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Marinette wandte den Kopf und sah hinter sich.
Und dort stand er - übers ganze Gesicht grinsend und lässig an einen Schornstein gelehnt: der einzige Mensch, der sie an so einem Ort überraschen konnte.
Außerdem der einzige Mensch, der unter all den malerischen, pariser Dächern das eine kannte, das ihr das liebste war, und der einzige, der ihr hier oben Gesellschaft leisten konnte.

»Na, hast du mich vermisst?«, hatte Cat Noir gefragt. Und darauf gab natürlich nur eine mögliche Antwort:
»Ach, du warst weg?«
Mit gespielter Überraschung sah sie ihn an, konnte ein kleines Grinsen im Mundwinkel aber nicht völlig unterdrücken.
In seinen grünen Katzenaugen blitzte es kurz auf. Dann presste er sich mit theatralischer Geste die Hand auf die Brust.
»Autsch! Das ging mitten ins Herz!«
Im nächsten Moment konnte sich keiner von ihnen mehr das Grinsen verkneifen.
Cat Noir stieß sich von dem Schornstein ab und kam nach vorn an die Dachkante. Er setzte sich neben sie.

»Und?«, fragte er in lockerem Tonfall, »Wie ging es Paris ohne seinen liebsten Superhelden?«
Marinette warf ihm einen halb spöttischen halb genervten Seitenblick zu, antwortete aber, ohne auf seinen selbstverliebten Kommentar einzugehen.
»Es war ziemlich ruhig. Ein paar akumatisierte Touristen, wie jedes Jahr. Aber nichts wirklich Aufregendes.«
»Klingt, als hättest du viel Freizeit gehabt. Was hast du denn sonst noch so gemacht?«

Sofort spannte sich etwas in Marinettes Innern an.
Die vergangenen Jahre mit Cat Noir hatten sie unter anderem gelehrt, immer wachsam und vorsichtig zu sein.
In ihren Anfangszeiten als Ladybug wäre ihr bei so einer Plauderei womöglich ein scheinbar unbedeutendes Detail über ihr Leben herausgerutscht. Doch inzwischen schrillten schon bei der kleinesten Bemerkung die Alarmglocken in ihrem Hinterkopf.

»Du weißt doch ganz genau, dass du mich nichts über mein Leben fragen sollst!«
Der scharfe Tonfall ließ das Lächeln von Cat Noirs Gesicht verschwinden. Zu ihrer Erleichterung schien er aber nicht ernsthaft beleidigt zu sein.
»Komm schon, Pünktchen!«, sagte er in einem verschwörerischen Ton und lehnte sich ein Stück weiter zu ihr hinüber.
»Würde die Welt denn tatsächlich untergehen, wenn ich weiß, dass du gern schwimmst? Oder tanzt? Oder was auch immer? Ich wüsste doch trotzdem nicht, welches der vielen pariser Mädchen du bist.«
»Vielleicht ist meine Freizeitbeschäftigung ja nicht so etwas Durchschnittliches.«
»Pass auf, was du sagst!« Er grinste breit. »Sonst geht noch meine Fantasie mit mir durch!«

Leise in sich hineinlächelnd wandte Marinette sich wieder dem Ausblick zu. Inzwischen war jegliches Rot vom Horizont verschwunden und die Lichter der Stadt funkelten umso heller.
Cat Noir war ihrem Blick gefolgt.
Ohne sie anzusehen, fragte er: »Kannst du mir nicht wenigstens ... eine winzige Kleinigkeit von dir erzählen?«
Seine Stimme klang zögerlich. Als würde er sich kaum trauen, die Worte auszusprechen - oder als hätte er Angst vor ihrer Antwort.
»Ein schönes Erlebnis, zum Beispiel, oder etwas, worüber du dich in den letzten Wochen gefreut hast. Es muss ja gar nichts Wichtiges sein.«

»Cat ...«, sagte sie leise und sah ihn von der Seite an.
Er hatte den Kopf gesenkt, starrte auf die Straße viele Meter unter ihnen und wagte es nicht, ihren Blick zu erwidern.
»Dieses Gespräch haben wir doch schon so viele Male geführt.«
»Ich weiß.«, murmelte er kleinlaut.
So bekam sie den selbstbewussten, kühnen Cat Noir nur sehr selten zu sehen. Und sofort wünschte sie sich die Unbeschwertheit in ihrem Miteinander zurück.
Verzweifelt suchte sie in ihrem Kopf nach einer zwanglosen Bemerkung, die ihn wieder zum Lächeln bringen würde.
Da redete er auf einmal weiter.

