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Leider hatte auch das Darüber-Schlafen Marinette kein Stück weitergebracht. Auch am nächsten Tag war sie vollkommen ratlos, was sie tun sollte.
Bereits in der Schule dachte sie nicht nur weiter über ihre Superhelden-Vorgänger nach, sonder auch darüber, wie sie Cat Noirs Gegenwart noch ein wenig länger entgehen konnte.
Das Nachdenken wurde dadurch erschwert, dass sie schon allein die Vorstellung schrecklich fand, noch länger mit ihren Gedanken ganz auf sich gestellt zu sein.
Natürlich konnte sie mit ihm sowieso nicht über all das reden, aber zumindest könnte er sie ablenken. Er könnte ihr einige dringend notwendige Minuten des Nichts-Denkens verschaffen.
Leider war das eine der wenigen Gewissheiten, die Marinette hatte: Es wäre eine dumme Idee, Cat Noir zu treffen, bevor sie Genaueres wusste.

Als ihr Handy am frühen Nachmittag einen kurzen Signalton von sich gab und das Auftauchen eines Superschurken in Paris meldete, erübrigte sich das Grübeln über ihre nächsten Schritte.
Jetzt war erst einmal Ladybug gefragt.
Sie kletterte nach draußen auf ihren kleinen Balkon und von dort weiter aufs Dach. Während sie sich verwandelte, versuchte sie herauszufinden, was sie empfand, aber es war alles andere als leicht zu durchschauen.
War das Freude? Furcht? Erleichterung? Panik?

Sobald sie von der Dachkante sprang und sich auf den Weg machte, rückte all das schlagartig in den Hintergrund.
In den letzten Wochen hatte sie als Ladybug mehr Zeit mit freundschaftlichen Treffen als mit Superschurkenbekämpfung verbracht. Aber zum Glück waren die Maske und die Pflicht so wirksam wie gewohnt.
Als sie sich in großen Schwüngen ihrem Ziel im Osten der Stadt näherte, wurde alles andere bedeutungslos und ihre Gedanken waren so klar und fokussiert, wie sie sein mussten.
Vor vielen Wochen hatten ihre persönlichen Probleme dazu geführt, dass sie sich selbst in Gefahr gebracht hatte.
Ein zweites Mal würde ihr das nicht passieren.

Als ihre Faust auf Cat Noirs traf, erschien wie von selbst ein Lächeln auf Marinettes Gesicht.
Auch nach all der Zeit fühlte es sich noch gut an, die Stadt erfolgreich gerettet zu haben. Und womöglich war Cat Noirs strahlendes Lächeln auch nicht ganz unbeteiligt daran, dass es ihr wieder besser ging.

»Bilde ich mir das nur ein oder sind wir in den letzten Wochen noch einmal deutlich effizienter und schneller geworden?«, fragte er und stützte sich lässig auf seinem ausgefahrenen Kampfstab ab.
Sie antwortete mit einem Schulterzucken, stimmte ihm innerlich aber zu.

Seit sie sich ständig trafen und auch in ihrer Freizeit gemeinsam ihre Fähigkeiten benutzten, kämpften sie tatsächlich mehr im Einklang als früher. Sie mussten sich so gut wie gar nicht mehr absprechen, sondern verständigten sich nur noch über Blicke.
Das schlug sich unter anderem in ihrer Geschwindigkeit nieder.
Gerade meldete sich erst der zweite Punkt auf Marinettes Ohrringen und Cat Noir hatte sogar noch eine halbe Minute mehr Zeit als sie.

»Hey, sehen wir uns nachher noch?«, fragte er gerade und sah sie hoffnungsvoll an.
Sie war ehrlich versucht, einfach zu nicken. Unheimlich gern hätte sie den Abend mit ihm verbracht, doch ihre Vernunft gewann.
Solange es so noch so viele Unsicherheiten und unkalkulierbare Risiken gab, würde Cat Noirs Gesellschaft nur alles verkomplizieren.

»Ich habe heute wieder keine Zeit.«, antwortete sie.
Die Enttäuschung in seinem Blick war kaum zu ertragen.
»Aber Morgen sehen wir uns.«, schob sie schnell hinterer. »Versprochen.«
Cat Noirs Augen blitzten erfreut auf und es war Marinette nicht einmal möglich, ihre Worte zu bereuen.
»Dann bis morgen. Ich freu mich schon drauf, Mylady.«

Marinette stand neben Cat Noir auf einer Brücke über die Seine. Beide lehnten sie an der steinernen Brüstung und sahen hinab auf das Wasser.
»Ich habe dich vermisst, Mylady.«
Sie wandte den Kopf und erwiderte Cat Noirs herzliches Lächeln.
»Ich habe dich auch vermisst.«
»Bitte verlass mich nie wieder, ja? Versprich es mir!«
Marinette war leicht verwirrt. Warum sagte er das jetzt?

Statt zu antworten, sah sie wieder hinab auf das Wasser. Die Seine wirkte irgendwie dunkler als sonst. Und auch wilder.
Es sah beinahe so aus, als würden die schwarzen Wogen immer höher steigen; als würden sie jeden Moment die Brücke erreichen, auf der sie standen.

Auf einmal machte Cat Noir einen Satz auf die Brüstung, richtete sich auf und sah zu Marinette hinab.
»Spring mit mir!«, forderte er sie auf und hielt ihr seine Hand hin.
»Was? Du willst da runterspringen?«
»Spring mit mir, Ladybug.«, wiederholte er und sah mit einem sanften, einladenden Lächeln zu ihr hinab.
»Cat, ich ...«, sie wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte.

