20
Marinette wurde davon geweckt, dass ihr Kwami sie wieder und wieder gegen die Wange stupste.
»Lass das, Tikki!«, murmelte sie verschlafen, doch Tikkis Name konnte sie schon nicht mehr verständlich aussprechen, denn da hatten zwei kleine Kwamipfoten ihr schon den Mund zugehalten, indem sie ihre Ober- und Unterlippe aufeinanderpressten.
Marinette hob die Hand, um Tikki zu verscheuchen, doch ihre Hartnäckigkeit gewann gegen Marinettes Müdigkeit.
Selbst als Marinette unwirsch den Kopf schüttelte, gab sie ihre Lippen nicht frei.
Sie gab einen grunzenden Laut von sich und hob unter enormer Anstrengung ihr rechtes Augenlid.
Das grelle Tageslicht schmerzte und es dauerte einige Sekunden, bis sie Einzelheiten erkennen konnte.
Dann war es Tikkis eindringlicher Blick, dem sie begegnete.
»Du musst nach Hause!«, flüsterte sie.
Verwirrt sah Marinette an ihrem Kwami vorbei auf das Fenster, den Kleiderschrank und den cremefarbenen Teppich neben dem Bett.
Erst da kam es vollständig in ihrem Kopf an: Sie war nicht zuhause. Das war nicht ihr Zimmer, nicht ihr Hochbett.
Auf einen Schlag war sie hellwach und richtete sich auf.
Dabei rutschte die graue Bettdecke zur Seite und die kühle Zimmerluft traf ihre nackte Haut.
Hastig griff Marinette danach und zog sie wieder nach oben, bis unter ihr Kinn.
Erst dann wagte sie es, vorsichtig auf die andere Seite des Bettes zu schauen.
Cat Noir lag auf dem Bauch. Sie konnte nur seinen blonden Hinterkopf sehen, doch er schien noch zu schlafen.
Sein nackter Oberkörper hob und senkte sich langsam und gleichmäßig.
Bei dem Anblick wurde Marinette ein kleinwenig rot und ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Trotzdem schaffte sie es nicht, wegzusehen.
»Beeil dich! Du bist schon spät dran!«, drängte Tikki.
Sie hatte nun endlich Marinettes Lippen freigegeben und war demonstrativ in ihr Sichtfeld geflogen.
Marinette nickte, schob ihr Kwami jedoch mit der Hand zur Seite und lehnte sich zu Cat Noir hinüber.
Sie wollte ihn nicht aufwecken, aber wenigsten einen Abschiedskuss auf die Wange wollte sie ihm geben.
»Stop!«
Tikkis Stimmung war eine Mischung aus Flüstern und Kreischen.
Marinette verharrte in der Bewegung.
Fragend sah sie ihr Kwami an und Tikki antwortete, indem sie auf den Fußboden neben Cat Noirs Betthälfte deutete.
Dort lag seine schwarze Maske.
Marinette zuckte von ihm zurück, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Dabei stürzte sie beinahe rückwärts von der Bettkante.
Cat Noir schien die abrupte Bewegung gespürt zu haben oder vielleicht hatte auch Tikkis Stimme seinen Tiefschlaf unterbrochen, jedenfalls bewegte er sich auf einmal.
Er drehte sich auf den Rücken.
Marinette riss den Kopf herum und hob zusätzlich noch ihre Hand, um ja nicht sein Gesicht zu sehen.
Sie hielt den Atem an.
»Bitte sag nichts! Bitte sag nichts! Bitte sag nichts!«, flehte sie stumm.
Und tatsächlich blieb es völlig ruhig.
Nur sein gleichmäßiger Atem war zu hören.
Anscheinend schlief er noch immer.
Ohne die Hand wegzunehmen, die sie sich seitlich ans Gesicht hielt, rutschte Marinette von der Bettkante auf den Teppich hinab und begann mit einer Hand, ihre Kleidungsstücke vom Boden aufzusammeln.
Zum Glück gab es da nicht so viel. Das Kleid, ihr BH, der Mantel und die Schuhe.
Als sie alles gefunden hatte, schlich sie auf Zehenspitzen hinüber zur Tür und öffnete sie vorsichtig.
Liebend gern hätte sie einen letzten Blick auf Cat Noir geworfen, aber natürlich konnte sie das nicht.
Mit einem wehmütigen Gefühl in der Brust verließ sie das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.
Sie wollte gerade hinüber zum Sofa gehen, ihre Klamotten darauf ablegen und sich anziehen, als auf einmal eine Stimme aus Richtung Küche erklang.
»Wer will sich denn hier klammheimlich davonschleichen?«
Marinette fuhr herum.
Plagg schwebte im Türrahmen und sah sie mit einem diebischen Grinsen auf dem Gesicht an.
Sie presste ihre Kleidung noch fester gegen ihre Brust und funkelte ihn an.
