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Marinette flog über die Dächer von Paris hinweg, als ob es keine Schwerkraft gäbe.
Der Wind strich ihren roten Ladybug-Anzug entlang und legte sich als kühle Schicht über ihren ganzen Körper. Doch sie genoss das Gefühl.
Nicht einmal in ihrem unbedeckten Gesicht spürte sie die nächtliche Kälte.
Sie prallte von ihrem glücklichen Lächeln einfach ab.
Geräuschlos landete sie auf dem kleinen Balkon ihres Zimmers und verwandelte sich zurück.
Als Tikki erschien, sagte sie nichts und erwiderte nur mit einem wissenden Lächeln Marinettes Blick.
Marinette biss sich auf die Unterlippe, lehnte sich gegen das Geländer des Balkons und holte tief Luft.
Hatte herbstliche pariser Nachtluft schon immer so gut gerochen?
Es war schon spät, doch an Schlaf war nicht zu denken.
Sie blieb noch eine Weile auf dem Balkon stehen und griff schließlich nach ihrem Handy: Drei verpasste Anrufe und eine Nachricht von Alya.
Es war eine Situation, wie es sie schon unzählige Male gegeben hatte - und doch war in dieser Nacht alles anders.
Marinette lächelte in sich hinein, als sie die Nachricht ihrer besten Freundin öffnete.
Die Meldung von dem Superschurken war nur ein Fehlalarm.
Tut mir leid, dass wir dich so haben stehen lassen. Ich hoffe, du hattest trotzdem einen schönen Abend. Was hast du noch so gemacht, dass du nicht zu erreichen warst?
Ohne noch einmal darüber nachzudenken, begann Marinette eine Antwort zu tippen.
Ich habe mich mit Cat Noir auf einem Dach getroffen - ich bin übrigens Ladybug, falls du das noch nicht wusstest - und nachdem ich ihm endlich meine Gefühle gestanden habe, haben wir den ganzen Abend wild rumgeknutscht.
Und du? Hattest du einen schönen Abend mit Nino?
»Marinette! Was tust du denn da?«, fragte Tikki mit deutlicher Erregung in der Stimme.
Sie hatte über ihre Schulter hinweg die Nachricht mitgelesen.
»Hey, schon mal was von Privatsphäre gehört?«
Marinette kippte den Handybildschirm zur Seite und sah ihr Kwami mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Doch schon im nächsten Moment musste sie grinsen und erwiderte: »Jetzt schau nicht so geschockt! Ich werde das natürlich nicht abschicken.«
»Und warum tippst du es dann ein?«
»Hast du noch nie so getan, als wäre die Lage anders, als sie tatsächlich ist, nur weil dir die Vorstellung davon gefallen hat?«
»Marinette, das gefällt mir irgendwie nicht.«
»Du verstehst das nicht, Tikki. Sie ist meine beste Freundin und heute Abend hat sich meine komplette Welt verändert. Ich würde ihr so unheimlich gern davon erzählen! «
»Aber du weißt, dass du das nicht kannst.«
»Natürlich weiß ich das. Aber darf ich nicht wenigstens Mal für einen kurzen Moment davon träumen?«
Tikkis Gesichtsausdruck war noch immer voller Skepsis.
»Du solltest aufpassen, was du dir wünschst, Marinette. Sonst machst du irgendwann noch etwas Dummes.«
»Jaja, ich verrate schon nicht aus Versehen Ladybugs Identität.«, meinte Marinette und sah wieder auf ihr Handy hinab.
Als sie die knappe Meldung »Nachricht versandt« vor sich sah, wollte sie den Inhalt des Displays schnell vor ihrem Kwami verstecken, doch es war schon zu spät.
»Das hast du wirklich ganz, ganz toll gemacht, Marinette!«, sagte Tikki mit völlig untypischem Sarkasmus in der Stimme.
Sie sah Marinette mit einem strafenden Blick an, der es sogar schaffte, ihre Höhenflug-Laune zu dämpfen.
»Uuups ....«, sagte Marinette gedehnt - noch unsicher, um sie darüber in Lachen oder Panik ausbrechen sollte.
