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Als Marinette sich vor Jahren dazu bereit erklärt hatte, Ladybug zu sein, hatte sie die Konsequenzen dieser Entscheidung nicht einmal ansatzweise überblicken können.
Sie hatte geglaubt, dass sie weiterhin Marinette Dupain-Cheng, die pariser Schülerin und Bäckerstochter sein würde, und dass nur Ladybug der Teil von ihr war, der seine Identität verbergen musste.
Jetzt - so viele Geheimnisse, Ausreden & Beinahe-Entdeckungen später - wusste sie es besser.
Als Marinette trug sie keine offensichtliche Maske. Trotzdem musste sie ihre ehrlichen Gedanken und Gefühle vor jedem Menschen in ihrem Umfeld verbergen.
Es gab auf der ganzen Welt nicht einen einzigen Menschen, der beide Teile von ihr kannte.
Und das war wohl die eine Sache, die sie am Ladybug-Sein am allermeisten störte.
Besonders hasste sie es, Alya und ihren Eltern etwas vormachen zu müssen, und die ständige Unaufrichtigkeit machte ihr an manchen Tagen richtig zu schaffen. Selbst nach all der Zeit meldete sich noch regelmäßig ihr schlechtes Gewissen.
Seinem Gegenüber überzeugend etwas vormachen zu können, war keine Fähigkeit, auf die man stolz sein konnte. Daran änderten auch die dringende Notwendigkeit und die vielen, guten Gründe nichts.
In dieser Woche jedoch war Marinette zum allerersten Mal richtig dankbar für diese Fähigkeit.
Es fiel ihr überraschend leicht, den Schmerz und ihr gebrochenes Herz vor der Welt zu verbergen.
Weder ihre Eltern noch ihre Mitschüler bekamen mit, wie schlecht es ihr in Wahrheit ging.
Sie bekam es hin, zu lächeln.
Sie bekam es hin, zu antworten, wenn jemand sie etwas fragte.
Und sie bekam es sogar hin, Adrien gegenüberzutreten.
Sie weinte viel, aber nie ließ sie es jemanden sehen und auch das distanzieren von ihren sogenannten »Freunden« wurde ihr leicht gemacht; geschah beinahe von selbst.
Da sie nicht bereit war, sich mit Alya zu versöhnen, hatten sich auch die andern Mädchen aus ihrer Klasse von ihr distanziert. Wie Marinette erwartet hatte, hielten sie zu Alya - immerhin kannte nicht einmal Alya selbst den wahren Grund, für das Ende ihrer Freundschaft.
Sie fanden Marinettes Reaktion übertrieben und unfair, und bereits am Ende des zweiten Schultages hielten sie alle Abstand zu ihr.
Adrien hatte nicht viel übrig für derartige Streitereien unter Mädchen. Einige Male kam er an und wechselte ein paar Worte mit ihr. Aber auch er war nicht immun gegen den unterschwelligen Gruppenzwang, und als das Wochenende gekommen war, war Marinette offensichtlich auch in seinen Augen zu einer Ausgestoßenen geworden.
Es war ihr nur recht.
Je weniger Menschen mit ihr redeten, desto weniger Kraft musste sie für das Verbergen ihrer Gefühle aufwenden. Und Gesellschaft wollte sie im Moment sowieso nicht.
Ein paar Mal konnte sie ihre Mitschüler hinter ihrem Rücken über sich tuscheln hören. Sie bestätigten sich gegenseitig darin, wie sehr Marinette sich angeblich in den Ferien verändert hätte. Dass sie arrogant und gemein geworden wäre.
In gewisser Weise hörte sie dieses Urteil gern.
Es bedeutete, dass ihre Maske funktionierte.
Es bedeutete, dass ihre Maske genauso undurchschaubar war wie die rote Ladybug-Maske.
Für kaltherzig gehalten zu werden, war besser, als den eigenen Schmerz vor aller Welt auszubreiten.
In manchen Momenten vergaß sogar Marinette selbst, wie ihr Herz hinter der Maske aussah.
