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Marinette wusste nicht, ob es Trotz oder plötzlich zurückgekehrtes Selbstvertrauen war, was sie ins Schulgebäude trieb.
Ihre Wut auf Alya hatte sie in die hinterste Ecke ihres Kopfes geschoben, zusammen mit all den entmutigenden Tatsachen, die sie von ihrem Plan abhalten wollten.
Jetzt zählte nur noch eins: Sie würde es heute tun. Sie würde es ihm endlich direkt ins Gesicht sagen.
Keine Ausreden mehr. Kein Zögern im letzten Moment. Kein unklares Herumgestammel.
Wenn sie erst mit Adrien zusammen war, brauchte sie Alya nicht mehr als ihre Freundin.
Marinette würde es ihr und all den anderen beweisen. Sie war nicht länger dieser Feigling, den alle in ihr sahen. Ihre Gefühle waren nicht nur ein dummer Scherz oder ein unterhaltsames Thema für eine Plauderei.
Ganz kurz war da wieder ein Funken Angst.
Was war heute nur mit ihr los? Erst der Streit mit Alya und jetzt dieses Vorwärtspreschen. War sie gerade kurz davor, ihr ganzes wohlgeordnetes Leben zu zerstören?
Nein. Es war nicht die Zeit für Zweifel oder ein schlechtes Gewissen. Wenn sie noch einen Tag länger in diesem Stillstand verharrte, würde sie wahnsinnig werden!
Tikki hatte recht. Wenn sich nichts änderte, würde sie sich eines Tages bei einem Sprung in die Tiefe selbst verletzen oder sogar umbringen. Und das Ende der Sommerferien war längst nicht genug.
Marinette wollte mehr.
Suchend sah sie sich in der Eingangshalle um. Adrien war nirgends zu sehen.
Sie ging hinauf zu ihrem Klassenraum, doch auch dort war niemand mehr. Ihr nächster Anlaufpunkt war die Umkleidekabine mit den Spinden und dort fand sie ihn tatsächlich.
Unbemerkt blieb sie in der offenen Tür stehen und musterte ihn.
Er saß er auf einer der Holzbänke und starrte abwesend ins Leere.
Sie merkte sofort, dass er traurig war.
Er war vollkommen in sich zusammengesunken. Seine Arme hingen kraftlos herab und jeder Teil seines Gesichts zeugte von verborgenem Schmerz.
Ihn so zu sehen, versetzte Marintte einen heftigen, schmerzhaften Stich im Herzen. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Wer oder was hatte den Jungen, den sie liebte, so todtraurig gemacht?
War womöglich Nino der Grund dafür? Hatte es auch zwischen diesen beiden Freunden einen Streit gegeben?
Marinette schämte sich für den Gedanken, doch vielleicht ... vielleicht war das ja die perfekte Gelegenheit.
Wenn sie beide von ihren Freunden verraten und enttäuscht worden waren, konnten sie sich gegenseitig trösten. Und ganz von selbst würde es sie einander näher bringen.
Sie machte zwei Schritte auf Adrien zu. Noch immer hatte er ihre Anwesenheit nicht bemerkt.
Was sollte sie tun? Ihn ansprechen? Eine Hand auf seine Schulter legen? Oder ihn einfach in den Arm nehmen?
Sie machte einen weiteren Schritt und stand nun nur noch zwei Meter von ihm entfernt. Sie zögerte.
Die Sekunden verrannen und noch immer hatte sie nicht gewagt, ihn auf sich aufmerksam zu machen.
All die altvertrauten Ängste kehrten auf einmal zurück.
Vielleicht war heute doch nicht der richtige Zeitpunkt.
Vielleicht sollte sie noch etwas länger warten.
Vielleicht wollte Adrien lieber allein sein und würde wütend werden, wenn sie ihn jetzt störte.
Vielleicht konnte sie ihn gar nicht trösten.
Vielleicht ... war sie nicht die Richtige für ihn.
