16

»Ich ... würde jetzt gern schlafen.«, sagte Marinette mit erschöpfter Stimme. Sie griff nach der Bettdecke und wollte sich darunter verkriechen, doch Tikki flog direkt vor ihr Gesicht und sah sie eindringlich an.
»Da ist doch noch etwas. Warum bist du immernoch so unglücklich?«
»Weil es am Ende auch egal ist, ob Cat Noir mich liebt oder nicht.«

Marinette erschrak selbst über den hoffnungslosen Klang ihrer eigenen Stimme.
Selbst nach diesem langen, aufbauenden Gespräch mit Tikki war sie nur wieder am Anfang angekommen.
Schlussendlich war die Traurigkeit geblieben.

»Aber wieso denn nur? Ich habe doch mitbekommen, wie du ihn angesehen hast. Warum ist das denn dann unwichtig?«
»Weil ...« Sie schreckte davor zurück, es auszusprechen, aber Tikkis Blick sagte ganz deutlich, dass sie nicht lockerlassen würde.
»Weil ich ihm das Herz breche, er akumatisiert wird und dann die Welt untergeht!«

Jetzt endlich verstand Tikki.
Ein mitfühlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.
»Marinette«, sagte sie sanft, »hast du etwas vergessen, was Cat Noir gesagt hat, als du ihm von dieser Sache erzählt hast?«
»Was meinst du?«
»Er hat davon geredet, dass es damals offenbar der falsche Zeitpunkt für ihn war, deine Identität zu erfahren. Und er war sich sicher, dass es nicht immer so laufen muss, wie in dieser katastrophalen Zeitlinie.«
»Was genau ... willst du damit andeuten?«
»Womöglich trifft das ja nicht nur auf die Sache mit deiner geheimen Identität zu, sondern auch auf eure Beziehung. Nur weil es damals so schrecklich geendet wäre, muss es das nicht heute auch.«

Jetzt war Marinette vollends verwirrt.
»Tikki, das klingt ja beinahe so, als würdest du mir raten, eine Beziehung mit Cat Noir einzugehen!«
Tikki wich einer klaren Antwort aus.
»Ich rate dir auf jeden Fall, nicht zu verzweifeln, und auf dein Herz zu hören.«
Marinette hatte für diese Aussage nur ein müdes Lächeln übrig.
»Auf mein Herz hören ...«, meinte sie mit leicht bitterer Stimme, »Ich soll also einfach das tun, worauf ich gerade Lust habe, ohne über die Konsequenzen nachzudenken?«

Tikki schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht, was »auf dein Herz hören« bedeutet.
Es bedeutet, darauf zu schauen, wer oder was dich glücklich macht.
Es bedeutet, nicht auf die Angst oder den Zweifel zu hören, sondern auf die Hoffnung.«
»Hoffnung worauf?«
»Darauf, dass es immer einen Weg gibt, wenn man nur das richtige Ziel im Auge behält.«

Marinette schnaubte.
»Was soll ich mit diesen Aussagen denn bitte anfangen?
Lernt ihr so etwas in eurer Kwami-Schule? Glückskekssprüche Rezitieren?«
»Marinette!«, jetzt klang Tikki verärgert. »So kenne ich dich ja überhaupt nicht! Wann bist du denn nur so furchtbar miesepetrig und zynisch geworden?«
Etwas beschämt sah Marinette zur Seite.

»Ich habe es einfach satt, mir Hoffnungen zu machen, die dann enttäuscht werden.«
»Also mit dieser Einstellung wirst du weder Hawk Moth besiegen, noch deine Freunde zurückbekommen, noch eine erfolgreiche Beziehung mit Cat Noir eingehen.«
»Wer sagt denn, dass ich das überhaupt will?
Klar, Hawk Moth endlich besiegen wäre super. Aber warum sollte ich Alya und die anderen zurückwollen? Sie haben mein Vertrauen missbraucht und mich einfach fallen lasse.
Und Cat Noir ...«
Sie brach ab. Sie hatte keine Ahnung, wie das Ende dieses Satzes lautete.

»Ich habe langsam das Gefühl, dass es Zeit für den Ladybug-Teil in dir ist.«
Auf Tikkis Gesicht hatte sich ein Ausdruck wilder Entschlossenheit breitgemacht.
»Und was soll das bedeuten?«
»Da du ja nun begriffen hast, dass es zwischen dir und Ladybug keine Grenze gibt, musst du nun lernen, wie du auf die Eigenschaften von Ladybug zugreifst.
Du musst lernen, wie du dich auch als Marinette wie eine Superheldin verhältst.«

»Verdammt, Tikki!«, murmelte Marinette leise.
Gerade lief sie direkt auf Alya zu.
Vor wenigen Minuten hatte der Schultag geendet und ihre ehemalige beste Freundin stand vor der Schule auf dem Bürgersteig und unterhielt sich mit Juleka.

