7

Marinette war Cat Noir ehrlich dankbar für sein Schweigen.
Schon eine ganze Weile lang saß er einfach nur stumm neben ihr, sah in die Ferne und ließ sie weinen.
Für weiteres Schluchzen fehlte ihr inzwischen die Kraft, doch die Tränen liefen noch immer in einem steten Strom ihr Gesicht hinab, tropften nach unten und perlten dann vom Stoff ihres Ladybuganzuges ab.
Ihr fiel auf: Es war das allererste Mal, dass Ladybug weinte.

Sie rechnete schon fast damit, dass sie noch die ganze Nacht heulend neben Cat Noir auf diesem Dach hocken würde. Doch irgendwann war das schier endlose Depot an Tränen endlich aufgebraucht.
Der Schmerz hatte kein bisschen nachgelassen, aber zumindest war so etwas ähnliches wie Ruhe in ihrem Innern eingekehrt; eine Art Taubheit oder Leere.

Sie drehte den Kopf und sah hinüber zu Cat Noir. In die Stille hinein sagte sie zu ihm: »Du musst nicht noch länger hier rumsitzen. Geh ruhig!«
Er musterte sie mit leicht zusammengekniffen Augen.
»Kommst du sicher allein nach Hause?«
»Hast du Angst, dass ich hier oben von jemandem überfallen werde?«

Es hatte ein Scherz sein sollen, doch ein Lächeln brachte sie noch nicht wieder zustande und auch ihre Stimme klang zu kratzig und tonlos.
Doch wahrscheinlich war das am Ende auch egal. Vermutlich hätte auch eine gelungenere Darbietung kein Grinsen auf Cat Noirs Gesicht verursacht.
Bei diesem Thema verstand er keinen Spaß.

»Du wärst vorhin bei deinem Weg nach Hause beinahe gestorben!«
Er klang ernst und energisch und sogar ein wenig bedrohlich.
»Aber ich bin nicht gestorben. Letztendlich habe ich es doch wie immer geschafft.«
»Ja, aber nur, weil ich gerade noch rechtzeitig da war, um dich zu retten.«
»Mich zu retten?«
Verwirrt sah sie ihn an. »Was meinst du damit?«

»Hast du das gar nicht mitbekommen? Ich habe meinen Stab benutzt, um ... ach, ist doch auch egal.
Ich will nur sichergehen, dass so etwas heute kein zweites Mal passiert.«
»Du weißt genau, dass du mich nicht nach Hause begleiten kannst.«
»Genau deswegen werde ich so lang mit dir hier sitzen, bis ich mir sicher bin, dass deine Verfassung gut genug ist.«

Erschöpft schloss Marinette die Augen und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Dann holte sie tief Luft und sah Cat Noir wieder direkt an.
Sie legte jedes Bisschen Sicherheit und Nachdruck in ihre Stimme, das sie zusammenkratzen konnte, und sagte: »Mir geht es gut.«

Ganz langsam schüttelte ihr Gegenüber den Kopf.
»Dir geht es nicht gut.«
Sie wollte widersprechen, aber sein eindringlicher Blick hielt sie davon ab. Nichts, was sie sagte, würde ihn vom Gegenteil überzeugen.
Also ließ sie es so stehen.

»Ich kann mich unten auf der Straße zurückverwandeln und mit dem Bus nach Hause fahren.«, schlug sie nach einer kurzen Bedenkpause vor.
Cat Noir willigte mit einem Kopfnicken ein. Er machte schon Anstalten, sich von der Dachkante zu erheben, als er innehielt und sich wieder zu ihr umwandte.

»Du solltest jetzt nicht allein Zuhause sein.«, meinte er und schloss mit seiner Formulierung ganz bewusst schon im Vorhinein jeglichen Widerspruch aus.
»Hast du jemanden, der jetzt bei dir sein kann? Jemanden aus deiner Familie? Eine Freundin? Einen ...«, er stockte kurz, »Freund?«
Er hatte die falschen - die völlig falschen - Worte für seine Frage gewählt!

Sofort schossen Marinette wieder die Tränen in die Augen und sie vergrub schnell das Gesicht in den Händen, um das Schluchzen zu unterdrücken.
»Ladybug! Was ...«
Verständlicherweise hatte Cat Noir keine Ahnung, was er falsch gemacht hatte oder wie er reagieren sollte.
Etwas unbeholfen strich er ihr wieder tröstend über den Arm.
»Es tut mir leid. Ich wusste nicht ...«
Er stammelte noch kurz herum und verstummte dann.