Eine Sache gab es jedoch, die sie mit absoluter Verlässlichkeit ihr gebrochenes Herz spüren ließ: jeder Blick, der auf Adrien traf, und jeder Gedanke, der sich mit ihm beschäftigte.
Auch wenn sie ihre Gefühle verbergen konnte - früher oder später ließ es sie immer zusammenbrechen. In irgendeinem verborgenen Winkel der Schule, hinter ihrer verschlossenen Zimmertür oder hoch oben auf einem pariser Hausdach.
Dementsprechend verzweifelt versuchte sie, Adrien aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie lenkte sich mit allem ab, was sie nur in die Finger bekam. Lernen für die Schule, Filme und Serien schauen, einem digitalen Uni-Vorbereitungs-Kurs.
Es funktionierte gar nicht mal so schlecht.
Solange sie ihren Kopf beschäftig hielt und ihm keine Möglichkeit zum Grübeln gab, war es beinahe erträglich.
Nur abends im Bett - wenn die Müdigkeit ihr Stück für Stück die Kontrolle über ihre Gedanken entzog - schaffte es Adriens Gesicht an all den Abwehrmauern vorbei.
Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, tauchte es vor ihrem inneren Auge auf. Unerwünscht und schmerzhaft.
Adrien - der Junge mit den blonden Haaren und den grünen Augen, der Junge, der ihr unwissentlich das Herz gebrochen hatte und den sie trotz alledem noch immer aus tiefsten Herzen liebte - war an jedem Abend das Letzte, was sie vor dem Einschlafen sah.
Als Marinette am Samstagabend über die Dächer von Paris lief, war sie noch immer unentschlossen.
Sie hatte sich in Ladybug verwandelt und sie hatte sich aufgerafft und ihr Zimmer verlassen. Trotzdem war sie sich unsicher, ob sie das Richtige tat.
Seit dem alles verändernden, ersten Schultag hatte sie Cat Noir nicht wiedergesehen.
Er hatte gesagt, dass er jeden Abend um 20.00 Uhr auf ihrem Lieblingsdach auf sie warten würde, doch sie war kein einziges Mal hingegangen.
Sie musste sich selbst eingestehen, dass er deutlich besser im Trösten gewesen war, als sie ihm vorher zugetraut hatte. Trotzdem hatte es sie nicht zu ihm hingetrieben.
Die Gesellschaft von Menschen in der Schule war schon belastend genug.
Außerdem hatte sie Angst davor, wie es von nun an mit ihm sein würde. Etwas Vergleichbares hatte es noch nie zwischen ihnen gegeben.
Der Gedanke an seine lockeren Sprüche und sein breites Grinsen behagte ihr nicht. Ja, es ließ sie beinahe auf dem Absatz kehrtmachen und zurück nach Hause gehen.
Doch die Einsamkeit war nicht so leicht zu ertragen, wie sie gedacht hätte. Und schlussendlich war es Tikki gewesen, die sie zum Rausgehen gebracht hatte.
»Wenn du ihm eine Chance gibst, wird er dich ja vielleicht wieder überraschen. Hat er am Montag nicht bewiesen, dass er auch mit schwierigen Themen umgehen kann?
Marinette, lass nicht zu, dass du ihn auch noch verlierst. Sowohl Ladybug als auch Paris brauchen Cat Noir.«
Das waren ihre Worte gewesen. Und Marinette hatte kein überzeugendes Gegenargument gefunden.
Also war sie nun hier - nicht einmal wissend, ob er überhaupt da sein würde. Nur noch zwei Schornsteine trennten sie vom vereinbarten Treffpunkt.
Ihre Schritte wurden langsamer. Und schließlich blieb sie ganz stehen.
Es war zu früh.
Sie war noch nicht bereit, wieder dem einzigen Menschen gegenüber zu treten, der wusste, was sie gerade durchmachte.
Wenn sie jetzt in seine Augen voller Mitleid sah ... Sie würde sofort wieder heulend zusammenbrechen.
Warum sollte sie sich das freiwillig antun?
