13
Der Schultag rauschte an Marinette vorbei, ohne dass sie viel davon mitbekam. Sie hing in ihren eigenen Gedanken fest und selbst Tikki schaffte es kaum, sie zum Reden zu bringen.
Am Nachmittag saß sie an ihrem Schreibtisch, vor sich ein offenes Schulbuch und ein Blatt mit Aufgaben, die sie erledigen musste. Sie hatte noch nicht einmal den Stift in die Hand genommen, geschweige denn über das Thema nachgedacht.
Völlig abwesend starrte sie ins Nichts.
»Marinette?«
»Ma-ri-nette!«
»MARINETTE!!!«
Erst beim dritten Mal schaffte es Tikki, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie schwebte wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht und fuchtelte wild mit ihren kleinen Kwami-Pfoten.
»Was ist denn, Tikki?«
»Das sollte ich dich fragen. Was ist denn heute nur mit dir los?«
»Gar nichts ist mit mir los.«, erwiderte Marinette und griff demonstrativ nach dem Schulbuch. »Ich muss jetzt weitermachen.«
»Du meinst, du musst weiter reglos Löcher in die Luft starren?«
»Ich habe jetzt keine Zeit für so etwas, Tikki! Ich muss das hier noch fertig bekommen, bevor ich mich dann wieder mit -«
Mitten im Satz brach sie ab und versank wieder in ihren Gedanken.
»Marinette.«, Tikkis Stimme war sanfter geworden. »Geht es dir gut?«
»Klar, warum sollte es mir nicht gut gehen?«, antwortet sie abwesend und zeichnete schnell ein paar unzusammenhängende Linien auf das Blatt vor sich.
Tikki setzte sich auf ihre Hand und hielt den Stift fest, um sie davon abzuhalten.
»Bitte, Marinette, rede mit mir! Vielleicht kann ich dir ja irgendwie weiterhelfen.«
Marinette wollte sie abschütteln, doch etwas hielt sie zurück.
Womöglich würde es helfen, ihre Gedanken laut auszusprechen, und vermutlich hatte Tikki auch Antworten auf einige ihrer Fragen.
Allerdings bedeutete das Aussprechen ihrer Gedanken auch, dass sie real wurden. Dann konnte sie nicht mehr behaupten, dass es sie nicht gab. Und wenn es sie gab, hatten sie auch etwas zu bedeuten.
Marinette seufzte laut, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
Als sie schließlich zu reden begann, war sie um einen möglichst neutralen Tonfall bemüht.
»Es ist eigentlich gar keine so große Sache. Da sind nur ein paar Fragen, die ich bisher noch nie gestellt habe. Zu den Miraculous und ihren Trägern.«
»Das klingt doch nach genau der Sache, bei der ich dir Antworten geben kann.«, erwiderte Tikki lächelnd und setzte sich auf den Rand von Marinettes Computerbildschirm, um mit ihr auf Augenhöhe reden zu können.
»Frag mich einfach! Wenn ich die Antwort kenne, werde ich sie dir geben.«
»Naja, ich habe mich zum Beispiel gefragt, ob die früheren Ladybugs auch alle einen Cat Noir hatten.«
Tikki nickte.
»Ja, hatten sie. Das Marienkäfer-Miraculous und das Katzen-Miraculous gehören schon immer zusammen.
Es braucht immer den Gleichklang zwischen Entstehen und Zerstörung.
Vor einigen Jahrhunderten gab es mal den Fall, dass ein Hüter nur mein Miraculous an eine Trägerin übergeben hat, während das Katzen-Miraculous in seiner Verwahrung geblieben ist.
Die Einzelheiten erspare ich dir, aber es hatte schlimme Konsequenzen.«
Marinette dachte einen Moment darüber nach und stellte dann ihre nächste Frage: »Ich weiß ja, dass mein Miraculous immer von Frauen getragen wurde. Wie ist das bei dem Katzen-Miraculous? Wurde es immer nur an männliche Träger übergeben oder gab es auch schon einmal eine weibliche Cat Noir?«
Diesmal holte Tikki für ihre Antwort ein wenig weiter aus.
»Wie du ja weißt, sind eure beiden Miraculous die bedeutendsten, und auf ihre Art auch die mächtigsten. Sie waren schon immer die Ersten, die verteilt wurden, wenn die Situation nach Superhelden verlangte.
Auf all die Jahrhunderte gesehen, wurden diese beiden Miraculous von allen mit Abstand die längste Zeit getragen.
Deswegen war die richtige Wahl der Träger bei ihnen besonders wichtig.
Ein großer Teil der Hüterausbildung besteht darin, die Grundsätze zu lernen, anhand derer die Miraculous-Träger ausgewählt werden, speziell auch beim Marienkäfer- und Katzen-Miraculous.
Es geht dabei immer um Gleichgewicht, Ausgeglichenheit, sich ergänzende Gegensätzlichkeit.
Die beiden Träger sollen sich stark voneinander Unterscheiden und in diesen Unterschieden perfekt zusammen passen. Deswegen ist es immer ein Mädchen und ein Junge, beziehungsweise ein Mann und eine Frau.
