13
Marinette war schon fast aus der Cafeteria heraus, als sie plötzlich stehen blieb. Sie wusste nicht, was die dazu brachte, aber sie drehte sich noch einmal um und sah zurück zu dem Tisch, an dem sie eben noch gesessen hatte.
Adrien war verschwunden, aber Nino und Alya saßen immer noch eng ineinander verschlungen auf ihrem Stuhl.
Selbst aus dieser Entfernung war ihre Liebe und Zuneigung beinahe körperlich zu spüren. Von den beiden ging ein Strahlen aus, das den gesamten Raum erhellte.
Marinette musste schwer schlucken.
Was Adrien gerade getan hatte - dass er versucht hatte sie vor dieser verliebten, glücklichen Atmosphäre zu bewahren – war absolut unnötig gewesen.
Sie war nicht verlassen worden.
Ihr Herz war nicht gebrochen.
Sie hatte jemanden, der sie ebenso sehr liebte, wie Nino Alya.
Und trotzdem stieg nun ein unerwünschtes Gefühl in ihr nach oben.
Eine Mischung aus Neid, Sehnsucht und schmerzhaftem Verlust.
Sie wollte wegsehen – sich abwenden - doch sie konnte nicht.
Ihre Augen waren wie festgepinnt an der Szene in der Cafeteria.
Ein Gedanke kristallisierte sich aus dem unschönen Gefühlsgemisch heraus: Sie wollte es auch. Genau das.
Sie wollte genau wie Alya mit ihrem Freund in der Öffentlichkeit sitzen und jedem ganz offen zeigen können, dass ihr Herz jemandem gehörte.
Sie hatte es satt, all ihren Freunden etwas vormachen und vorlügen zu müssen.
Sie wollte keine geheime Beziehung führen.
Mit ihrer Zweit-Identität als Ladybug war ihr Leben schon kompliziert genug. Warum konnte dann nicht wenigstens ihre Beziehung einfach und unkompliziert und normal sein?
Sie war unheimlich glücklich mit Cat Noir und konnte sich nicht vorstellen, ihn wieder aufzugeben. Aber sie vermisste die Träume und Vorstellungen, die sie früher gehabt hatte.
Sie spürte, dass sich zwar ihre Gefühle verändert hatten, aber nicht ihre Wünsche.
Sie wollte keine Aufregung. Die Geheimniskrämerei hatte für sie keinen Reiz. Sie wollte das, was alle andern hatten.
Ein Partner, mit dem sie ihren Alltag bestreiten konnte – mit dem sie über ganz alltägliche Dinge lachen konnte.
Ein Partner, der ihr mitten in der Schulcafeteria etwas ins Ohr flüstern konnte – genau so, wie es Nino bei Alya tat.
Marinette wollte mit ihrem Glück und ihrem Lachen genauso ihr Umfeld erhellen, wie ihre Freundin gerade.
Sie spürte, wie ihr eine Träne die Wange hinab lief.
Im Stillen verfluchte sie Adrien für seine Anteilnahme. Wenn er sie nicht so direkt darauf hingewiesen hätte, wäre dieser verwirrende und ungebetene Wunsch nach Normalität in irgendeinem Winkel ihres Herzens geblieben und hätte sie nun nicht so gequält.
Doch jetzt hatte er sich in ihr materialisiert und würde so bald nicht wieder verschwinden.
Auf einmal schob sich ein breiter, muskulöser Oberkörper in ihr Sichtfeld.
Es war Adrien.
»Marinette.«, sagte er leise, »Tu dir das nicht an!«
Es war schon zu spät.
Sie spürte, wie ihr Unterkiefer zu Beben begann.
Freie Sicht auf Alya und Nino war gar nicht mehr nötig, damit sie vor sich sah, was sie wollte und nicht haben konnte.
»Ich werde das niemals haben.«, dachte sie, und der Schmerz ließ die nächste Träne aus ihrem Auge rollen.
»Doch! Das wirst du!«
Verwirrt hob Marinette den Blick von Adriens Brust hinauf zu seinem Gesicht.
Hatte er gerade ihren Gedanken gehört?
Oder hatte sie ihn aus Versehen ausgesprochen?
»Du wirst jemanden finden, der perfekt zu dir passt und der dich glücklich macht. Jemanden, der erkennt, was er in dir hat.«
»Sag so etwas nicht!«, fuhr sie ihn an und wischte sich mit einer energischen Handbewegung die Tränen von den Wangen.
»Nicht ausgerechnet du!«
Erschrocken von ihrer heftigen Reaktion erwiderte Adrien ihren Blick.
»Was?«, fragte er.
»Du bist doch an allem schuld!«
Marinette presste die Lippen aufeinander, um sicherzustellen, dass ihr der Rest ihrer Gedanken nicht auch noch herausrutschte.
»Du bist Schuld daran, dass ich dieses klare Bild von meiner Zukunft im Kopf habe.
Du bist Schuld daran, dass ich mir etwas wünsche, das ich mit Cat Noir nicht haben kann.«
Adriens Gesichtsausdruck wechselte von erschrocken zu ehrlich geschockt.