»Marinette?«, erklang da auf einmal eine Stimme hinter ihr und sie drehte sich überrascht um.
Einige Meter hinter ihr stand Adrien und sah sie an.
»Marinette.«, sagte er noch einmal und strahlte übers ganze Gesicht.
Verwirrt sah Marinette an sich selbst hinab und stellte fest, dass sie ihren Ladybug-Anzug nicht trug. Sie fasste sich ins Gesicht - keine Maske.

»Ladybug?«
Sie fuhr wieder zu Cat Noir herum. Noch immer streckte er seine Hand nach ihr aus und lächelte sie an.
»Marinette, ich muss dir etwas sagen.«, erklang Adriens Stimme erneut.
Sie wich zwei Schritte zur Seite, um Abstand zu den beiden zu bekommen.

»Ich habe mich geirrt.«, redete Adrien weiter. »Ich will mit dir zusammen sein, Marinette. Du bist die Einzige für mich.«
»Was?«, stammelte sie und erwiderte seinen Blick; seinen liebevollen Blick aus strahlend grünen Augen.

»Ladybug, spring mit mir!«
Sie sah wieder zu Cat Noir auf.
»Marinette, lass uns zusammen sein!« Nun streckte auch Adrien seine Hand nach ihr aus.
Vollkommen hilflos sah sie zwischen den beiden hin und her. Zwei grüne Augenpaare schienen sich regelrecht in ihre Seele zu brennen.
Sie senkte den Blick und sah auf ihre beiden ausgestreckten Hände.
»Marinette!«
»Ladybug!«

Als das Weckerklingeln den Traum abrupt beendete, brauchte Marinette einige Sekunden, um wieder in der Realität anzukommen.
Als sie sich müde die Augen rieb, tauchten sofort wieder Adriens und Cat Noirs Gesichter vor ihr auf.
Und selbst als sie das Bett bereits verlassen hatte, waren die Gefühle aus dem Traum noch unangenehm präsent.

Sie wusste noch, wie es sich angefühlt hatte, zwischen den beiden hin und her zu sehen. Sie spürte noch immer leicht den Druck auf sich, eine Entscheidung treffen zu müssen.
Nichts an dieser Situation war echt oder auch nur ansatzweise realistisch gewesen. Und viele der Details verblassten bereits wieder aus ihrem Gedächtnis.
Die Entscheidung allerdings fühlte sich auch Stunden später noch erschreckend real an - als würde Marinette sie tatsächlich schon bald treffen müssen.

Als die Schulklingel endlich den Unterricht beendete, packte Marinette ohne Eile ihre Sachen zusammen und verließ den Klassenraum.
Mit langsamen Schritten stieg sie die Treppe nach unten in Richtung Ausgang. Einige ihrer Mitschüler eilten an ihr vorbei, konnten es anscheinend kaum erwarten, endlich nach draußen zu kommen. Sie selbst hatte nichts, worauf sie sich freuen konnte.

Als sie Adrien am Fuß der Treppe erblickte, blieb sie auf halber Höhe stehen und sah zu ihm hinab.
Es fühlte sich absolut seltsam an, ihn nach dieser Nacht vor sich zu sehen.
»Marinette, lass uns zusammen sein!«, hörte sie seine Traumversion noch in ihrem Kopf. Und irgendwo in ihrem Innern kribbelte es bei der Erinnerung an seinen innigen Blick.

»Sehen wir uns heute Abend endlich mal wieder?«
Nino war auf Adrien zugekommen und stand ihm nun gegenüber. Erwartungsvoll sah er ihn an.
»Tut mir leid, aber ich habe schon was vor.«, erwiderte Adrien.
Sogar aus der Entfernung konnte Marinette überdeutlich das Lächeln sehen, das er sehr stümperhaft vor Nino zu verbergen versuchte.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir in letzter Zeit jemand sehr erfolgreich meinen besten Freund streitig macht.«, meinte Nino.
»Es ist doch nicht etwa die Person, die ich denke, oder?«
Er grinste seinen Freund an und auch Adriens Mundwinkel wanderte noch ein Stück weiter in die Höhe. Er sagte nichts, doch sein Gesichtsausdruck war Antwort genug.

»Na gut, dann kann ich dir wohl nicht böse sein. Immerhin hast du es bei Alya und mir auch immer geduldig ertragen.«
»Sie ist bestimmt auch nicht böse darüber, dich in letzter Zeit häufiger für sich allein zu haben.«
Die beiden setzten sich in Bewegung und gingen nach draußen.

Marinette verharrte noch einen Moment auf der Treppe.
Sie versuchte zu ergründen, wie es ihr ging, doch es fiel ihr unheimlich schwer. Eigentlich wollte sie den Traum einfach nur vergessen, aber er schob sich immer wieder in den Vordergrund ihrer Gedanken.
Die Situation gerade hatte noch einmal deutlich gemacht, dass der echte Adrien nichts mit dem Traum-Adrien gemein hatte.
Und trotzdem warf der Traum eine Frage auf, die sich ungeheuer aufdringlich in Marinettes Kopf festsetzte, und die sie wohl erst wieder loswerden würde, wenn sie eine Antwort darauf fand.
Wenn Adrien tatsächlich heute auf sie zukommen und ihr seine Liebe gestehen würde: Was würde sie tun? Würde sie seine Hand ergreifen und Cat Noir hinter sich lassen? Oder hatte sich womöglich seit Schuljahresbeginn etwas in ihr verändert?

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