Sie war nicht völlig allein. Sie hatte doch Tikki. Außerdem war Cat Noir -
»Ladybug!«
Cat Noir trat hinter einem Schornstein hervor. Er lächelte sie an.
Und da wusste sie, dass sie ihre Entscheidung nicht bereuen würde.
Marinette spürte nicht nur, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, zu kommen. Sie wusste auch instinktiv, dass Tikki rechtbehalten würde.
Cat Noir würde sie an diesem Abend wieder überraschen.
Schon allein sein lächelnder Blick vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, das ihr völlig unbekannt war, aber das schon in der allerersten Sekunde einfach nur guttat.
»Es freut mich, dass du gekommen bist.«, sagte er und kam auf sie zu.
Sie suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen für eine kommende, potenziell unangenehme Handlung von ihm, doch er stand einfach nur vor ihr und sah sie offen an.
Kein lästiges Mitleid. Kein sorgenvolles »Wie geht es dir?«.
Sie spürte bereits, wie sie sich etwas entspannte.
»Ich wusste nicht, ob du da sein würdest.«, sagte sie, um kein Schweigen aufkommen zu lassen.
»Ich hatte es dir doch versprochen.«
»Ja, ich weiß. Ich dachte nur, weil ich die letzten Tage nicht gekommen bin ...«
Er winkte ab und machte ein paar Schritte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Sie folgte ihm.
»Das soll jetzt wirklich nicht verletzend klingen oder so«, fuhr er fort, »aber ich hatte auch ohne dich ein paar sehr schöne Abend hier oben. Ich bin am überlegen, dieses Dach auch zu meinem Lieblingsplatz zu machen.«
Er grinste sie leicht schräg an.
»Hey! Such dir etwas Eigenes! Ich war zuerst hier.«
Zu ihrer eigenen Überraschung klangen die Worte so scherzhaft-empört, wie es beabsichtigt gewesen war.
»Keine Sorge. Ein Wort von dir genügt, und ich mache für immer einen großen Bogen um dieses Dach.«
Sie waren an besagter Stelle angekommen und standen nebeneinander, vor sich den einzigartigen Ausblick, den Marinette so sehr liebte.
»Du darfst ruhig herkommen.«, sagte sie versöhnlich und warf Cat Noir ein kurzes Lächeln zu. »Dieser Ausblick ist zu schön für einen allein.«
»Das weiß ich zu schätzen.«
Sie schwiegen eine Weile.
Dann zog Cat Noir auf einmal wie aus dem Nichts eine Gebäckschachtel hervor und hielt sie ihr hin.
»Lust auf Macarons?«
Überrascht sah Marinette auf die kleinen, bunten Gebäckstücke - zu viele, als dass sie sie auf die Schnelle hätte zählen können.
Eigentlich hatte sie gerade weder Hunger noch Appettit, aber Cat Noirs freudiger Blick ließ sie nach einem rose Macaron greifen.
»Danke.«
Sie biss hinein und während sie kaute, wurde ihr auf einmal etwas bewusst. Sobald sie den Mund wieder frei hatte, fragte sie erschrocken: »Du bist doch nicht etwa seit Montag jeden Tag mit so einer riesigen Schachtel Macarons hier hochgekommen, oder?«
Verlegen rieb Cat Noir sich den Nacken. Dann sagte er leise, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen: »Am Mittwoch waren es Teigtaschen.«
»Cat!«
»Schon ok.«, unterbrach er sie hastig. »Ist doch keine große Sache.«
»Doch, ist es! Und es tut mir sehr leid, dass ich nicht gekommen bin.«
»Du musst dich doch nicht entschuldigen.«
Er sah sie aus sanften Augen an und sofort wurde ihr schlechtes Gewissen weniger.
»Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Absolut gar nichts.«
Seine bestimmten Worte ließen auch den letzten Rest Schuldgefühl verschwinden.
Ganz leicht lächelte Marinette ihn an.
»Ich wünschte, ich hätte heute das Abendessen ausgelassen.«
»Keine Sorge.« Er grinste geheimnisvoll. »Ich habe heute noch etwas mit dir vor, das dich bestimmt hungrig macht.«
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