»Ich schleiche mich nicht heimlich weg! Ich muss nur nach Hause.«
»Na hoffentlich wird Cat Noir dafür Verständnis haben. Er wird bestimmt nicht gerade begeistert sein, wenn er aufwacht und seine Partnerin verwunden ist, ohne sich zu verabschieden.«
»Du kannst ihm ja ausrichten, dass ich keine Wahl hatte.«
Er verzog das Gesicht. »Ich bin doch kein Postbote!«
»Dann lass es halt bleiben.«
Marinette verdrehte die Augen.
»Würdest du jetzt bitte irgendwo anders hinfliegen? Ich würde mich gern anziehen.«
»Wie du willst.«
Er flog wieder in die Küche.
Marinette vergewisserte sich, dass er tatsächlich verschwunden war, dann begann sie hastig, sich anzuziehen.
Sobald sie damit fertig war, griff sie nach ihrer Tasche, die knapp hinter der Haustür auf dem Boden lag.
Sie holte ihren Notizblock heraus, um Cat Noir eine Nachricht zu hinterlassen.
Sie nahm den Stift in die Hand und starrte hinab auf die leere Papierseite.
Was sollte sie schreiben?
»Beeil dich bitte!«, sagte Tikki, »Deine Eltern werden bestimmt bald in dein Zimmer kommen, um dich zum Frühstück zu holen!«
Ihre drängende Stimme machte es Marinette nicht gerade leichter, eine passende Formulierung zu finden.
»Ich weiß nicht, was ich schreiben soll.«, sagte sie hilflos und sah ihr Kwami an.
»Das ist keine Schulprüfung, sondern nur eine kurze Info für deinen Freund. Schreib einfach irgendwas!«
Tikkis Ungeduld machte Marinette nur noch nervöser.
Aber sie begann zu schreiben.
Tut mir leid, dass ich gehen musste. Ich werde versuchen, heute Nachmittag wiederzukommen.
Das Wichtigste war damit gesagt, aber Marinette zögerte noch, den Zettel vom Block zu reißen.
Sollte sie noch etwas weniger Sachliches dazuschreiben?
Etwas zu ihrer gemeinsamen Nacht? Oder dass sie ihn liebte?
»Marinette!«
Tikki schien es kaum noch auszuhalten.
»Ich mach ja schon.«
Hastig malte sie noch ein Herz unter die Nachricht und legte den Zettel dann gut sichtbar auf den Boden vor der Schlafzimmertür.
»Du hättest mich ja einfach ein bisschen früher wecken können. Dann hätte ich jetzt nicht so einen Zeitdruck. Wie spät ist es überhaupt?«
»Zeit zu gehen!«, erwiderte Tikki.
»Dann verwandle mich!«
Tikki wurde in ihre Ohrringe gesogen und der Ladybuganzug ließ das rote Abendkleid verschwinden.
Gerade als Marinette das Dachfenster öffnete, um zu verschwinden, tauchte Plagg wieder im Wohnzimmer auf.
»Lass dir ja nicht einfallen, ihn zu wecken!«, sagte Marinette und sah ihn drohend an.
Und mit leicht missmutigem Ton fügte sie hinzu: »Wenigstens einer von uns hat es verdient, nach dieser Nacht auszuschlafen.«
»Hatte ich nicht vor.«, erwiderte Plagg.
»Im Gegensatz zu Tikki sehe ich meine Aufgabe nicht im Babysitten und Bemuttern. Er ist selbst dafür verantwortlich, wann, wo und wie lange er schläft.«
Marinette ignorierte die unterschwellige Kritik und fragte stattdessen mit leichter Besorgnis: »Er wird doch keine Probleme bekommen, weil er hier geschlafen hat, oder?«
Plagg zuckte mit den Schultern.
»Wie gesagt: Kein Babysitter.«
»Also ist es dir völlig egal, was mit ihm passiert?«
»Er ist ein großer Junge und ich bin ein Kwami. Kosmisches Wesen, ungeheuer mächtig - du weißt schon.
Und solange er keine riesigen Dummheiten macht, wie zum Beispiel seine Identität zu verraten, halte ich mich aus seinem Menschenkram raus.«
»Darin bist du aber ziemlich schlecht - also bei der Sache mit der Identität. Ich hätte vorhin beinahe sein Gesicht gesehen, wenn Tikki mich nicht aufgehalten hätte!«
Plegg sah kein bisschen schuldbewusst aus.
»Das wäre in der Tat höchst interessant geworden ...«, meinte er und grinste leicht.
»Machs gut, Plagg.«
Sie schwang sich nach oben aus dem Fenster, ehe ihr Ärger über das schwarze Katzen-Kwami sie noch zu einer unangebrachten Bemerkung verleiten konnte.
»Wir sehn uns, Marinette.«, rief Plegg ihr noch hinterer.
Und erst, als sie schon drei Häuserdächer weiter war, fiel es ihr auf.