»Mir ist klar, dass wir nicht wissen dürfen, wer der andere ist. Aber es wird mit jedem Tag schwerer auszuhalten.«
Er hob den Kopf und sah sie aus traurigen, ernsten Augen an.
»Seit wir zum ersten Mal aufeinandergetroffen sind -«, er brach ab, als Marinette leicht vor ihm zurückwich.
Er hatte sofort verstanden, was ihre Geste und ihr Gesichtsausdruck bedeuteten. Er kannte das Spiel.

Ein kleinwenig Flirten war für sie in Ordnung, aber wenn er eine gewisse Grenze überschritt, brach sie das Gespräch sofort ab.
Es gab so viele gute Gründe dafür, verliebte Blicke und Gefühlsbekundungen sofort zu unterbinden: ihre Superhelden-Partnerschaft wurde nicht unnötig verkompliziert, Marinette selbst musste nicht peinlich berührt auf ihre Füße starren, darauf hoffend, dass es endlich vorbei war, und natürlich tat sie ihm damit auch einen Gefallen.

Er musste nicht immer und immer wieder hören, dass sie seine Gefühle nicht erwiderte. Diesen Schmerz hatte er nicht verdient.
Und auch für Marinette selbst bedeutet eine derartige Offenheit nur Qual. Die Enttäuschung und die Verletztheit in seinem Blick sehen zu müssen ...
Sie tat definitiv das Richtige, wenn sie es erst gar nicht dazu kommen ließ.

»Mylady, du blockst meine Gefühle genauso gekonnt ab, wie die Geschosse eines Superschurken. Aber irgendwann kommt der Tag, an dem du nicht mehr ausweichen kannst!«
Das waren Cat Noirs Worte vor einigen Monaten gewesen. Zuvor hatte sie ihn mit einem albernen Wortwitz zum Lachen gebracht, gerade, als sein Blick etwas zu eindringlich geworden war.
Er hatte gegrinst und ihr scherzhaft zugezwinkert, doch der gewisse Ausdruck in seinen Augen war ihr nicht entgangen.
Ein Funken ehrliche Hoffnung hatte in dieser Bemerkung von ihm gesteckt.

Zum Glück kannte Cat Noir aber inzwischen die Regeln. Und zu ihrer Erleichterung schien er es heute nicht darauf anlegen zu wollen.
Als er weiterredete, war er ganz offensichtlich um einen unverfänglichen Tonfall bemüht.

»Ich finde es wirklich beeindruckend, wie leicht dir das zu fallen scheint. Du machst nie einen Fehler, gibst nie aus Versehen etwas über dich preis, und passt sogar auf, dass ich es nicht tue. Wie machst du das nur?«
Sie überlegte kurz.
»Ich mache mir immer wieder bewusst, was alles auf dem Spiel steht.«, antwortete sie schließlich.
»Es würde nicht nur uns beide in Gefahr bringen, sondern auch ganz Paris. Gäbe es eine bessere Motivation dafür, keine Fehler zu machen?«
»Klingt, als wäre es sehr anstrengend. Sich immer um alle Menschen um einen herum sorgen zu müssen, meine ich.«
Auf eine Erwiderung wartend sah er Marinette an. Doch sie antwortete nicht.
Ja, er hatte recht. Es war anstrengend. Aber das war nun einmal Ladybugs Aufgabe.