Und dann war der Moment auf einmal vorbei. Sie hatte zu lang gezögert.
Die Tür der Jungstoilette am andern Ende des Raumes öffnete sich geräuschvoll und ohne nachzudenken hechtete Marinette hinter eine der Spindreihen.
Sie hatte keine Ahnung, ob einer der Anwesenden mitbekommen hatte, dass sie da gewesen war, und rechnete damit, dass jeden Moment jemand ihren Namen sagen würde.
Mit wild klopfendem Herzen presste sie sich an das kalte Metall der Spindtüren in ihrem Rücken.
»Adrien!«, hörte sie eine überrascht klingende Stimme.
Nino.
»Du bist ja noch da! Wirst du heute gar nicht von deinem Bodyguard abgeholt?«
»Wir haben doch heute erst den Stundenplan bekommen.«, antwortete Adrien. Seine Stimme klang gedrückter als sonst.
»Ich sollte Nathalie anrufen, sobald der Unterricht vorbei ist. Aber bisher hab ich es noch nicht gemacht.«
»Hey, das sollten wir ausnutzen!«, erwiderte Nino begeistert.
Seine Stimme stand in so klarem Kontrast zu Adriens, dass es Marinette noch trauriger machte. Es gab kaum etwas Schlimmeres als ausgelassene, enthusiastische Gesellschaft, wenn es einem schlecht ging.
Adrien verdiente Besseres.
Doch genau da ertönte Ninos Stimme erneut, und diesmal klang sie völlig anders. Teilnahmsvoll und mitfühlend.
»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte er und Marinette hörte ein leises Knarzen. Anscheinend hatte er neben Adrien auf der Bank Platz genommen.
»Ja ... Nein ... keine Ahnung.«
Wieder versetzte es Marinette einen Stich. Adrien klang so unglücklich!
Als hätte er jegliche Freude und jegliche Hoffnung in seinem Leben verloren. Was war nur los?
»Willst du ... drüber reden?«, fragte Nino zögerlich nach und als keine Antwort kam, lugte Marinette vorsichtig um die Ecke.
Die beiden saßen wie erwartet nebeneinander auf der Bank, mit dem Rücken ihr zugewandt. Adrien hatte sich ein Stück aufgerichtet und fuhr sich gerade mit der Hand durch die blonden Haare.
Es war richtig ungewohnt, seine perfekt gestylte Frisur so durcheinander zu sehen.
»Es ist nur ...«, fuhr er stockend fort, brach aber sofort wieder ab.
Nino kam ihm zu Hilfe.
»Gestern hast du mir noch geschrieben, wie sehr du dich freust, wieder nach Paris zu kommen. Du konntest es doch die ganzen Ferien über kaum erwarten, endlich wieder hier zu sein.
Was ist denn seitdem passiert?«
Adriens Antwort kam nur langsam und schien ihn viel Kraft zu kosten.
»Gestern, auf dem Flughafen in New York, hatte ich noch die alberne Hoffnung, dass in diesem Jahr alles anders ist. Dass ich wiederkomme und sich die Dinge auf wundersame Weise geändert haben.
Aber es ist noch immer alles beim Alten und wird sich wohl auch niemals ändern.«
Der letzte Satz klang so hoffnungslos und düster, dass es Marinette beinahe das Herz zerriss.
Im Stummen dankte sie Nino, als dieser genau die Frage stellte, die auch sie selbst interessierte.
»Was genau hätte sich denn ändern sollen?«
Adrien schwieg für einen langen Moment und antwortete dann: »Es gibt da dieses Mädchen ...«
Marinette zuckte zurück in ihr Versteck hinter die Spinde und hielt den Atem an.
Nicht das allerkleinste Wort wollte sie von dem verpassen, was Adrien jetzt sagte.
»Es gibt da dieses Mädchen ...«
Der halb fertige Satz hing noch mitten im Raum und verlangte dringend nach seiner Vollendung. Doch Adrien redete nicht weiter.