»Er hat meinetwegen mit dir Schluss gemacht?«
Marinette brauchte einige Sekunden, bis sie begriff, was seine Frage bedeutete. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf.
Sie atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, gegen das Gefühlschaos in ihrem Innern anzugehen.
Zum Glück fiel ihr schon nach wenigen Sekunde eine halbwegs plausible Erklärung ein.
»Nein, natürlich nicht.«, antwortete sie auf Adriens Frage. Sie hob den Kopf und sah ihn wieder an.
»Aber du bist schuld, dass ich mich jetzt so schrecklich fühle. Ich wollte nicht über Gestern reden oder darüber nachdenken. Ich wollte es einfach nur vergessen!
Aber du hast eine große Sache daraus gemacht und immer wieder damit angefangen!«
»Es tut mir leid! Ich wollte dir nur helfen.«
»Indem du mir irgendwelche Dinge versprichst, auf die du keinen Einfluss hast?
Woher willst du denn wissen, dass ich jemals so etwas haben werde, wie die beiden? Woher?«
»Weil ich dich kenne, und im Gegensatz zu diesem Idioten weiß, was ich an dir habe.«
Obwohl sie ihn gerade so aggressiv angegangen war, hatte er schon wieder diesen sanften Ausdruck auf dem Gesicht, der Marinette bereits am Morgen so fertiggemacht hatte.
»Menschen, die so viel Herz haben wie du - die so klug und außergewöhnlich sind, wie du - bleiben nicht allein, wenn sie es nicht wollen. Es gibt da draußen jede Menge Typen, die alles für ein Mädchen wie dich tun würden, Marinette.«
»Sag so etwas nicht.«
Diesen Satz hatte sie kurz zuvor schon einmal zu ihm gesagt. Diesmal jedoch klang ihre Stimme dabei leise und kraftlos.
Ohne jede Vorwarnung kam Adrien einen Schritt auf sie zu, legte den Arm um sie und zog ihren Kopf an seine Brust.
Marinette war so überrascht von der Umarmung, dass sie es einfach geschehen ließ.
»Ich finde es unerträglich, zu sehen, was dieser Kerl dir angetan hat.«, hörte sie ihn sagen.
Er redete sehr leise, aber sein Mund war dabei so nah an ihrem Ohr, dass sie jedes Wort verstand.
»Ich würde dir so gern zeigen, was ich in dir sehe. Dann wüsstest du, dass dieser Kerl keine einzige vergossene Träne wert ist, dass du viel zu gut für ihn bist, und dass er taub und blind sein muss, wenn er dich hat gehen lassen.«
Marinette hatte die Augen geschlossen und hörte auf Adriens Herzschlag.
Sie genoss den warmen Klang seiner Stimme.
Und obwohl er über ein Thema redete, dass sie überhaupt nicht beschäftigte und rein gar nichts mit ihrem aktuellen Problem zu tun hatte, waren seine Worte tröstlich; genauso wie sein starken Arme und die Wärme seines Körpers.
Auf einmal sah Marinette die Szene von außen: Wie sie mit Adrien am Ausgang der Cafeteria stand und er sie umarmte.
Und mit einem schmerzhaften Stich in ihrer Magengegend wurde ihr bewusst, dass es genau das war, was sie sich wünschte.
So hatte sie es sich immer vorgestellt.
Alya und Nino, und sie und Adrien – vier beste Freunde, die zu zwei glücklichen, verliebten Paaren wurden, und ihre Schulzeit miteinander teilten.
Früher hatte sie es sich richtig bildlich vorgestellt, wie sie auf Doppel-Dates gehen und jede Menge Spaß miteinander haben würden; wie sie gemeinsam durch die Flure der Schule und die Straßen von Paris laufen würden.
Obwohl es diese Erlebnisse niemals gegeben hatte, fühlte es sich wie eine Erinnerung an.
Eine schmerzhaft-schöne Erinnerung.
Marinette verspürte den Impuls, Adriens Umarmung zu erwidern - die Arme um seinen Oberkörper zu legen, und sich noch enger an ihn zu drücken.
Sie wusste, dass sie nicht ihn vermisste.
Aber sie vermisste die Gegenwart und Zukunft, die sie mit ihm hätte haben können, und diese beiden Gefühle waren nur sehr schwer voneinander zu unterscheiden.
Aber sie folgte dem Impuls nicht.
Sie wusste ebenfalls, dass es falsch gewesen wäre.
Denn alles an dieser Situation war falsch: Dass Adrien sie umarmte, dass er ihr reihenweise Komplimente zuraunte und dass sie darüber nachdachte, wie es wäre, seine feste Freundin zu sein.
Sie öffnete die Augen und schob ihn von sich.
»Du darfst so etwas nicht tun!«, sagte sie entschieden und sah ihn mit einem strafenden Blick an.
»Was meinst du?«, fragte er mit sichtlicher Verwirrung im Gesicht.
»Du darfst all diese Dinge nicht zu mir sagen und du darfst mich auch nicht auf diese Weise umarmen.«
»Wieso nicht?« Jetzt war die Verwirrung nicht mehr nur in seinen Gesichtszügen, sondern auch in seiner Stimme.
