösung für die Herausforderungen in ihrer Beziehung vorzustellen.
Aber deswegen Cat Noir aufgeben? Deswegen ihre Beziehung aufgeben?
Schon allein die Vorstellung trieb ihr wieder die Tränen in die Augen.
»An so etwas darfst du noch nicht einmal denken!«, fuhr sie ihn an.
Sie sah gerade noch die Erleichterung auf seinem Gesicht, dann umschlang sie seinen Oberkörper mit beiden Armen und presste sich an ihn.
Sie hielt ihn fest – so fest, als könnte er ihr jeden Moment verloren gehen.
»Ich denk nicht dran.«, sagte Cat Noir leise und strich ihr über den Kopf. »Versprochen.«
Zum zweiten Mal in dieser Nacht lag Marinette in Cat Noirs Armen, mit dem Kopf auf seiner Brust, und hörte seinem gleichmäßigen, ruhigen Herzschlag zu.
Sie wusste, dass sie früher oder später ihr Gespräch noch beenden mussten, doch für den Moment wollte sie einfach nur bei ihm sein und von ihm gehalten werden.
Sie spürte, wie sie ruhiger wurde. Wie ihre Gedanken ruhiger wurden.
Sie fühlte sich vollkommen sicher.
Es war schon weit nach Mitternacht und in viel zu wenigen Stunden würde die Schule beginnen, doch das war egal.
In diesem Moment schien es nichts Wichtigeres zu geben, als bei Cat Noir zu sein.
Sie musste ihn halten; musste ihm zeigen, dass sie da war und ihn nicht loslassen würde.
Und sie selbst brauchte diese Gewissheit auch.
Gerade jetzt musste auch sie unbedingt spüren, dass sie beide noch als Paar existierten.
Marinette hatte sich nicht bewusst dazu entschieden, doch sie dachte weiter über ihr Gespräch nach.
Der Strom an Gedanken war nicht beständig, und wechselte mehr als einmal ohne jede Vorwarnung die Richtung. Trotzdem kehrte ihr Kopf immer wieder zu der Frage im Zentrum zurück:
Wie konnten sie ihre Gefühle miteinander teilen, ohne auch die Details ihrer Leben zu teilen?
Dass Cat Noirs Antwort nicht die richtige war, daran hatte Marinette keinen Zweifel.
Sie wollte ihm auf keinen Fall permanent etwas vormachen - mal ganz davon abgesehen, dass sie dazu gar nicht fähig war.
Aber wie konnte es dann funktionieren?
Cat Noir hatte gesagt, dass er ihren Schmerz nicht ertrug und dass er ständig dagegen ankämpfen musste, nach ihrer Identität zu suchen.
Wie konnten sie damit umgehen, ohne dass einer von ihnen beiden daran Schaden nahm?
Marinette dachte weder intensiv noch fokussiert genug darüber nach, um auch nur ansatzweise eine Lösung zu finden.
Doch sie spürte, dass es möglich sein musste.
Sie waren doch beide Kämpfer. Sie waren Superhelden.
Und Superhelden gaben die Hoffnung nicht auf.
»Ladybug?«, sagte Cat Noir leise.
»Ja?«
Sie hob den Kopf nicht, sondern blieb auf seiner Brust liegen und sah weiter unbeweglich in den Raum hinein.
Ihr Blick lag auf dem Klavier. Und auf dem Bild, das darauf stand.
»Wie schlimm ist es?«
Sie hatte Mühe, sich auf den Inhalt seiner Frage zu konzentrieren und antwortete deshalb nicht sofort.
Nach einigen Sekunden wiederholte er seine Frage und sagte dabei deutlicher, was er meinte.
»Wie schlimm ist das mit den Lügen für dich?«
Ein Teil von ihr wollte ausweichen. Oder es herunterspielen.
Aber sie sagte ganz ehrlich: »Ziemlich schlimm.«
»Ist es schlimmer geworden, seit wir zusammen sind?«
Sie nickte.
Cat Noir schwieg eine Weile.
Er schwieg so lang, dass Marinettes Gedanken längst wieder abgeschweift waren, als er die nächste Frage stellte.
»Der Ausflug in den Klub: Dabei ging es um deinen Wunsch, alltägliche Dinge mit mir zu machen, oder?«
Sie nickte wieder.
»Ich habe dir das noch gar nicht gesagt, aber ich habe das sehr genossen. Einfach alles an diesem Abend und in dieser Nacht.«
Marinette schloss für einen Moment die Augen und drückte sich noch fester an ihn.
Diesmal dauerte das Schweigen noch länger.
So lang, dass Marinette sich sogar fragte, ob sie irgendwann kurz weggenickt gewesen war.
Als Cat Noir wieder das Wort ergriff, fühlte es sich wie eine völlig neue Konversation an.
»Ladybug?«
Etwas an seiner Stimme weckte ihr Interesse. Ein Unterton, den sie nicht einordnen konnte.
Und er machte ihre Gedanken auf einmal wieder deutlicher klarer und wacher.
Sie hob den Kopf und erwiderte Cat Noirs Blick.
Sie hatte gehofft, dass er nun endlich wieder lächeln würde.
Stattdessen war sein Gesicht so ernst wie noch kein einziges Mal in ihrem bisherigen Gespräch.
Sie konnte sehen, wie er schluckte.
Dann redete er mit ruhiger Stimme weiter.
»Ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich habe über das Ende unserer Beziehung nachgedacht.«
Er hielt kurz inne, und ein Teil von Marinette schien zu spüren, dass es ihre letzte Chance war.
Ihre letzte Chance, sich vorzulehnen und ihn mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen.
Doch ihr Körper reagierte nicht.
Cat Noir sprach es aus.
»Ich denke, wir sollten uns trennen.«
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