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Auf wackeligen Beinen durchquerte Marinette den Klassenraum und ließ sich auf den Platz neben Alya fallen.
Wie durch Watte hindurch drang die aufgeregte Stimme ihrer besten Freundin an ihr Ohr. Doch es gelang ihr nicht, den Worten zu folgen.
Schon seit einigen Minuten erzählte Alya voller Begeisterung von ihrer Reise und Marinette wollte ihr ja zuhören. Doch gerade jetzt war da kein Platz mehr in ihren Gedanken.
Vor wenigen Minuten war sie auf Adrien getroffen.
Beim Betreten des Schulhauses hatte sie schon von Weitem seinen blonden Hinterkopf gesehen und zu diesem Zeitpunkt war auch noch alles in Ordnung gewesen.
Ganz kurz hatte sie sich gefragt, ob ihre eigenen Gefühle sich vielleicht geändert hatten. Aber sie hatte nicht einmal genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken oder auch nur wahrzunehmen, wie es ihr mit diesem Gedanken ging. Denn da hatte Adrien sich zu ihr umgedreht und die Antwort war sofort klar gewesen:
Sie war noch immer in ihn verliebt.
Auch nach all der Zeit noch.
Sie musste ihm nur in die Augen sehen und schon gab es daran keinen Zweifel mehr.
An sich war Marinette weder überrascht noch enttäuscht noch erleichtert gewesen. Sie war schon so lang in Adrien verliebt, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie es vorher gewesen war.
Das Gefühl war ein fester Teil von ihr. Es war ihr vertraut. Es war verlässlich und berechenbar.
Und auch wenn es ihr in der Vergangenheit viele peinliche Momente und jede menge Herzrasen beschert hatte, war die Liebe zu Adrien in ihrer Wahrnehmung etwas ganz und gar Positives. Nichts im Zusammenhang damit bereute sie, nichts wollte sie rückgängig machen oder für immer vergessen.
Auch wenn Adrien in all der Zeit nur ein Freund gewesen war, hatten ihre Gefühle zu ihm sie objektiv glücklicher gemacht.
Schon allein das Wissen um Adriens Gegenwart überzog jeden einzelnen Schultag mit einem besonderen Glanz. Er konnte ihre Schritte wie kein anderer leicht und beschwingt werden lassen und er hatte sie schon öfter zum Lächeln gebracht als irgendjemand sonst.
Im Grunde war, sich in Adrien zu verlieben, also das Beste gewesen, das ihr in ihrer Schulzeit hatte passieren können. Diese Zeit mit ihm würde in ihrer Erinnerung für immer mit jeder Menge positiven Gefühlen und Erlebnissen verknüpft sein.
Also war alles in Ordnung.
Sie musste ihm nicht ihre Gefühle gestehen. Der sicherste Weg war in diesem Fall auch ein glücklicher Weg.
So hatte Marinette bisher immer gedacht.
So hatte sie sogar noch vor wenigen Minuten gedacht, ehe sie das Schulhaus betreten hatte und auf Adrien getroffen war.
Aber nun saß sie verwirrt und aufgewühlt neben Alya und schaffte es nicht, ihrer Freundin zuzuhören.
Der Blick in Adriens Augen hatte ihr nicht nur gezeigt, dass sie noch immer in ihn verliebt war. Sie hatte auch noch etwas anderes wahrgenommen. Eine Veränderung.
Und diese Veränderung war nicht von Adrien ausgegangen, sondern von ihr selbst.
Die Zufriedenheit mit der Situation hatte auf einmal gefehlt. Auf einmal war die Vorstellung, noch ein ganzes Jahr in dieser ungeklärten Anspannung zu bleiben, unerträglich gewesen.
Weiterhin nur mit ihm befreundet sein? Plötzlich schien das keine Option mehr zu sein.
Wieder war da dieser Hunger nach mehr, den sie in den Ferienwochen so deutlich gespürt hatte.
Und dieses Gefühl machte ihr regelrecht Angst.
Ja, als Ladybug war sie furchtlos, zielstrebig und bestimmt, aber als Marinette ging sie lieber auf Nummer sicher. Als Marinette war jedes bisschen Kontrollverlust oder Veränderung angsteinflößend. Selbst jetzt noch, wo die Alternative unerträglich schien, schreckte sie davor zurück.
Deswegen fühlte sie sich nun so seltsam. Deswegen war sie so verwirrt.
Denn sie spürte ganz deutlich, dass das Kapitel Adrien auf das entscheidende Ende zusteuerte und sie nichts dagegen tun konnt.
Sie würde es klären und nicht erst in einer Woche oder einem Moment.
Ihr Gefühl sagte es ihr ganz deutlich: Je schneller, desto besser.
Am besten noch heute.
Immer wieder warf Marinette nervöse Blicke in Richtung Schultür.
Sie stand mit Alya draußen auf dem Bürgersteig und wartete ungeduldig darauf, dass Adrien endlich das Gebäude verließ.
Sie würde ihn abfangen. Ohne Zögern. Sie würde ihn beiseitenehmen. Und dann würde sie ihm endlich sagen, was sie empfand.
Es musste ein für alle Mal geklärt werden.
Die Chancen, dass sie es diesmal tatsächlich schaffte, standen gar nicht so schlecht. Noch nie zuvor war der Drang so stark gewesen. Und auch noch nie war sie so zuversichtlich gewesen, dass sie die richtigen Worte herausbekommen würde.