Und irgendwie hatte Marinette das Gefühl, dass es nicht ihre Worte waren, die ihn so verwirrten, sondern die Nachwirkungen der Umarmung.
»Wir sind doch Freunde.«, fügte er noch hinzu. »Es sollte kein Problem sein.«
»Aber es ist ein Problem - weil ich nicht irgendeine Freundin bin. Und weil du eine feste Freundin hast, die nicht in der Stadt ist und die keine Ahnung hat, was du hier tust.«
Adrien senkte den Blick.
»Ich wollte doch nur, dass du weißt, wie wertvoll du bist.«, sagte er leise.
»Hör endlich auf damit.«
Ihre Stimme klang nun deutlich sanfter - halb aus Erschöpfung, halb aus Mitleid.
»Du bist nicht der Richtige, um mir solche Dinge zu sagen. Und du bist auch nicht der Richtige, um mich vor Schmerz beschützen zu wollen oder um mich zu trösten.
Lass es einfach, ja?«
Er nickte.
Sein trauriger Gesichtsausdruck hätte sie beinahe einknicken lassen, doch Marinette riss sich zusammen und tat das einzig Richtige.
Sie drehte sich um und ging davon.
Marinette lag auf ihrem Bett, Arme und Beine von sich gestreckt, und starrte an die Decke.
Eigentlich musste sie ihre Hausaufgaben erledigen, doch dazu fehlte ihr im Moment der Nerv. Sie war innerlich viel zu aufgewühlt.
Die Gedanken und Gefühle der vergangenen Stunden wirbelten durch ihren Kopf und so sehr sie sich auch anstrengte: Sie bekam einfach keine Ordnung in das Durcheinander.
Das Einzige, was ganz deutlich über all dem schwebte, war die Sehnsucht nach Cat Noir.
Sie vermisste ihn gerade ganz schrecklich. Sie wollte nichts lieber, als sich an ihn zu drücken und alles andere zu vergessen.
»Marinette?«
Mit einem zurückhaltenden Gesichtsausdruck tauchte Tikki in ihrem Blickfeld auf.
»Ich denke, wir sollten darüber reden.«
»Worüber?«
»Cat Noir, Adrien – die ganze Sache.«
»Was gibt es denn da zu bereden?«
»Marinette,«, Tikki setzte den einfühlsamen Blick auf, den sie so meisterhaft draufhatte.
»Ich mache mir Sorgen. Du musst unbedingt vorsichtig sein!«
Marintte verstand nicht, worauf ihr Kwami hinauswollte.
»Wobei soll ich vorsichtig sein?«
»Bei allem, was mit Adrien zu tun hat.«
Marinette schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf. »Adrien ist nicht das Problem.«
»Bist du dir da sicher? Dass du noch Gefühle für ihn hast, könnte zu gefährlichen Komplikationen führen.«
Marinette öffnete die Augen und erwiderte Tikkis Blick.
»Aber ich habe keine Gefühle mehr für ihn. Er ist nur noch ein Freund.«
»Und was war das dann heute?«
Marinette seufzte. Sie war zu erschöpft für dieses Gespräch.
»Glaub mir bitte einfach. Das heute hatte nur indirekt mit Adrien zu tun. Und ganz sicher nicht mit eventuellen Gefühlen für ihn.«
Tikki sah noch nicht völlig überzeugt aus.
»Vergiss bitte nicht, dass dein Verhalten Auswirkungen auf ganz Paris hat. Du darfst Cat Noir auf keinen Fall das Herz brechen! Und du darfst ihn auch nicht aus Versehen dazu bringen, dir das Herz zu brechen.«
»Mir das Herz brechen?«, fragte Marinette verwirrt nach. »Warum denkst du, dass so etwas passieren könnte?«
Tikki antwortete nicht sofort und Marinette konnte nicht genau erkennen, warum.
Musste sie erst eine geeignete Antwort formulieren oder zögerte sie aus einem anderen Grund?
»Ich meinte damit nur, dass du keine Missverständnisse zwischen euch zulassen darfst. Cat Noir liebt dich und er ist bereit, alles zu tun, damit du glücklich bist - sogar, dich zu verlassen.
Wenn du ihn also glauben lässt, dass dir in eurer Beziehung etwas fehlt, könnte das Ganze ein unschönes Ende nehmen.«
Marinette brauchte einen Moment, um diesen Gedanken zu verarbeiten. Als sie weiterredete, klang ihre Stimme zögerlich.
»Und was ist, wenn mir tatsächlich etwas Wichtiges in unserer Beziehung fehlt?«
»Dann solltest du versuchen, so schnell es geht, etwas dagegen zu unternehmen.
Rede mit ihm darüber und sucht gemeinsam nach einer Lösung. Oder finde einen Weg, darauf zu verzichten. Finde Alternativen.«
Marinette schloss wieder die Augen.
Alternativen zu einem gemeinsamen Alltagsleben? Gab es so etwas überhaupt?
Einige Minuten später richtete sie sich abrupt von ihrem Bett auf. Tikkis Ratschläge hatten sie tatsächlich auf eine Idee gebracht.
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