Marinette lag wach in ihrem Bett und starrte an die Zimmerdecke.
Sie fühlte sich absolut seltsam.
Ein Teil ihres Kopfes ließ ständig kurze Rückblenden an den Abend mit Cat Noir vor ihr aufblitzen - Erinnerungen an seine Berührungen, seinen Blick und seine Küsse. Und schon allein das war kaum auszuhalten.
Das warme, glückliche Kribbeln in ihrem Buch wurde durch eine Mischung aus Aufregung und Sehnsucht am Laufen gehalten. Absolut unmöglich, dabei einzuschlafen.
Und als ob das nicht genug wäre, war da auch noch die Sache mit Alya, die sie beschäftigte.
»Du kannst jetzt nur abwarten.«, hatte Tikki gesagt, kurz bevor sie auf einem Kissen neben Marinettes Kopfkissen eingeschlafen war.
Und leider hatte sie damit recht.
Selbst für Ladybug gab es keine Möglichkeit, Alya jetzt noch am Lesen der Nachricht zu hindern.
Mal ganz davon abgesehen, dass sie von Einbrüchen nichts verstand, gab es da noch den Hund der Familie Césaire.
Magnus war zwar nicht sonderlich groß, aber Kläffen konnte er dafür umso lauter. Er würde nicht nur Alya aufwecken, sondern auch ihre große Schwester Nora, eine profesionelle Boxerin, ihren Vater, der so etwas wie ein Tierflüsterer war und wahrscheinlich sogar den süßen Magnus in eine wilde Bestie verwandeln konnte, und ihre Mutter Marlena, die als Köchin nicht nur stark und geschickt war, sondern auch sehr geübt im Umgang mit Messern und Bratpfannen.
Marinette glaubte nicht, dass die Familie Césaire Ladybug tatsächlich etwas antun würde. Aber darauf anlegen wollte sie es nicht.
Außerdem würde sie nicht genügend Zeit haben, um die Nachricht von Alyas Handy zu löschen, bevor sie entdeckt wurde.
Auf den Morgen warten war also das Einzige, was sie jetzt tun konnte.
Obwohl sie von der erwartete große Panik verschont geblieben war, wurde Marinette von dieser Sache genauso wachgehalten wie von den Gedanken an Cat Noir.
Sie glaubte nicht so recht, dass die Nachricht tatsächlich eine riesen Katastrophe war, aber die Folgen konnte sie auch nicht abschätzen.
Einem winzigen Teil von ihr gefiel sogar die Vorstellung, dass Alya vielleicht schon am nächsten Morgen Bescheid wissen würde.
Dann könnte sie ihr endlich von all den Dingen erzählen, die sie gerade beschäftigten.
Von dem zurückliegenden Liebeskummer über Adrien, von der neuen Freundschaft mit Cat Noir, der stetigen Annäherung, bis hin zu dem Kuss während der Auszeit-Minute auf dem Trampolin.
Und dann natürlich noch von dem großen, erlösenden Finale, als sie ihre Ängste endlich aufgegeben und ihren Gefühlen für Cat Noir nachgegeben hatte.
Es klang fast zu schön, um wahr zu sein:
Endlich keine Lügen und Geheimnisse mehr vor ihrer besten Freundin. Endlich jemand, mit dem sie über all das Reden konnte.
In ihrer Vorstellung sah Marinette sich und Alya schon gemeinsam über die Dächer von Paris turnen und dabei über Jungs, die Schule und das Leben reden - als Ladybug und Rena Rouge.
Ein lautes Krachen ließ Marinette aus dem Schlaf schrecken.
Sie blinzelte in die Dunkelheit und versuchte, sich zu orientieren, als sie eine laute Stimme hörte, die ihren Namen sagte.
»Marinette?«
War das ihre Mutter? Warum klang sie so schrill?
Das Deckenlicht flammte auf und Marinette schrie überrascht auf, bevor sie sich schnell die Hand auf die Augen presste.
»Marinette Dupain-Cheng!«, donnerte ihre Mutter und kam mit polternden Schritt auf das Hochbett ihrer Tochter zu.
