6
Der weiße Schmetterling flatterte aus dem Ladybug-Jojo und verschwand mit wenigen Flügelschlägen in der Ferne.
Marinette sah hinab auf den Glücksbringer in ihrer Hand und kratzte den letzten Rest Kraft in ihrem Innern zusammen.
»Gleich hast du es geschafft.«, dachte sie erschöpft und warf den kleinen Blumentopf in die Luft.
Wie die Straße um sie herum wieder in Ordnung gebracht wurde, bekam sie schon gar nicht mehr richtig mit. Auch den verwirrten, ehemaligen Schurken ignorierte ihr Kopf völlig.
Sie wollte nur noch, dass es endlich vorbei war.
Im Moment war ihr die Gegenwart von Menschen unerträglich.
Wie sie lächelten und lachten, wie sie völlig unbeschwert über irgendwelche Nebensächlichkeiten redeten, wie sie sich freuten, weil ihre Stadt ein weiteres Mal gerettet worden war.
Niemand von ihnen wusste, was gerade hinter der Maske ihrer Superheldin los war - dass sie zwar alle andern retten konnte, aber selbst vollkommen verloren war.
Auf einmal segelte Cat Noir durch die Luft und landete beinahe geräuschlos einen Meter vor ihr.
»Das war mal wieder absolute Präzisionsarbeit, Mylady.«
Er grinste sie breit an. »Wir übertreffen uns wirklich jedes Mal!«
Erwartungsvoll streckte er ihr seine Faust entgegen.
Ihr fehlte die Kraft dafür. Sie wusste nicht einmal, ob sie es noch bis nach Hause schaffen würde, so sehr hatte sie das Zurückhalten des Schmerzes erschöpft.
»Machs gut.«, presste sie hervor und ließ ihr Jojo durch die Luft zischen. Endlich konnte sie all diese Menschen hinter sich zurücklassen.
»Ladybug, warte!«, hörte sie Cat Noir rufen, aber nichts auf der Welt hätte ihre Flucht jetzt noch stoppen können.
Sie schaffte es keine Sekunde länger, die Tränen zurückzuhalten.
Kaum hatte sie die halbe Strecke zwischen Boden und Hausdach hinter sich, als auch schon ihr Blick verschwamm.
Halb blind ließ sie ihr Jojo in Richtung des nächsten Schornsteins fliegen, genau im richtigen Moment zwischen zwei Schwüngen.
Der Ablauf war ihr längst in Fleisch und Blut übergangen und so fand das Jojo einen Ankerpunkt.
Das Seil spannte sich und schleuderte sie in einem weiten Bogen vorwärts.
Inzwischen konnte Marinette kaum noch klar denken, doch ihre Muskeln wussten, was zu tun war. Gerade bereiteten sie sich auf das Einleiten des nächsten Schwungs vor.
Gleich würde die Spannung im Seil verschwinden und dann war wieder absolute Präzision gefragt.
Ein Knacken irgendwo neben ihr. Die Spannung verschwand. Marinette flog haltlos durch die Luft.
»Zu früh!«, schoss es ihr durch den Kopf und panisch riss sie die Augen auf. Doch alles um sie herum war verschwommen; unzählige Farben, die wild durcheinanderwirbelten.
»Ladybug!«, hörte sie dumpf jemanden schreien.
Sie konnte unmöglich sagen, wo es herkam. Sie konnte nicht einmal sagen, wo oben und wo unten war. Alles, was sie spürte, war der Gegenwind.
Sie flog - oder fiel.
Vollkommen orientierungslos benutzte sie ihr Jojo, ohne wirkliche Hoffnung darauf, dass es sie retten würde. Zwei Sekunden lang änderte sich nichts. Wind, Farben, Formen und das laute Pochen ihres Herzens.
Dann gab es endlich den erlösenden Ruck.
Die Welt um sie herum fand zurück in ihre vertraute Ordnung und einen Moment später konnte Marinette schemenhaft das Dach eines Hauses unter sich sehen.
Unsanft aber sicher landete sie auf dem harten Untergrund. Sie machte drei schnelle Schritte, um nicht zu stolpern, und blieb dann stehen.
Das Gefühl von festem Boden unter ihren Füßen ließ eine Welle von Erleichterung über sie hinwegrollen.
Doch als sie sich gelegt hatte, blieb nur noch Schmerz zurück.