Marinettes Schritte fühlten sich unheimlich schwer an. Längst bereute sie das Gespräch mit ihrem Kwami.
Warum musste sie denn unbedingt auch als Marinette eine Superheldin sein?
Konnte sie nicht wenigstens in ihrem Alltag nachtragend, ängstlich und egoistisch sein?
War das denn wirklich zu viel verlangt?
Sie war inzwischen bei Alya angekommen und da Juleka sie bereits gesehen hatte, gab es nun kein Zurück mehr.
Sie holte noch einmal tief Luft und tippte Alya auf die Schulter.

»Marinette!« Überrascht riss Alya die Augen auf.
»Hallo Alya.« Marinette musste sich zwingen, nicht zu Boden zu sehen.
»Hättest du vielleicht ... einen Moment Zeit für mich?«
Alya zögerte, sagte dann aber: »Klar.«
Sie verabschiedete sich von Juleka und wandte sich ganz Marinette zu. Erwartungsvoll sah sie sie an.

Marinette musste schwer schlucken.
Zu Alya hingehen, sie ansprechen, sie nach einem Gespräch fragen – das war der einfache Part gewesen. Was jetzt kam, war zehnmal schwerer.
»Alya, ich ...«, sie räusperte sich. »Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich habe dich einfach nur furchtbar behandelt und es tut mir -«
Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn da war Alya ihr bereits um den Hals gefallen.
»Oh Marinette! Ich hab dich so sehr vermisst!«
Marinette erwiderte die Umarmung und schloss die Augen. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals und hinter ihren Augenlidern sammelten sich Tränen.
Aber zur Abwechslung waren es Freudentränen.

Als sie und Alya sich nach langer Zeit wieder voneinander lösten, fragte Marinette: »Bedeutet das, du verzeihst mir?«
»Natürlich verzeihe ich dir. Und du? Verzeihst du mir auch?«
Marinette nickte heftig und das Lächeln auf Alyas Gesicht fühlte sich an, wie warme Sonnenstrahlen auf ihrer Haut.

»Die Zeit ohne dich war einfach furchtbar
Alya machte eine dramatische Handgeste.
»Ich hatte mich schon darauf eingestellt, dass mein letztes Schuljahr auch das schlimmste wird.«
»Ich bin auch unglaublich froh, dass das jetzt vorbei ist. Ich bereue es wirklich, nicht schon eher gekommen zu sein.
Du hast mich so sehr um Verzeihung gebeten und ich ...«
Alya ergriff ihre Hand und drückte sie.
»Lass uns später in Ruhe darüber reden. Jetzt genießen wir erst einmal, dass wir uns wiederhaben, in Ordnung?«
Marinette nickte.

Als sie sich mit Alya auf den Nachhauseweg machte, lief sie wie auf Wolken. Im Vorhinein hatte sie sich jede Menge möglicher Szenarien ausgemalt – von totaler Katastrophe, über schreckliche Peinlichkeit, bis hin zu hart erkämpfter, demütigender Versöhnung.
Die Realität hatte selbst die allerbeste Vorstellung noch weit übertroffen.
Wenn es sich so anfühlte, im Alltag wie Ladybug zu handeln, wollte sie nie wieder etwas anderes tun.

Marinette rannte die Straße entlang.
Sie war von ihrem Gespräch mit Alya noch richtig euphorisch und musste sich zusammen nehmen, um nicht in einen hüpfenden Schritt zu verfallen.
Sie bog in die Gasse ein, die ihr Ziel war, sah sich noch einmal nach eventuellen Beobachtern um und schlüpfte dann in einen kleinen Zwischenraum zwischen mehreren Mülltonnen.
Sofort kam Tikki aus ihrer Tasche und flog ausgelassen vor ihrem Gesicht herum.

»Ich bin so stolz auf dich, Marinette!«, sagte sie begeistert.
»Danke, Tikki.«, leicht verlegen sah sie zur Seite, aber das glückliche Lächeln legte sie dabei nicht ab.
Sie war selbst ziemlich stolz.
Stolz und glücklich.
»Ich sollte mich beeilen. Ich will Cat Noir nicht ausgerechnet heute wieder warten lassen.«

»Moment noch!«, Tikkis Gesichtsausdruck war von erfreut zu leicht besorgt gewechselt.
»Weißt du denn überhaupt schon, was du zu ihm sagen wirst?«
»Nein.«, antwortete Marinette ganz ehrlich.
»Und das hältst du für eine gute Idee? Völlig unvorbereitet auf ihn zu treffen?«
»Ich bin nicht unvorbereitet. Ich weiß schon, was ich tun werde.«
Marinette setzte ein selbstsicheres Grinsen auf und fügte hinzu: »Ich werde auf mein Herz hören.«

Tikki konnte sich das ein verschmitztes Lächeln ebenso wenig wie sie verkneifen.
»Ach, also doch nicht nur Glückskeks?«
Marinette grinste noch breiter.
»Ich wäre keine Bäckerstochter, wenn ich Ratschläge von Keksen nicht ernstnehmen würde.«

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