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Nach der Nacht, in der sie kaum mehr als drei Stunden Schlaf gefunden hatte, kam Marinette am Sonntagmorgen mit reumütig gesenktem Kopf in die Küche hinabgeschlichen.
Für gewöhnlich schlief sie an Sonntagen deutlich länger, aber nicht heute.
Das Motto des heutigen Tages lautete Schadensbegrenzung, und je eher sie damit anfing, desto eher würde sie es hinter sich haben.
Zu ihrem Bedauern war der Frühstückstisch schon beinahe vollständig gedeckt.
Sie holte schnell noch die Eierbecher und den Salzstreuer aus dem Regal, dann nahm sie möglichst geräuschlos auf ihrem Stuhl platz.
Ihre Eltern hatten ihr Auftauchen bemerkt, aber schwiegen beide.
Marinettes Vater saß bereits am Küchentisch, Marinette gegenüber, während seine Frau noch die gekochten Eier zubereitete.
Er sah seine Tochter mit einem ernsten Blick an, der ungewohnt war und sich unangenehm anfühlte.
Nachdem er letzte Nacht nach Hause gekommen war, hatte er Marinette noch einen kurzen Besuch abgestattet.
Statt eine Strafpredigt zu halten wie seine Frau, war er einfach nur an ihr Hochbett herangetreten und hatte ihr mit seiner großen Bäckerhand übers Haar gestrichen.
Sie hatte ihm dabei in die Augen gesehen, und darin waren neben der Erleichterung auch deutlich die Spuren seiner Sorge zu sehen gewesen.
Sein Blick war mindestens genauso schlimm gewesen, wie die Ansprache ihrer Mutter eine Dreiviertelstunde zuvor.
Heute Morgen war da etwas anderes in seinen Augen; keine Sorge oder Erleichterung.
Ärger? Missbilligung? Enttäuschung?
Marinette konnte es nicht genau identifizieren.
Aber es verhieß nichts Gutes.
Ihre Mutter kam an den Tisch und setzte sich neben sie. Etwas weniger sanft als gewöhnlich stellte sie das Körbchen mit den Eiern auf dem Tisch ab.
Dann begann sie schweigend zu essen.
Auch Marinettes Vater griff nach Messer und Brötchen und schließlich wagte es auch Marinette, zu beginnen.
Das gesamte Essen über fiel kein einziges Wort.
Dafür war alles andere umso lauter: das Klappern des Bestecks, wenn ihr Vater es unsanft auf seinem Tellerrand ablege, das leise Knarzen von Marinettes Stuhl, wenn sie unruhig auf der Sitzfläche hin und her rutschte, und das vielsagende, tiefe Ein- und Ausatmen ihrer Mutter.
Obwohl Marinette Angst vor dem hatte, was nach dem Essen auf sie zukam, sehnte sie das Ende der Mahlzeit herbei.
Das Warten war schlimmer als jedes Kreuzverhör, das sie sich vorstellen konnte.
»Wo bist du gewesen?«
Sabine Cheng kam direkt zur Sache.
Marinette schluckte, holte tief Luft und antwortete mit ruhiger Stimme: »Ich bin alleine durch die Stadt gelaufen.«
»Und das sollen wir dir glauben?«
»Es ist die Wahrheit.«
Der Satz fühlte sich furchtbar an, aber Marinette hatte keine andere Wahl. Wenn sie zugab, mit jemandem zusammengewesen zu sein, würden ihre Eltern weiter nachfragen. Und sie würden genau wissen wollen, mit wem.
»Warum war dein Handy ausgeschaltet?«, kam auch schon die nächste Frage.
Die ehrliche Antwort wäre gewesen, dass sie es wie jeden Abend vor dem zu Bett Gehen ausgeschaltet hatte. Aber auch hierbei musste sie lügen.
»Ich wollte allein und ungestört sein.«
Sie zuckte zusammen, als ihr Vater mit donnernder Stimme das Wort ergriff.
»Marinette, hast du den Verstand verloren?«
»Ich ... ich hab nicht nachgedacht. Tut mir leid.«, erwiderte sie mit leiser Stimme.
»Müssen wir dir in deinem Alter tatsächlich noch erklären, was alles passieren kann, wenn man als junges Mädchen nachts allein in einer Großstadt wie Paris unterwegs ist?«
»Ich ...«
Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte.
»Wir haben dir bisher sehr viele Freiheiten gelassen.«, redete nun ihre Mutter weiter. Ihre Stimme war deutlich gefasster als die ihres Mannes, aber nicht weniger streng.
»Aber anscheinend war das ein Fehler. In Zukunft wird sich einiges ändern, was deine Ausgehzeiten betrifft.«
Marinette schloss für einen Moment die Augen.
Was jetzt folgte, würde darüber entscheiden, ob sie noch problemlos Ladybug sein konnte oder nicht.
»Es versteht sich wohl von selbst, dass die bisherigen Regeln weiterhin gelten. Du schaltest dein Handy nicht aus, sagst uns immer, wo du hingehst und mit wem du dich triffst, und bist abends zur vereinbarten Zeit zu Hause.