Marinette hatte Mühe, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Was war nur los?
Eben noch hatte sie hellwach in ihrem Bett gelegen und jetzt auf einmal ...
»Schämst du dich denn überhaupt nicht, deiner Mutter so etwas anzutun?«
»Was?«, stammelte Marinette und versuchte blinzelnd, ihre Augen an das Licht zu gewöhnen.
Als ihre Mutter die nächste Frage abfeuerte, war sie so nah, dass Marinette am ganzen Körper zusammenzuckte.
»Wann bist du nach Hause gekommen?«
»Ich ...« Marinette versuchte sich zu erinnern, doch der Schlaf vernebelte ihr noch immer die Gedanken.
»Versuch jetzt ja nicht, dich rauszureden! Ich weiß so wie so, dass du viel zu spät gekommen bist!«
Zu spät? Wieso zu spät?
Marinette erinnerte sich noch daran, wie sie sich an diesem Abend schweren Herzens von Cat Noir getrennt hatte, genau rechtzeitig, um 11.00 Uhr wieder zu Hause zu sein - so, wie es mit ihren Eltern abgemacht war.
»Hast du tatsächlich geglaubt, dass ich einfach vergesse, wie ich die halbe Nacht auf meine minderjährige Tochter gewartet habe? Wie ich mir Sorgen gemacht habe?«
Endlich konnte Marinette die Augen weit genug offen halten, um den Blick ihrer Mutter zu erwidern.
Und wenn sie es bisher nicht schon an ihrer Stimme und ihren Worten gemerkt hätte, wäre es ihr spätestens beim Blick in die Augen ihrer Mutter aufgefallen: Die Lage war ernst.
Gefährlich ernst.
»Glückwunsch, Marinette! Du hast heute Nacht jeden einzigen Fehler gemacht, den man als jugendliche Rumtreiberin seinen Eltern gegenüber nur machen kann.
Soll ich dir erzählen, wie meine Nacht bisher so gelaufen ist?«
Es war ganz offensichtlich keine Frage, auf die sie eine Antwort erwartete.
»Zuerst war ich noch sehr ruhig. Ich habe mir gedacht: »Meine Tochter ist so verantwortungsvoll und verlässlich. Sie ist bestimmt nur zu spät, weil sie irgendwie aufgehalten wurde, und wird sich jeden Moment bei mir melden.« Aber es kam keine Nachricht. Also habe ich versucht, dich anzurufen - Handy aus.
Du weißt ganz genau, dass du immer erreichbar sein sollst. Wir wohnen nicht in irgendeinem kleinen Dorf in der Provence, Marinette! Das hier ist Paris!
Du kannst froh sein, dass wir dich überhaupt so lang draußen bleiben lassen!«
Ganz langsam begann Marinette zu begreifen, was passiert war.
Doch es war ganz sicher nicht der Moment, um den Mund aufzumachen - ganz davon abgesehen, dass sie keine gute Erklärung gehabt hätte.
»Selbst an diesem Punkt hätte ich noch ruhig mit mir reden lassen.«, wetterte ihre Mutter weiter.
»Aber als ich dann Alya angerufen habe - mit der du angeblich unterwegs sein wolltest - und sie mir gesagt hat, dass ihr euch bereits am Nachtmittag getrennt habt ... Ich muss dir wohl nicht beschreiben, was das mit mir und deinem Vater gemacht hat.
Verdammt, Marinette, wir haben die Polizei gerufen! Und dein Vater ist jetzt noch überall in der Stadt unterwegs, um nach dir zu suchen.
Wie konntest du uns das nur antun? Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie das ist? Eine Vermisstenanzeige bei einem Polizisten aufgeben zu müssen und ihm absolut gar nichts sagen zu können - keinerlei Anhaltspunkt, wo oder mit wem unsere Tochter unterwegs sein könnte?
Und als wäre all das nicht genug, hast du dich auch noch heimlich an mir vorbeigeschlichen, als ich kurz am Esstisch eingenickt bin.