Adriens Gegenwart machte sie längst nicht mehr so nervös wie früher. Sie kannte ihn und er kannte sie und es war alles leicht und angenehm zwischen ihnen. Er vermittelte ihr immer das Gefühl, ihm absolut alles sagen zu können und sie wusste bereits, dass es auch heute so war.
Sie hatte sich in der Pause schon ein wenig mit ihm unterhalten. Sie hatte ihm ausführlich von ihren Ferien erzählt, und obwohl da eigentlich gar nichts Erzählenswertes passiert war, hatte er ihr interessiert zugehört.
Vielleicht sogar etwas zu interessiert für ihre langweiligen Geschichten?
Er war nicht sonderlich gesprächig gewesen, aber das war bei ihm nichts Ungewöhnliches. Er hatte des Öfteren Tage, an denen er nur wenig sprach und eher in sich versunken war. Es machte Marinette eher Mut, als dass es sie verunsicherte. Wenn er sie nicht unterbrach, würde es leichter werden.
»Hey, hast du mir überhaupt zugehört?«
Alya wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum.
»Äh ... was?«
»Ich habe mich gerade bei dir entschuldigt, dass ich erst heute Abend Zeit habe, um zu dir zu kommen.«
»Achso, ja, kein Problem.«, sagte Marinette abwesend und sah schon wieder hinüber zur Tür des Schulgebäudes. Von Adrien noch immer keine Spur.
»Ich dachte, du freust dich, dass ich endlich wieder da bin. Aber du scheinst mit deinen Gedanken ganz woanders zu sein.«
Alya klang leicht beleidigt. Schnell wandte Marinette sich ihr zu und lächelte sie entschuldigend an.
»Tut mir leid. Ich freue mich wirklich riesig. Es ist nur ... ich hab heute noch etwas Wichtiges vor.«
Sie schielte schon wieder hinüber zur Tür.
»Achja? Was denn?«
Schon hatte sich jeglicher Ärger aus Alyas Stimme verzogen und stattdessen war nur noch ehrliches Interesse herauszuhören.
Wieder einmal wurde Marinette daran erinnert, warum sie so eng mit Alya befreundet war. Wann immer sie ihr von ihren Plänen erzählte, war sie sofort voller Begeisterung bei der Sache und eifrig, ihr dabei zu helfen - was auch immer es war.
Alya war die beste Freundin, die man sich nur wünschen konnte.
Von diesem Gedanken bestärkt nahm Marinette ihren Mut zusammen und sagte mit fester Stimme: »Ich werde Adrien heute sagen, was ich für ihn empfinde.«
Alyas Augenbrauen sprangen überrascht in die Höhe. Zwei Sekunden lang starrte sie ihre Freundin ungläubig an - dann begann sie zu lachen.
»Genau, und ich mache nachher noch einen Bungeesprung vom Eiffelturm!«, sagte sie belustigt und stieß ihre Freundin mit dem Ellbogen in die Seite.
Marinette wurde mit jeder Sekunde kleiner.
Und sie bereute es zutiefst, ihren Plan ausgesprochen zu haben.
Wenn selbst ihre beste Freundin so bei diesen Worten reagiert, was würde dann erst Adrien tun oder sagen? Würde er sie auch auslachen?
Auf einmal verstummte Alyas Kichern abrupt. Und mit einem erschrockenen - fast schon panischen - Gesichtsausdruck wandte sie sich ihrer Freundin zu.
»Oh Marinette! Es tut mir so leid! Ich dachte, du machst einen Scherz!«
Es war schon zu spät.
Jegliche Selbstsicherheit hatte Marinette verlassen.
»Ist es denn wirklich so ein alberner Gedanke, dass ich das mache?«, fragte sie beschämt.
Alyas Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
»Nein! Natürlich nicht!«
Sie packte Marinette fest bei den Schultern und kam ihrem Gesicht ganz nah.
»Es ist genau das, was du tun solltest! Und zwar heute noch! Es ist schon längst Zeit, dass es endlich mal ausgesprochen wird.
Ich bin so stolz auf dich! Und ich stehe dabei voll und ganz hinter dir!
Erst vorhin hab ich zu Nino gesagt, was für eine Tragödie es ist, dass ihr beide noch kein Paar seid.«
»Was?«
Marinette wich vor ihrer Freundin zurück und sah sie entgeistert an.
»Du hast mit Nino über Adrien und mich geredet?«
»Ich ...«
Alya fehlten die Worte.
»Warum tust du so etwas? Und dann ausgerechnet bei Adriens bestem Freund?«
»Marinette, Nino würde niemals etwas ausplaudern, was ich ihm erzähle! Ich vertraue ihm vollkommen.«
Flehend sah Alya sie an. Doch Marinette empfand auf einmal nur noch Wut auf ihre angebliche, beste Freundin.
Sie hatte sie nicht nur ausgelacht und damit ihr gesamtes Selbstbewusstsein zerstört. Sie hatte auch hinter ihrem Rücken mit ihrem Freund über sie und ihre geheimsten Gefühle geredet.
»Freut mich für euch beide.«, sagte Marinette kalt. »Nur vertraue ich dir jetzt nicht mehr.«
Sie drehte sich um und ging davon. Alyas Rufen überhörte sie einfach.
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