Die erste Änderung betrifft genau diese Zeit. Bis auf Weiteres wirst du Punkt 22.00 Uhr zu Hause sein. Verstanden?«
Marinette nickte.
Es gefiel ihr nicht, aber sie würde damit klarkommen.
»Außerdem wirst du dich in Zukunft nicht mehr so häufig allein in deinem Zimmer verkriechen.
Wir haben darüber gesprochen und deine Antworten gerade haben es noch einmal bestätigt: Wir wissen zu wenig, was in deinem Leben los ist.
Uns ist bewusst, dass wir daran Mitschuld haben, weil wir so viel arbeiten. Deshalb wird das eine Sache, die wir gemeinsam als Familie angehen, indem wir häufiger Zeit miteinander verbringen.
Sieh das bitte nicht als Strafe, Marinette, sondern als Möglichkeit.
Die Möglichkeit, unser Vertrauen zurückzugewinnen.
Es fängt damit an, dass du heute mit uns zusammen den Abend verbringst. Und in der kommenden Woche wirst du jeden Tag sofort nach der Schule auf direktem Weg nach Hause kommen und auch den Abend über zuhause bleiben.«
Marinette umkrallte die Kante ihres Stuhls mit ihren Händen, hielt sich aber zurück. Jedes Widerwort hätte es nur schlimmer gemacht.
»Marinette, sieh mich bitte an.«
Sie hob den Kopf und erwiderte den Blick ihrer Mutter.
Sabine Cheng hatte einen sanfteren Gesichtsausdruck aufgesetzt.
»Wir wünschen uns von dir, dass du mit uns redest. Wenn du das Bedürfnis hast, nachts stundenlang allein durch Paris zu laufen, kannst du mit uns darüber reden und wir finden eine Lösung - was auch immer das Problem ist. Und um dir dazu auch die Möglichkeit zu geben, werden wir ab jetzt häufiger in dein Zimmer hinaufkommen und nach dir sehen.«
»Was?«
Diesmal konnte Marinette sich nicht zurückhalten.
»Ihr bestraft mich, indem ihr mir meinen Rückzugsort wegnehmt?«
»Wir nehmen dir überhaupt nichts weg. Wir wollen uns nur keine Sorgen um dich machen müssen.
Und es sagt ja auch niemand, dass du ab jetzt keine Sekunde mehr allein sein darfst. Wir wollen dich nicht überwachen. Wir wollen nur sichergehen, dass du dich nicht selbst in Gefahr bringst.«
»Das ergibt doch keinen Sinn.«, erwiderte Marinette.
Sie hatte Mühe, ihren Tonfall unter Kontrolle zu halten.
»Ihr erfahrt, dass eure Tochter nicht nach Hause kommt, weil sie allein sein will, und wollt ihr als Antwort darauf ständig eure Gesellschaft aufzwingen?«
Als ihre Mutter etwas erwiderte, klang ihre Stimme wieder einen Ticken schärfer.
»Wir sind immer noch deine Eltern, Marinette. Und wenn Eltern nicht wissen, was in ihrem Kind vorgeht, müssen sie es irgendwie herausfinden.
Wir könnten dir auch nachspionieren oder heimlich dein Handy überwachen, wie andere Eltern es tun. Aber stattdessen bieten wir dir einen Raum, in dem du dich uns öffnen kannst.
Du kannst mit uns reden und wir versprechen dir, dass wir uns Zeit für dich nehmen und dir zuhören. Und wenn klar ist, dass das Alleinsein dir nicht schadet, werden wir dich auch allein lassen.«
»Ihr denkt doch nicht etwa, dass ich mich absichtlich in Gefahr gebracht habe, oder? Ich habe doch schon gesagt, dass es nur ein Versehen war. Ich war in Gedanken und hab nicht darauf geachtet, wie spät es ist.«
»Das freut uns zu hören. Allerdings ist das nicht die einzige Sache, die uns Sorgen macht.
Du warst in den letzten Monaten sehr verschlossen uns gegenüber. Selbst wenn du Zeit mit uns verbracht hast, hast du nichts von dir erzählt.
Du hast dich ständig in deinem Zimmer verkrochen, bist kaum noch rausgegangen und warst weniger gesprächig als früher.
Wie haben die Warnsignale leider übersehen, aber nach letzter Nacht wird uns das nicht wieder passieren.«
»Was denn für Warnsignale?«, fragte Marinette. »Etwa, dass ich erwachsen werde?«
Sie wusste nicht so recht, ob sie verwirrt oder verärgert war, und auch nicht, wonach ihre Stimme klang.
»Ich habe mich letzte Nacht mit einer Polizistin unterhalten, die schon oft mit Fällen von jugendlichen Ausreißern zu tun hatte.«
Jugendliche Ausreißer?
Jetzt war Marinette auf jeden Fall verwirrt.
»Und sie meinte,«, redete Marinettes Mutter weiter, »dass man als Eltern keine negativen Spiralen bei seinem jugendlichen Kind zulassen darf. Es geht los mit Entfremdung von der Familie, dann immer häufiger Regelbrüche und Rebellion und schließlich -«
»Stop!«, unterbrach Marinette ihre Mutter. »Was redest du denn da?«
»Marinette...«
»Was soll das? Warum behandelt ihr mich auf einmal, als hättet ihr mich beim Drogennehmen oder beim Klauen erwischt.
