14
Das Gespräch mit Alya am Vormittag war nicht gerade angenehm gewesen, aber alles in allem war Marinette zufrieden.
Ihre Freundin wusste nun Bescheid über die »Trennung« und ihr Schuldgefühl hatte sie dazu gebracht, Marinettes Wunsch nach Schweigen zu erfüllen.
Sie hatte sich mit ihren Fragen vollständig zurückgehalten, sich von ganzem Herzen bei Marinette für ihre Ignoranz vom Vortag entschuldigt und sie dann mehrere Minuten fest umarmt.
Marinette nutzte die Gelegenheit, um ihre Freundin noch einmal um ein Alibi zu bitten.
Die Begründung, dass sie im Moment nicht so gern unter der Beobachtung ihrer Eltern sein wollte, verstand Alya sofort.
In dieser Situation hätte Marinette sich vermutlich alles von ihrer besten Freundin wünschen könnte.
Doch für heute genügte ihr das Alibi.
Sie war erst am späten Abend mit Cat Noir verabredet und konnte ihn vorher nicht erreichen, doch sie wollte es auf den Versuch ankommen lassen. Vielleicht war er ja schon eher in ihrer gemeinsamen Wohnung und sie konnten zur Abwechslung mal wieder etwas mehr Zeit miteinander verbringen.
Ihre gemeinsame Wohnung.
Selbst in ihren Gedanken hörte sich diese Wortgruppe befremdlich an. Aber auch unheimlich schön.
Obwohl sie erst ein einziges Mal dort gewesen war, vermisste Marinette bereits den hellen Raum mit dem roten Sofa, dem Klavier und dem gerahmten Foto von ihnen beiden.
Erst als sie vor dem verschlossenen Dachfenster stand, fiel es Marinette auf. Cat Noir hatte ihr nicht den Zahlencode für das Schloss genannt.
Ohne ihn kam sie nicht in die Wohnung hinein.
Sie dachte einige Sekunden über mögliche Kombinationen nach, doch sie hatte keine Ahnung, ob Cat Noir eine Zahlenreihe mit einer Bedeutung dahinter wählen würde oder eine zufällige.
Außerdem fielen ihr keine Zahlen ein, die für Cat Noir bedeutsam sein könnten. Das Datum ihres ersten Kusses vielleicht? Oder das Datum von dem Tag, als sie zusammengekommen waren?
Sie versuchte es erst gar nicht und dachte stattdessen über einen alternativen Plan nach. Bis zu ihrer Verabredung waren es noch mehrere Stunden.
Sie konnte unmöglich auf der Dachterrasse sitzen und auf ihn warten, aber sie konnte ihre Chancen auf ein frühzeitiges Treffen erhöhen.
Sie öffnete ihr Bugphone und schrieb Cat Noir eine Nachricht.
Wenn er sich tatsächlich schon eher verwandelte und auf den Weg hierher machte, würde er wissen, dass auch sie schon verwandelt und zu erreichen war.
Sie hatte das Bugphone gerade wieder verstaut, als es eine eingegangene Nachricht meldete.
Sieh mal nach hinten.
Das war alles, was Cat Noir geschrieben hatte. Sie drehte sich um.
Die Dachflächen, die die Dachterrasse einschlossen, versperrten den Blick auf die umliegenden Gebäude und nur der Himmel war zu sehen. Doch da entdeckte sie einen schwarzen Punkt, der ein Stück über die Dachkante hinausschaute.
Cat Noir, der auf seinem Stab saß.
Er war noch ziemlich weit entfernt, doch sie konnte erkennen, wie er ihr zuwinkte. Sie winkte zurück.
Er verschwand und etwa zehn Sekunden später landete er auch schon vor ihr auf dem Dach.
Sein glückliches Lächeln ließ sofort ein warmes Gefühl in Marinettes Innern aufsteigen. Ohne Umschweife kam er auf sie zu und schloss sie in seine Arme.
»Ich habe schon ewig nicht mehr so eine schöne Überraschung erlebt!«, sagte er, während er sie hochhob und einige Umdrehungen durch die Luft wirbelte.
Auch Marinette spürte, wie sie übers ganze Gesicht strahlte.
»Wie kommt es, dass du schon verwandelt bist?«, fragte sie, als Cat Noir sie wieder abgesetzt hatte.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.«
»Ich hatte überraschend die Möglichkeit, etwas Zeit freizuschaufeln.«, erwiderte sie und gab endlich dem Drang nach, ihn zu küssen.