Hast du wirklich geglaubt, dass du damit durchkommst?«
Marinettes Mutter verstummt und sah ihre Tochter aus zusammengekniffenen, lodernden Augen an.
Diesmal war es eine Frage, auf die sie eine Antwort erwartete.
Leider gab es nichts, was Marinette darauf sagen konnte, außer:
»Es tut mir leid, Maman.«
Im Gesicht ihrer Mutter zuckte es.
Dann sagte sie knapp:
»Wir reden morgen früh darüber. Ich muss jetzt erst einmal deinen Vater anrufen, dass er zurückkommen kann.«
Damit drehte sie sich um und verschwand durch die Luke im Boden nach unten.
Marinette saß mit hängendem Kopf in ihrem Bett und rührte sich nicht.
Tikki, die sich in den vergangenen Minuten hinter einem der Kissen versteckt hatte, kam hervor und sah sie mitfühlend an.
Sie sagte nichts und Marinette war ihr dankbar dafür.
Sie hatte für eine Nacht genügend Gründe gehört, warum sie komplett und auf ganzer Linie versagt hatte.
Obwohl sie verstand, wie es dazu gekommen war, konnte sie es sich immer noch nicht so recht erklären.
So etwas war ihr noch nie passiert.
Schon in ihren ersten Tagen als Ladybug hatte sie sich damit beschäftig, wie sie ihre Zweitidentität vor ihren Eltern geheimhalten konnte. Und sie hatte eine einzige, simple Regel aufgestellt, an die sie sich seit dem jeden Tag gehalten hatte: Ihre Eltern durften sich nie fragen, wo sie gerade war.
Damit sie ihre Superhelden-Tätigkeit nicht störten, mussten sie ihr hundertprozentig vertrauen und das funktionierte nur, indem sie jederzeit ihren Aufenthaltsort kannten - oder zumindest glaubten ihn zu kennen.
Das Prinzip dahinter war ebenso simpel wie die Regel, auf der es beruhte: Wenn Marinette das Haus durch die Tür verließ, musste sie auch wieder durch die Tür zurückkommen, und das immer rechtzeitig.
Und wenn sie das Haus über ihr Dachfenster verließ - also als Ladybug - musste sie auch über das Dachfenster zurück in ihr Zimmer kommen, bevor sie irgendetwas anderes tun konnte.
Die Anordnung der Zimmer in ihrer Wohnung ließ gar kein anderes Vorgehen zu.
Ihre Eltern bekamen jedes Kommen und Gehen ihrer Tochter mit und es war viel zu riskant, sich an ihnen vorbeischleichen zu wollen.
Und es gab ja auch keinen Grund dafür.
Das Tür-und-Fenster-Prinzip war einfach und funktionierte.
Schon vor langer Zeit hatte Marinette aufgehört, darüber nachzudenken und es einfach nur angewandt.
Bis heute.
Denn heute hatte sie es zum allerersten Mal vergessen.
Für ihre Verabredung mit Alya hatte sie mittags das Haus durch die Tür verlassen. Und vorhin - punkt elf Uhr - war sie über den Balkon zurückgekehrt.
Marinette vergrub das Gesicht in den Händen.
Sie kam sich so unheimlich dumm vor!
Sie hatte ja sogar an die Zeit gedacht. Sie hatte bewusst darauf geachtet, nicht zu spät zu kommen.
Aber aus irgendeinem Grund hatte sie vergessen, auf welche Art sie 8 Stunden vorher das Haus verlassen hatte.
Aus irgendeinem Grund?
Nein, sie wusste ganz genau, warum ihr Verstand an diesem Abend versagt hatte.
Er war noch völlig vernebelt gewesen von dem Treffen mit Cat Noir.
Sie versuchte noch, sich einzureden, dass auch die Nachricht an Alya mit Schuld daran gewesen war, aber es wollte nicht so recht funktionieren.
Denn auch die versehentliche Nachricht an ihre Freundin war allein auf ihr von Liebe vernebeltes Gehirn zurückzuführen.
Cat Noir und sie waren noch keinen halben Tag ein Paar und schon brachte es sie in ernsthafte Schwierigkeiten.
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