»Und?«, fragte er nach, »Wie ist das für dich?«
Sie schwieg weiter.
»Kannst du mir nicht einmal das über dich sagen?«
Er klang enttäuscht und sogar ein kleinwenig verärgert.
»Wäre das denn tatsächlich zu viel Information? Immerhin geht es dabei doch nur um dich als Ladybug. Nicht um dein restliches Leben.«
»Es ist nicht wichtig, wie es mir mit all dem geht.«
»Doch!«, erwiderte er hitzig, »für mich ist es wichtig!
Es macht mich noch völlig verrückt, nur so wenig über dich zu wissen!«
»Cat ...«, wollte sie ihn unterbrechen, doch er redete schon ruhelos weiter.

»Am liebsten würde ich alles über dich wissen, absolut jedes Detail!
Ich will wissen, welches Essen du magst, was deine Lieblingsfarbe ist und welche Musik du hörst, wenn du gute Laune hast. Ich will wissen, worüber du in deinem Alltag lachst und was du für Zukunftspläne hast. Ich will wissen, wie es für dich ist, eine Superheldin zu sein.«
Mit immer leiser werdender Stimme beendete er seine kleine Ansprache.
»Ich will wissen, wer du hinter dieser Maske bist.«

Marinette musste schwer schlucken.
Nicht nur seine Worte setzten ihr zu, sondern auch sein eindringlicher Blick. Seine Augen leuchteten aus den Schlitzen seiner schwarzen Maske hervor und schienen ihr direkt in die Seele zu sehen.
Es fühlte sich an, als könnte er - genau in diesem Moment, in dem er es sich so sehr wünschte - an den Marienkäferpunkten vorbei einen Blick auf sie selbst, Marinette, erhaschen.
Sie wusste, dass sie wegsehen sollte. Doch sie konnte nicht.
Erst nach mehreren Sekunden brachte sie es fertig, den Mund aufzumachen.

»Du wärst vermutlich ziemlich enttäuscht. Ohne Tikki bin ich nur ein ganz gewöhnliches Mädchen.«
Cat Noir lächelte ganz leicht.
»Das glaube ich nicht. Du bist nicht zu etwas Besonderem geworden, weil du ein Miraculous besitzt, sondern du hast deine Ohrringe erhalten, eben weil du so außergewöhnlich bist.«
»Du solltest lieber lernen, deine Fantasie in Zaum zu halten.«, schob Marinette schnell hinterer. »Ich muss sonst noch befürchten, dass du irgendetwas Dummes machst.«

Drei quälende Sekunden lang hielt Cat Noir noch an seinem bohrenden Blick fest, dann sah er ruckartig zur Seite.
»Keine Sorge, Mylady. Du weißt doch: Du kannst dich auf mich verlassen.«
Erleichtert atmete Marinette auf.
Und im Stummen stimmte sie ihm zu. Sie konnte sich auf ihn verlassen. Er hatte noch nie ihr Vertrauen missbraucht.
Sie waren Ladybug und Cat Noir - ein perfektes, eingespieltes Team. Es gab keinen Grund, warum sich zwischen ihnen etwas ändern sollte.
Und auch wenn er es gern anders klingen ließ: Cat Noir wusste das auch. Er würde nichts tun, um ihre Partnerschaft zu gefährden.
Ein beruhigendes Gefühl.

Sie warf ihm erneut einen kurzen Seitenblick zu, dann sah sie hinab auf die Stadt, genau wie er.
Das war ihre Stadt. Die Stadt, die sie beschützten, egal zu welchem Preis.
Gerade gingen auch in den allerletzten dunklen Flecken des Lichterteppichs die Lampen an. Die Nacht war endgültig angebrochen.

Irgendwann sagte Cat Noir in die Stille hinein: »Ich habe dich vermisst.«
Und aus vollstem Herzen konnte sie erwidern: »Ich freue mich auch, dass du wieder da bist.«
Sie wusste, dass er die Bedeutung dieser Worte nicht missverstand. Zwischen ihnen war alles so klar, wie es nur sein konnte.

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