Er hatte sie Marinette genannt.
Woher kannte Plegg ihren Namen?
Noch bevor Marinette wieder in ihrem Zimmer angekommen war, spürte sie bereits die Müdigkeit und Erschöpfung.
Sie hatte in der vergangenen Nacht kaum mehr als drei Stunden Schlaf bekommen und ohne das Adrenalin, dass sie in der Wohnung angetrieben hatte, waren die Nachwirkungen deutlich zu spüren.
»Tikki, verwandle mich zurück!«
Noch während ihr Anzug verschwand, gähnte sie und sah sehnsüchtig zu ihrem Bett hinüber.
Vielleicht würde sie ja heute im Laufe des Tages dazu kommen, ein wenig Schlaf nachzuholen?
Vermutlich nicht. Sie hatte jede Menge Schulzeug zu erledigen. Und sie hatte Cat Noir geschrieben, dass sie am Nachmittag wieder bei ihm vorbeischauen würde.
»Los! Zieh dich schnell um!«
Schon wieder hatte Tikki diesen drängenden Ton in der Stimme.
Marinette schob sich die Maske vom Gesicht und schlüpfte aus dem Kleid. Dann zog sie ihren Schlafanzug an und verstaute das Kleid, den Mantel und die Schuhe in der hintersten Ecke ihres Kleiderschrankes.
»Meine Eltern werden erwarten, dass ich noch im Bett liege. Also würde es ja sogar das Beste sein, wenn ich mich noch mal ein wenig hinlege, bis sie mich tatsächlich holen.«
»Denk nicht mal dran, Marinette!« Tikkis Stimme hatte den strengen Tonfall einer Generälin.
»Ich hab dich vorhin kaum wach bekommen! Wenn du dich jetzt hinlegst, wirst du sofort wieder im Tiefschlaf versinken und deine Eltern werden misstrauische. Sie werden sofort merken, dass letzte Nacht irgendetwas los war.«
Marinette zog einen Schmollmund. »Und was soll ich dann machen?«
»Wie wäre es mit einer kalten Dusche und einer großen Tasse Kaffee?«
»Ich hasse es, wenn du so vernünftig bist.«, grummelte Marinette und begann, frische Klamotten aus ihrem Schrank herauszusuchen.
»Hättest du es lieber, wenn ich so wie Plegg wäre? Dass ich dich einfach machen lasse und zusehen, wie du dich selbst in Schwierigkeiten bringst?«
Marinette schüttelte den Kopf.
Aber bei der Erwähnung von Cat Noirs Kwami kam ihr wieder die Frage in den Kopf, die sie sich vor wenigen Minuten gestellt hatte.
»Wie kommt es eigentlich, dass Plegg meinen echten Namen kennt? Ich dachte, du darfst meine Identität niemandem verraten.
Sind andere Kwamis bei dieser Regel ausgeschlossen?«
»Nein, ich habe ihm deinen Namen nicht genannt. Er hat ihn bestimmt irgendwann mal aufgeschnappt. Er hat dich ja schon früher manchmal unverwandelt gesehen.«
»Aber nur, weil er mein Gesicht kennt, kennt er doch nicht automatisch meinen Namen.«
Tikki sah aus, als würde sie angestrengt überlegen. Dann hellte sich ihr Gesicht auf.
»Es ist doch ganz logisch! Du hattest auch als Marinette schon mit Cat Noir zu tun. Und Plegg war natürlich dabei. Deshalb kennt er deinen Namen!«
Tikki sah richtig begeistert aus, weil sie diesen Zusammenhang durchschaut hatte.
Vielleicht sogar ein wenig zu begeistert?
Marinette gähnte.
»Wenn ich nicht so müde wäre, hätte ich das selbst bemerkt.«, sagte sie. »Aber trotzdem irgendwie ein unschöner Gedanke, dass Plegg meinen Namen kennt.«
»Du musst dir keine Sorgen machen.«, erwiderte Tikki. »Auch wenn er nicht dein Kwami ist, darf er deine Identität nicht verraten. Er wird Cat Noir nichts sagen.«
»Na hoffentlich! Plegg scheint nicht gerade besonders verantwortungsvoll mit seinen Kwamipflichten umzugehen. Er wird sich doch nicht verplappern, oder?«
»Du darfst nicht so streng mit ihm sein.«
Tikki lächelte beschwichtigend.
»Er ist nicht unbedingt der Beste im Regeln befolgen, aber er würde niemals etwas tun, womit er Cat Noir in Gefahr bringen würde.
Er liebt ihn fast genauso sehr, wie du.«
»Er hat eine komische Art, das zu zeigen.«
»Es kann eben nicht jedes Kwami so herzlich und perfekt sein, wie ich.«
Tikki zwinkerte ihr zu und Marinette musste lächeln.
Sie streichelte Tikki über den Kopf.
»Was hab ich doch für ein Glück ...«
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