Diesmal ertrug er ihren Zusammenbruch nur deutlich kürzer. Schon nach einer Minute fragte er vorsichtig nach.
»Hast du ... jemanden verloren?«
Ja, sie hatte jemanden verloren. Nicht auf die Weise, die er meinte, aber genauso endgültig.

»Du musst nicht darüber reden. Aber bitte, Ladybug: Ich muss wissen, dass du nicht allein sein wirst! Sonst werde ich mir bis zu unserem nächsten Wiedersehen in jeder einzelnen Sekunde Sorgen um dich machen.«
»Ich ... habe niemanden.«
Marinette war selbst überrascht über diese Worte.
Aber in gewisser Weise stimmten sie wohl.

»Ladybug ...«, sagte Cat Noir, beinahe nur noch flüsternd. Dann legte er seinen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich.
Mit dem Kopf an seiner Brust und abgeschirmt von der Außenwelt durch seinen festen Griff wurde sie schon bald wieder ruhiger.

Sie wusste nicht, wie oft sie an diesem Tag noch in Tränen ausbrechen würde.
Aber sie wusste, dass Cat Noir sie nach all dem auf keinen Fall damit allein lassen würde. Und überraschenderweise war das gar nicht mehr so schlimm.

Am zweiten Tag in Folge saß Marinette mit Cat Noir auf einem pariser Dach, während die Nacht anbrach.
Trotzdem war alles anders als am Tag zuvor.
Ihre Welt war inzwischen eine andere.

»Ist es wahr?«
Sie wandte sich zu ihm um und versuchte, aus seinem halb verdeckten Gesicht abzulesen, was genau er meinte.
»Ist was wahr?«
»Dass es niemanden gibt, der für dich da ist.«
Sie zuckte undefiniert mit den Schultern.

»Du solltest dich irgendjemandem anvertrauen.«
Er sah sie entschuldigend an, doch sie war sowieso viel zu erschöpft, um wegen so einer Bemerkung verärgert zu sein.
Womöglich hatte er damit sogar recht.

Normalerweise hätte sie in so einer Lage Alya angerufen und die wäre gekommen und hätte sie in allerbester Freundinnen-Manier getröstet - mit Taschentücherreichen, Zuhören und allem, was sonst noch dazugehörte.
Aber Alya war zu einem großen Teil mitverantwortlich für Marinettes Schmerz. Und im Moment gab es keinen Menschen, den sie weniger gern sehen wollte.

»Ich sage ja nicht, dass ich der Mensch sein muss, mit dem du redest, aber ...«
Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch er redete schon weiter.
»Ich weiß, ich weiß! Ich darf nichts über dein Leben wissen. Aber du könntest es doch ganz allgemein halten. Details verfälschen, keine Namen nennen, Orte und Abläufe verändern ...«

Er sah ihr offenbar an, dass sie nicht überzeugt war.
»Ich kann dir auch versprechen, dass ich danach alles sofort wieder vergesse! Alles, was du mir sagst, wird nie wieder erwähnt. Es bleibt in dieser Nacht und auf diesem Dach.
Bitte, Ladybug, lass mich dir helfen!«
Seine Leidenschaftlichkeit und Anteilnahme ließ sogar ein kleines Lächeln auf Marinettes Lippen erscheinen.
Es war lieb von ihm, sich so für ihr Wohlergehen einzusetzen. Trotzdem musste sie seinen Vorschlag zurückweisen.

»Glaub mir, Cat: Du bist der Allerletzte, mit dem ich darüber reden sollte.«
Er sah sofort tief gekränkt aus. Das war keinesfalls beabsichtig gewesen und so versuchte sie, etwas deutlicher zu werden.
»Du weißt doch, was ich damit meine, oder?«
Seine Antwort kam nur ganz leise und klang extrem niedergeschlagen.
»Weil wir uns dafür nicht nah genug stehen.«
»Nein, du Dummkopf!«

Sie hatte es nicht aussprechen wollen, doch seine Begriffsstutzigkeit ließ ihr keine andere Wahl:
»Ich kann nicht mit dir darüber reden, weil es dabei um einen Jungen geht.«
»Oh.«
Mehr brachte er erst einmal nicht heraus. Peinlich berührt rieb er sich den Nacken und sah zur Seite.