Nino fragte schließlich nach.
»Kenne ich sie?«
Gebannt wartete Marinette auf eine Antwort. Doch es blieb still.
Hatte er etwa mit einer Kopfgeste geantwortet?
Schnell sah sie wieder hinter ihrem Sichtschutz hervor, doch wenn es tatsächlich ein Kopfnicken oder -schütteln gegeben hatte, hatte sie es verpasst.
»Wir sind schon länger befreundet«, redete Adrien zögerlich weiter, »und sie bedeutet mir sehr viel. Aber bisher hatte sie kein Interesse an ... mehr.«
Ihm war anzuhören, wie schwer ihm die Worte über die Lippen kamen. Nino schwieg zurückhaltend und ermutigte ihn dadurch zum Weiterreden.
»Irgendwie hatte ich gehofft, dass sich während der Ferien etwas an ihren Gefühlen verändern würde. Wenn man sich neun ganze Wochen lang nicht sieht ... und vielleicht zum ersten Mal anfängt, den andern zu vermissen ...«
Ganz kurz war da ein Funken von Hoffnung in Adriens Stimme, doch schon bei seinem nächsten Satz kehrte die Niedergeschlagenheit zurück.
»Aber es ist noch alles genau wie vorher.«
Wieder fragte Nino mit ruhiger Stimme nach.
»Bist du dir da ganz sicher? Hast du sie gefragt?«
»Das musste ich gar nicht. Ihr ganzes Verhalten hat es mir gesagt.«
»Und was hast du jetzt vor? Wirst du sie aufgeben?«
Adrien gab einen gequälten Laut von sich.
»Das kann ich nicht!«, sagte er, voller Verzweiflung.
»Ich ... ich liebe sie.«
Marinette sank auf den Fußboden hinab. Sie war unfähig, zu denken. Unfähig, zu fühlen.
Nino fluchte leise und sagte dann: »Du willst das jetzt wahrscheinlich nicht hören, aber als guter Freund muss ich es dir sagen. Ich will nicht, dass du dich auf ewig unglücklich machst.
Ich weiß, dass man nicht selbst darüber entscheidet, in wen man sich verliebt. Aber man kann entscheiden, ob man stehen bleibt oder weitergeht.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Adrien nach.
Er klang, als könnte er sich nur schwer beherrschen, aber gleichzeitig auch unheimlich erschöpft.
»Ich meine: Wenn ihr euch schon so lang kennt und sich an ihren Gefühlen nie etwas geändert hat ... vielleicht bedeutet das, dass sich auch niemals etwas ändern wird.«
»Willst du mir helfen oder mich noch weiter fertigmachen?«
Adrien knurrte regelrecht. Kurz sah es so aus, als würde ein Streit zwischen den beiden entstehen. Doch Nino fand bei seinen nächsten Worten genau die richtige Mischung aus Bestimmtheit und Anteilnahme.
»Du siehst es im Moment wahrscheinlich nicht, aber du könntest auch mit einem anderen Mädchen glücklich sein. Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft. Aber dafür könnte es entscheidend sein, dass du jetzt nach vorn siehst.
Wenn du nicht aufpasst, könntest du eine einmalige Chance verpassen, den Menschen zu finden, der perfekt zu dir passt.«
»Es klingt ja fast so, als wüsstest du, wovon du da redest.«
Adrien klang leicht spöttisch – völlig ungewohnt für ihn. Aber Nino ließ das komplett unbeeindruckt. Offenbar verstand er, wie schwer das alles gerade für seinen Freund war.
»Stimmt. Ich weiß, wovon ich rede.
Ich war auch mal bis über beide Ohren in ein Mädchen verliebt. Und beinahe hätte ich deshalb Alya übersehen.
Sie ... ist einfach perfekt für mich! Und sie war schon die ganze Zeit da, direkt vor meiner Nase!