Ich habe nur die Zeit vergessen. Nichts weiter! Letzte Nacht hatte rein gar nichts zu bedeuten!«
Ihre Mutter wartete ab, bis sie ausgeredet hatte, und erwiderte dann mit ruhiger Stimme:
»Dass du dermaßen heftig reagierst, zeigt uns nur, dass wir richtig liegen. Du hast dich verändert und wir werden das nicht einfach ignorieren. Dafür lieben wir dich zu sehr.«
Marinette kam sich vor, wie im falschen Film.
Kannten ihre Eltern sie tatsächlich so schlecht?
Ihr kam der Gedanke, einfach die Wahrheit zu sagen - zuzugeben, dass sie sich mit ihrem Freund getroffen hatte und dass sie nur so häufig in ihrem Zimmer gewesen war, um mit ihm stundenlange Gespräche zu führen.
Auf einmal schien selbst diese Enthüllung weniger schlimm, als die verdrehte Missinterpretation ihrer besorgten Mutter.
Allerdings waren die genauen Folgen nicht absehbar.
Womöglich würde es alles nur noch schlimmer machen.
Also ballte Marinette ihre Hände zu Fäusten und schwieg.
»Du kannst jetzt auf dein Zimmer gehen, wenn du willst.«, sagte ihre Mutter und lächelte ihr versöhnlich zu. »Wir holen dich dann zum Mittagessen.«
Marinette nickte knapp und stand vom Tisch auf.
Bevor sie die Treppe hinaufstieg, wechselte sie noch einen Blick mit ihrem Vater.
Er schien sich bei all dem nicht ganz so sicher zu sein wie seine Frau. Trotzdem war sein Blick auf sonderbare Weise distanziert.
War es vielleicht wirklich Enttäuschung?
Sie wandte sich ab und ging hinauf in ihr Zimmer.
Gern hätte sie die Bodenluke mit einem lauten Knall geschlossen, aber das wäre wohl das Allerschlechteste gewesen, was sie nach diesem Gespräch hätte tun können.
Sie ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken, griff nach ihrem Handy und schaltete es ein.
Während ihre Augen eine neue Nachricht von Alya registrierten, die vergangene Nacht eingegangen war, hingen ihre Gedanken noch immer bei dem Gespräch.
Marinette war sich bewusst, dass sie in der letzten Nacht einen dummen Fehler begangen hatte, aber das Misstrauen ihrer Eltern hielt sie trotzdem für vollkommen unberechtigt.
Ihre gesamte Teenagerzeit war sie eine vorbildliche Schülerin und Tochter gewesen und nun war sie einen Moment mal nicht aufmerksam und sofort änderte sich der komplette Blick ihrer Eltern auf sie?
Das tat mehr weh, als sie sich im Moment eingestehen konnte.
Haha! Sehr lustig, Marinette!
Erst, als sie die erste Zeile von Alyas Nachricht las, fiel Marinette wieder ein, was vergangene Nacht außer dem Drama mit ihren Eltern noch passiert war.
Sie hatte Alya aus Versehen geschrieben, dass sie Ladybug war und den ganzen Abend mit Cat Noir auf einem Hausdach rumgeknutscht hatte - die Wahrheit, aber genau deswegen so problematisch.
Haha! Sehr lustig, Marinette!
Hinter dem Satz prangte ein großer Smiley, der die Augen verdrehte.
Ich werde dir schon noch beweisen, dass ich recht habe und die beiden ein Paar sind. Dann wirst du mich anflehen, dir zu vergeben.
Marinette lächelte erschöpft.
Keine Frage: Diese Reaktion war etwas Gutes. Es bedeutete, dass sie in dieser nacht nur einen Riesenfehler anstatt zweien begangen hatte.
Aber leider bedeutete sie auch, dass Alya weiterhin keine Eingeweihte sein würde.
Dass Marinette weiterhin allein mit ihren Gedanken und Problemen war.
Sie las weiter.
Deine Mutter hat übrigens gerade bei mir angerufen, weil sie dich sucht.
Jetzt MUSST du mir aber sagen, was du getrieben hast. Ich beginne sonst noch, mir die wildesten Dinge vorzustellen.
Könntest du vielleicht sogar ein aufregendes Geheimnis haben?
Ruf mich unbedingt an!
Marinette warf das Handy unsanft auf den Schreibtisch und stöhnte leise auf.
Das würde wohl nie wieder aufhören!
Sie hatte sich nicht nur für ihre Eltern eine überzeugende Erklärung aus den Fingern saugen müssen, sondern würde das Gleiche jetzt auch noch bei ihrer besten Freundin machen müssen.
Und heute Abend würde sogar noch Cat Noir zu dieser Liste hinzukommen.
Auch ihm würde sie irgendwie erklären müssen, warum sie nicht zu ihrer Verabredung kommen konnte.
Ihr schmerzte schon jetzt das Herz beim Gedanken an seine Reaktion.
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