Er erwiderte den Kuss mit jeder Menge Gefühl dahinter.
Marinette war halb erleichter, halb enttäuscht, dass die Begrüßung hier oben auf dem Dach stattfand und nicht unten in der Wohnung neben dem Sofa.
»Bedeutet das, ich habe dich jetzt die gesamte Zeit für mich? Bis zu unserer eigentlichen Verabredung und noch darüber hinaus?«
Sie nickte, und was sie nicht für möglich gehalten hatte, passierte: Cat Noirs Lächeln wurde noch breiter.
Er küsste sie schon wieder.
»Was bin ich doch für ein Glückspilz!«
Er löste sich aus ihrer Umarmung und sprang mit einem Satz hinüber zum Fenster, wo er den Code eingab.
Marinette trat hinter ihn.
»Verrätst du mir die Kombination?«, fragte sie.
»Klar. 9 - 7 - 3 – 1 – 5.«
»Haben diese Zahlen irgendetwas zu bedeuten?«
Er hatte gerade das Fenster öffnen wollen und verharrte nun in der Bewegung.
»Ich frage nur, weil ich es mir dann vielleicht besser merken kann. Mein Zahlengedächtnis ist nicht das Beste.«
Cat Noir wandte den Kopf und sah zu ihr hinauf. Sein Lächeln konnte sie nur als »niedlich« bezeichnen.
»Es hat eine Bedeutung.«, antwortete er. »Es sind die Punkte von deinen Ohrringen.«
Sie verstand nicht, wie er das meinte, weshalb er erklärte: »Naja, wenn man die fünf Punkte gedanklich über das Nummernfeld legt, ergibt die Reihenfolge, in der sie blinken und verschwinden, die Zahlen 9 - 7 - 3 – 1 – 5.«
»Du weißt, in welcher Reihenfolge die Punkte auf meinen Ohrringen verschwinden?«
Er zuckte mit den Schultern. »Klar. Ich hab es so oft gesehen ...«
Marinette musste sich zusammennehmen, um sich nicht auf ihn zu stürzen und mit ihm zusammen durch das offene Fenster auf das Sofa hinab zu fallen.
Schon wieder war sein Lächeln einfach nur zum Anbeißen.
»Beim Merken hilft mir das leider nicht weiter.«, sagte sie, nachdem sie einen tiefen Zug von der kalten Dezemberluft genommen hatte.
»Ich hab keine Ahnung, in welcher Reihenfolge die Punkte verschwinden.«
»Wir können den Code auch gern ändern, wenn du das willst.«, erwiderte Cat Noir.
»Nein. Mir gefällt es, dass du jedes Mal an mich denkst, wenn du den Code eingibst.«
Sie sprang hinab in die Wohnung und er folgte ihr.
»Du weißt aber schon, dass ich sowieso die ganze Zeit an dich denken muss, wenn ich hier bin, oder?«
Er kam ihr schon wieder ganz nah. Er schlang von hinten die Arme um ihre Taille und legte seinen Kopf auf ihrer Schulter ab.
Dann fügte er noch hinzu: »Und nicht nur, wenn ich hier bin.«
»So? Wann denkst du denn noch an mich?«
»Ständig.«, antwortete er, »Beinahe ununterbrochen.«
»Armes Kätzchen ...«, sie streichelte ihm mit der Hand über den Kopf. »Du musst mich in deinem Alltag ja schrecklich vermissen!«
Sie spürte, wie er nickte. Und in einem kindlich-traurigen Ton erwiderte er: »Ganz, ganz schrecklich vermisse ich dich!«
Seine Arme schlossen sich noch enger um sie und er vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge.
»Wir verbringen viel zu wenig Zeit miteinander. Ich will dich nicht nur alle paar Tage sehen. Ich will dich jeden Tag sehen.«
Marinette seufzte leise.
»Ich würde dich auch gern jeden Tag sehen.«
»Doofer Hawk Moth.« Der kindliche Trotz in seiner Stimme brachte Marinette zum Lachen.
Aber es war kein 100-prozentig heiteres Lachen, denn Cat Noir hatte recht.
Doofer Hawk Moth.
»Verrätst du mir, was dort drin ist?«
Cat Noir sah neugierig zu dem Stoffbeutel hinüber, den Marinette bei ihrem Eintreffen neben dem Sofa abgestellt hatte.