Aber wenn ich nicht den Gedanken an mich und dieses andere Mädchen aufgegeben hätte, hätte ich ihr niemals eine Chance gegeben.«
»Du redest von Marinette, oder?«
Hinter den Spinden auf dem Fußboden zuckte Marinette beim Klang ihres Namens am ganzen Körper zusammen. Beinahe wäre sie dabei an eine der Metalltüren gestoßen.
Bisher hatte Tikki sich in ihrer Tasche versteckt gehalten. Nun steckte sie den Kopf heraus und sah sie aus ihren großen, dunkelblauen Kulleraugen mitfühlend an.
Noch nie zuvor hatte Marinette sich so sehr gewünscht, die Fähigkeiten ihres kleinen Kwamis zu besitzen: Einfach durch die Wand verschwinden und davonfliegen.
»Ja, ich rede von Marinette.«, antwortet Nino. »Aber nicht nur bei mir, sondern auch bei dir.«
»Was meinst du damit?«
»Womöglich ... ist Marinette ja die Chance, die du nicht verpassen solltest.«
Was folgte, war eine lange, qualvolle Stille, die einfach kein Ende nehmen wollte.
Irgendwann fragte Marinette sich sogar, ob die beiden Jungen noch länger im Raum waren. Als sie schon kurz davor war, nachzusehen, redete Adrien weiter.
»Warum ausgerechnet Marinette?«
Seine Stimme war nur schwer einzuschätzen. Klang er überrascht? Ablehnend? Neugierig?
»Sie mag dich sehr. Und ihr beide würdet unheimlich gut zusammenpassen – das denkt jeder, der euch beide kennt! Ist dir der Gedanke denn nie selbst gekommen?«
Wieder schwieg Adrien beinahe länger, als Marinette es aushielt.
»Ich mag Marinette auch. Sie ist eine sehr gute Freundin und ich bin gern in ihrer Gegenwart.«
Wieder stockte ihr der Atem.
»Aber... sie ist nicht sie.«
Alle Luft entwich aus Marinettes Lungen und zurück blieb nichts als Leere.
Auf der anderen Seite der Spindwand seufzte jemand leise. Wahrscheinlich Nino.
Adrien redete weiter; lauter als vorher und mit einem deutlichen, verzweifelten Unterton.
»Es ist gut möglich, dass du mit all dem Recht hast. Womöglich könnte ich mit Marinette glücklich sein, wenn es sie nicht gäbe.
Aber es gibt sie! Und ich kann sie unmöglich vergessen!
In meinem Kopf ist nicht einmal Platz, um auch nur über Marinette oder sonst ein anderes Mädchen nachzudenken. Da ist überall nur sie. Und ich ...«
Er zögerte, als hätte er Angst, seinen Gedanken auszusprechen.
»Und ich glaube auch nicht, dass sich daran jemals etwas ändern wird.«
»Also ... willst du es nicht einmal versuchen?«
»Nein. Es wäre Marinette gegenüber nicht fair. Und auch mir selbst will ich das nicht antun.
Ich werde vielleicht nicht so glücklich, wie ich sein könnte, aber wenigstens kann ich Zeit mit dem Mädchen verbringen, das ich liebe.
Ich kann mich sowieso nicht von ihr fernhalten. Dann kann ich auch bei ihr sein und jedes Bisschen Zuneigung annehmen, das sie mir gibt - auch wenn es nur rein freundschaftliche Zuneigung ist.«
Obwohl sie es nicht sah, wusste Marinette, dass Adrien nun wieder lächelte. Sie hörte die Wärme in seiner Stimme. Und sie hörte deutlich die Liebe heraus, die er für dieses Mädchen empfand.
»Danke, Nino.«
»Wofür?«
»Dass du mich daran erinnert hast. Ich hatte ganz vergessen, was für ein Privileg es ist, sie kennen zu dürfen.«
Die Bank knarzte leise, als die beiden aufstanden.
»Sie muss ein ganz besonderer Mensch sein, wenn dir das ausreicht.«, sagte Nino noch und Adrien erwiderte:
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie besonders.«
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