Marinette hätte erwartet, dass das Gespräch damit beendet wäre, aber seine Entschlossenheit war nicht nur Fassade gewesen.
Schon nach kürzester Zeit räusperte er sich und sah sie wieder an.

»Du ... ähm ... hast also ... Liebeskummer?«
Es hätte direkt amüsant sein können, mit wie viel Widerwillen und gleichzeitigem Bemühen um Unvoreingenommenheit er diese Frage stellte.
Leider war Marinette in der völlig falschen Stimmung. Und der Inhalt von Cat Noirs Frage nahm ihr auch noch den letzten, winzigen Rest Heiterkeit.
Liebeskummer.
Wie schrecklich sich dieses Wort anhörte!
Leider traf es den Nagel auf den Kopf.

»Du musst dir das wirklich nicht antun, Cat.«
Auch Marinette wollte gern wieder aus dieser unangenehmen Situation heraus.
»Mach dir keine Gedanken um mich. Jetzt geht es nur um dich.
Also, was hat dieser Dreckskerl gemacht?«
»Hey! Er ist kein Dreckskerl!«
»Wenn er dich so sehr zum Weinen bringt, ist er einer. Und dazu noch ein völliger Idiot, weil er nicht erkennt, was er in dir hat!«

Wenn sie ihm nun einen Namen genannt hätte, wäre Cat Noir vermutlich sofort losgestürmt, um Adrien für seine Taten zu bestrafen - so entschlossen und kampfeslustig klang er gerade.
Zum Glück kannte er weder Marinettes wahre Identität noch die ihrer Freunde.
Vermutlich hätte Adrien beim Kampf gegen Cat Noir selbst mit seinen jahrelang antrainierten Fechtkünste keine Chance gehabt.
Und selbst wenn Cat Noir ihm bei dieser Gelegenheit den Grund für den Angriff genannt hätte, wäre sein Gegner wohl ziemlich verwirrt gewesen.
Denn Adrien hatte ja überhaupt nichts falsch gemacht.

Marinette seufzte leise.
Ihr war von Anfang an klar gewesen, dass die Situation nicht so einfach zu erklären war.
Was sollte sie Cat Noir alles sagen? Was wollte sie ihm sagen? Und was durfte sie ihm überhaupt sagen?

»Er ... er ist nicht schuld daran.«, war schließlich ihre wage Definition der Lage. Cat Noir reagierte sofort mit Unverständnis.
»Warum verteidigst du ihn jetzt auch noch?«
»Weil ... «, sie brach ab, als ihr wieder nur die exakt gleiche Formulierung einfiel wie zuvor.
Weil er nicht daran Schuld ist.

»Irgendetwas muss er doch gemacht haben, dass du so fertig bist.«
»Er hat aber nichts gemacht.«
»Du verteidigst ihn schon wieder. Warum?«
»Weil ...«
Cat Noirs fordernder Blick drängte sie regelrecht in die Ecke. Er wollte eine Antwort.
»Weil sein einziger Fehler ist, jemanden zu lieben!«

Der Satz war regelrecht aus ihr herausgebrochen. Nun hing er schwer und unangenehm zwischen ihnen.
Marinette senkte beschämt den Kopf.
»Ich verstehe.«, hörte sie Cat Noir leise sagen.
Und noch leiser - so leise, dass sie es nur mit Mühe verstehen konnte - fügte er hinzu: »Ich weiß, wie sich das anfühlt.«

Sie hob den Kopf und sah ihm in die grünen Katzenaugen, die sie wieder einmal mit besonderer Eindringlichkeit ansahen.
Und sie schämte sich dafür, dass es ihr nicht schon eher aufgefallen war: Wenn es jemand gab, der ihre Situation nachempfinden konnte, dann war es Cat Noir.

Die Worte: »Es tut mir leid.«, lagen ihr auf den Lippen.
Und hätte Cat Noirs Blick traurig oder verletzt oder auch nur ein bisschen wehmütig ausgesehen, hätte sie sie wohl ausgesprochen.
Aber da war nichts. Nicht der kleinste Vorwurf.
Nur Verständnis und tiefes Mitgefühl.