Sie lächelte ihn verschmitzt an und griff dann danach.
Sie konnte es selbst kaum erwarten, die Schätze auszupacken, die sie am Vortag nach ihrem Gespräch mit Tikki besorgt hatte.
Sie griff hinein und zog eine zusammengefaltete Decke heraus.
»Für unseren Filmabend.«, sagte sie und reichte sie Cat Noir. Er hob den kuscheligen, grauen Stoff an sein Gesicht und strich mit seiner Wange darüber.
Marinette lächelte ihn sich hinein. Genau das Gleiche hatte sie auch getan, bevor sie die Decke in den Beutel gepackt hatte. Das Material war geradezu unverschähmt weich.
»Und bei einem Filmabend darf natürlich auch das hier nicht fehlen.«
Sie griff ein zweites Mal in den Beutel und zog eine Packung Mikrowellenpopcorn hervor.
Cat Noir kniff die Augen zusammen. »Salzig oder Süß?«
»Süß natürlich!«
Er nickte zufrieden.
»Ich denke, wir kochen ein andermal.«, sagte Marinette und griff nach der letzten Sache im Beutel. »Aber ich habe noch eine Überraschung.«
»Ach ja?« Cat Noir verrenkte sich den Hals, um zu sehen, was sie in der Hand hielt, doch sie hatte die Faust um den kleinen Gegenstand geschlossen.
»Also genau genommen ist es nur die Vorbereitung für die Überraschung. Worum es dabei geht, erfährst du, wenn du mich am Freitagabend hier triffst.«
»Ladybug!«, erwiderte Cat Noir und setzte einen Schmollmund auf. »So etwas darfst du mir nicht antun! Wie soll ich das noch so lang aushalten?«
»Du schaffst das schon! Ich hab vollstes Vertrauen in dich.«
Sie grinste ihn an.
»Dann zeig mir wenigstens, was du dort in der Hand hast!«, forderte er.
»In Ordnung.«
Sie streckte ihm ihre geschlossene Faust entgegen, drehte sie, sodass der Handrücken nach unten zeigte, und hob mit einer langsamen Bewegung ihre Finger.
Cat Noir starrte einen Moment auf den Gegenstand und sah sie dann mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck an.
»Mhm ... Welchen diabolischen Plan könntest du mit einem Maßband aushecken?«
»Was auch immer du dir gerade vorstellst:«, erwiderte sie, »Es wird noch viel toller.«
»Bist du dir sicher? Erst vorhin hast du mich mit deiner unerwarteten Anwesenheit überrascht. Das war schon ziemlich toll.
Und als du mich davor das letzte Mal überrascht hast, sind wir zusammen unverwandelt von einem Hochhaus gesprungen. Das ist auch nicht so leicht zu übertreffen.«
Bei der Erinnerung daran musste Marinette lächeln.
»Das war übrigens der Tag.«, sagte sie.
»Der Tag?«
»Du hattest mich doch neulich gefragt, wann die Gefühle für dich aufgetaucht sind. Und das war an genau diesem Tag.
Also, zumindest ist es mir an diesem Tag das erste Mal aufgefallen.«
»Und was genau ist dir da aufgefallen?«
Mit einem verführerischen Lächeln beugte Cat Noir sich zu ihr hinüber.
»Mir ist aufgefallen, dass unter dem ganzen Leder und hinter all den lockeren Sprüchen tatsächlich ein Mensch existiert, der mir Herzrasen bereiten kann.«
Sie biss sich auf die Unterlippe.
Cat Noirs Lächeln intensivierte sich.
»Ich habe es gehört.«, sagte er leise. »Dein Herzrasen an diesem Abend. Deswegen war ich so glücklich nach dem Sprung.«
»Und wie konntest du dir sicher sein, dass du der Grund für das Herzrasen warst, und nicht der Sprung von einem Hochhaus?«
»War ich nicht. Aber ich es hat mir Hoffnung gemacht.
Und zurecht, wie ich jetzt weiß.«
»Nachdem wir das nun geklärt haben,«, raunte Marinette und lehnte sich Cat Noir so weit entgegen, dass nur noch wenige Zentimeter ihre Münder voneinander trennten, »Würdest du jetzt bitte deine Arme ausbreiten?«
Mit einer ruckartigen Bewegung entrollte sie das Maßband in ihrer Hand und machte einen Schritt zurück.
Sie grinste ihn an.
»Ich brauche ein paar Maße von dir.«
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