Marinettes Muskeln erschlafften und das Jojo fiel ihr aus der Hand. Noch ehe es auf dem Dach aufgeschlagen war, brach sie vollends zusammen.
Geschüttelt von Schluchzern kniete sie am Boden.
Sie war am Ende.
»Ladybug!«
Es war Cat Noirs Stimme. Marinette hatte noch nie zuvor so viel Angst darin gehört.
Und sie hatte sich noch nie zuvor so sehr gewünscht, dass diese Stimme und ihr Verursacher verschwinden würden.
»Ladybug!«
Er war nun ganz nah und schon spürte sie eine Berührung an ihrer Schulter.
Sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln - völlig zwecklos.
Ihr Gesicht war längst tränenüberströmt, ihr ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt und sie hatte noch nicht einmal genügend Kraft, um den Kopf zu heben.
»Bist du verletzt?«, fragte Cat Noir. Er klang richtig zittrig und seine Hand auf ihrer Schulter bebbte.
Sie schaffte es nicht, zu antworten.
»Bitte, sprich mit mir!« Er schüttelt sie leicht.
»Bist du verletzt?«
Irgendwie brachte sie es fertig, mit dem Kopf zu schütteln.
Erleichtert stieß er die Luft aus und sank neben ihr zu Boden.
Noch immer brach jeder einzelne Schluchzer völlig unkontrolliert aus ihr heraus. Cat Noirs Gegenwart änderte daran nichts.
Sie spürte, wie seine Hand von ihrer Schulter hinab glitt.
Sacht strich er ihr über den Arm.
»Was ist los?«
Er versuchte es hinter einem einfühlsamen, ruhigen Tonfall zu verstecken, doch er war ganz offensichtlich noch immer sehr besorgt.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Genau in diesem Moment gaben ihre Miraculous-Ohrringe einen warnenden Laut von sich. Ihr blieben noch zwei Minuten.
»Geh einfach!«
Es hatte scharf und bestimmt klingen sollen, war aber kaum mehr als ein kratziges, verheultes Flüstern gewesen.
»Ich lasse dich auf keinen Fall in dieser Verfassung zurück! Sag mir, was los ist!«, drängte Cat Noir weiter.
»Geh.«
»Bitte, Ladybug!«
»GEH!«
Sie hatte grob seine Hand zur Seite geschlagen, doch er machte noch immer keinerlei Anstalten, aufzustehen.
»Du musst es mir nicht sagen.«, erwiderte er verbissen, »Aber ich lasse dich jetzt nicht einfach allein.«
Wieder das vertraute Geräusch. Der letzte Punkt auf ihren Ohrringen musste nun blinken.
Marinettes Herz begann wild zu schlagen.
Sie durfte sich auf gar keinen Fall vor Cat Noirs Augen zurückverwandeln!
Sie versuchte, sich hochzustemmen, um an seiner statt zu verschwinden, doch ihre Beine gaben sofort wieder unter ihr nach.
Sie war völlig machtlos.
Zum Glück ließ die aufsteigende Panik zumindest den Schmerz in ihrem Innern für den Moment verblassen. Und: Sie löste ihr endgültig die Zunge.
»Du musst jetzt sofort gehen! Los! Verschwinde, Cat!«
Er rührte sich noch immer nicht von der Stelle.
»Verschwinde endlich! Ich verwandle mich gleich zurück!«
»Ist mir egal. Ich lass dich nicht allein.«
»Cat!«
Sie starrten sich mit wilder Entschlossenheit in die Augen. Keiner von ihnen wollte nachgeben.
Und unaufhaltsam verstrich Sekunde um Sekunde.
Marinette konnte das leise, bedrohliche Ticken förmlich in ihren Fingerspitzen spüren, und sie rechnete jeden Moment damit, dass das vertraute Kribbeln einsetzen würde, wenn ihr Ladybuganzug und die Maske verschwanden.
Der Druck nahm immer mehr zu.
Ihr blieb nur noch eine letzte Option.
»Bitte!«
Sie flehte Cat Noir an - mit ihrer Stimme, ihrem Blick und all ihren aufgewühlten Emotionen.
Und endlich gab er nach.
»Ich gehe. Aber du must mir versprechen, dass du dich schnellstmöglich wieder in Ladybug verwandelst und hier auf mich wartest!«
In dieser Situation hätte sie ihm alles versprochen, damit er ging.
»In Ordnung.«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top