Ohne noch einmal darüber nachzudenken, stellte Marinette die Frage, die ihr gerade in den Sinn gekommen war.
»Wie hältst du das nur aus? Wie hältst du es aus, so viel Zeit mit mir zu verbringen, mich ständig zu sehen und mit mir zu reden?
Schon allein bei dem Gedanken, ihm morgen wieder zu begegnen ... Ich habe keine Ahnung, wie ich es hinbekommen soll, ihm noch in die Augen zu sehen.«

Cat Noir fuhr sich mit der Hand über die schwarzen Katzenohren und sah dann nachdenklich auf die Stadt hinab.
Es gab Marinette die Zeit, noch weiter über all das nachzudenken.

Erst jetzt fiel ihr etwas auf: Sie teilte ihr Schicksal nicht nur mit Cat Noir. Auch Adrien hatte bei seinem Gespräch mit Nino davon geredet, dass seine Liebe nicht erwidert wurde.
Eine unglückliche Liebe reihte sich demnach an die andere, eine unerwiderte Liebe war Grundlage für die nächste. Jeder einzelne Beteiligte war ein Gefangener seines tragischen, unfreiwilligen Schicksals und dazu verdammt, unglücklich zu sein.

Überraschend heftig wünschte Marinette sich plötzlich eine Möglichkeit herbei, um diese Kette zu durchbrechen.
Ein Knopf oder eine Pille, mit der man selbst festlegen konnte, wen man liebte; mit der man Kontrolle über seine Gefühle erhielt, und sich selbst für die Liebe zu jemandem entscheiden konnte, mit dem man dann auch glücklich werden würde.

Adrien hatte es bei seiner Unterredung angedeutet: Wenn es dieses bestimmte Mädchen nicht gäbe, wäre eine Beziehung mit Marinette für ihn zumindest vorstellbar gewesen. Vielleicht würde er also diesen Ausweg wählen, wenn es ihn gäbe.
Wie sah es bei Cat Noir aus?
Ihn konnte sie noch schwerer einschätzen, aber auch ihm wünschte sie aus ganzem Herzen, dass er glücklich wurde.
Und was war mit ihr selbst?
Würde sie die Liebe zu Adrien aufgeben, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte?

Sie sah hinüber zu Cat Noir.
Irgendwie verloren sah er aus.
Doch dann bemerkte er ihren Blick, wandte sich zu ihr um und lächelte sie an. Und dieses Lächeln war die Antwort auf wenigstens eine ihrer Fragen: Er hatte seine Entscheidung schon getroffen.

Jedes Mal wenn er nach einem ihrer erfolgreichen Superheldeneinsätze zu Ladybug kam und noch mit ihr reden wollte, jedes Mal, wenn er ihr ein Detail über ihre Leben entlocken wollte, jedes Mal wenn er versuchte, sie zum Lachen zu bringen - jedes einzelne Mal entschied er sich für Ladybug.
Er wusste, dass sie nicht das Gleiche empfand, und trotzdem distanzierte er sich nicht von ihr.
Er hoffte noch immer.

Obwohl Marinette wusste, dass er damit einen Fehler beging, beneidete sie ihn in gewisser Weise um diese Hoffnung.
Rein objektiv betrachtet war er in genau der gleichen Lage wie sie. Aber die Hoffnung hielt den allergrößten Schmerz von ihm fern und ließ ihn in ihrer Gegenwart tatsächlich glücklich sein.
Marinette stand dieser Weg nicht offen, selbst wenn sie gewollt hätte.
Sie würde in den nächsten Tagen und Wochen - vielleicht sogar Monaten und Jahren! - jedes noch so kleine bisschen Schmerz erleben, das ihr gebrochenes Herz für sie bereithielt. Und sie würde sich so weit wie möglich von Adrien fernhalten, wie sie nur konnte; um vielleicht eines fernen Tages über ihn hinwegzukommen.

Nur die Zeit würde letztendlich zeigen, wer von ihnen beiden - Cat Noir oder sie selbst - den besseren Weg gegangen war; wer von ihnen den richtigen Umgang mit unerwiderter Liebe gefunden hatte.
Das sie am Ende beide mit ihrer Entscheidung zufrieden waren, diese Option konnte Marinette sich leider einfach nicht vorstellen.

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