Es waren nicht immer die exakt gleichen Eigenschaften, die bei einer Trägerin oder einem Träger gesucht wurden. Es gab durchaus deutliche Unterschiede zwischen deinen Vorgängerinnen, Marinette.
Und natürlich gibt es auch ganz grundsätzliche Charakterzüge, die Ladybug und Cat Noir immer gemein haben.
Einen starken Gerechtigkeitssinn. Aufrichtigkeit. Mut. Die Bereitschaft, sich selbst zurückzustellen für das Wohl der anderen.
Und dazu kommen dann noch die gegensätzlichen Eigenschaften, mit denen sich die Träger ergänzen sollen.
Kraft und Sanftheit.
Durchsetzungsfähigkeit und Zurückhaltung.
Impulsivität und Besonnenheit.
Gelassenheit und Vorsicht.
Ehrgeiz und Genügsamkeit.«
Tikki verstummte einen Moment und gab Marinette Zeit, darüber nachzudenken. Dann redete sie weiter.
»Es gibt keine eingebauten Sperren in euren Miraculous, die an das Geschlecht gebunden sind. Du konntest ja ohne Probleme Cat Noirs Ring tragen, als du deine Ohrringe verloren hattest, und umgekehrt.
Allerdings war das nur für eine sehr kurze Zeit. Was ein längerfristiger Tausch für Folgen hätte, weiß ich nicht. Es ist bisher noch nie vorgekommen.«
Die nächste Frage brannte Marinette längst unter den Nägeln, doch sie hielt sich zurück. Bevor sie sie aussprach, hielt sie ganz bewusst mehrere Sekunden inne, um sich auf ihre Stimme und ihren Gesichtsausdruck zu konzentrieren.
»Wenn die vorherigen Ladybug und Cat Noir immer eine Frau und ein Mann waren,«, sagte sie ruhig und gefasst, »ist es da in der langen Zeit auch einmal vorgekommen, dass zwei von ihnen mehr waren, als nur Superhelden-Partner?«
Ein kleines Lächeln breitete sich auf Tikkis Gesicht aus und da wusste Marinette, dass ihre Bemühungen zwecklos gewesen waren.
Es war ein wissendes und gleichzeitig mysteriöses Lächeln, das ihr irgendwie unangenehm war.
»Hat es etwas zu bedeuten, dass du diese Frage ausgerechnet heute stellst?«, fragte Tikki und sah sie eindringlich ein.
»Was meinst du damit?«
»Ich meine, nach gestern Abend ...«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst. Kannst du nicht einfach die Frage beantworten?«
Tikki kniff die Augen leicht zusammen und legte den Kopf auf die Seite. Schließlich antwortete sie langsam: »Tut mir wirklich leid, Marinette, aber du solltest das lieber nicht wissen.«
»Was? Wieso?«
»Es würde dir nicht weiterhelfen.«
Das war alles, was Tikki dazu sagte. Und es verärgerte Marinette.
»Du bist mein Kwami. Du musst antworten, wenn ich dich dazu auffordere.«
»Stimmt. Wenn du mich drängst, muss ich es sagen. Aber ich bitte dich darum, mir zu vertrauen und es nicht zu tun.«
Auf ihre Entscheidung wartend sah Tikki sie an.
Marinette holte Luft, öffnete den Mund - und schloss ihn unverrichteter Dinge wieder.
Sie hasste es, von Tikki bevormundet zu werden. Aber wenn sie so etwas sagte, hatte das einen guten Grund. Und in all der gemeinsamen Zeit hatte sie gelernt, dass es klug war, dem Rat ihres Kwamis zu vertrauen.
»In Ordnung. Du musst es mir nicht sagen.« Sie wandte sich wieder ihren Hausaufgaben zu.
»Es war sowieso nicht so wichtig.«
Ihr Blick heftete sich an die Textzeilen des Lehrbuches, ihre rechte Hand griff nach dem Stift und die linke zog ein neues Blatt Papier aus einem Block.
Äußerlich musste es aussehen, als würde sie sich tatsächlich mit den Schulaufgaben beschäftigen.
Ihre Gedanken jedoch waren nach wie vor bei den Miraculous und den früheren Trägern.
Tikkis Worte hatten dem Durcheinander in Marinettes Kopf eine ganz neue Richtung gegeben - und sie hatten einen regelrechten Sturm darin entfesselt.
Als sie die ersten Worte aufs Papier schrieb, bekam sie selbst nicht mit, was sie da tat.
Auf einmal schien so etwas wie Hausaufgaben völlig irrelevant, denn es gab da ein Geheimnis.
Ein Geheimnis aus der Vergangenheit, das allem Anschein nach auch für Marinettes Leben eine wichtige Rolle spielte.
»Tikki, verwandle mich.«
Marinette schloss die Augen und wartete, bis die Verwandlung abgeschlossen war. Dann griff sie langsam nach ihrem Bugphone und öffnete es.
Warte heute nicht auf mich. Ich schaffe es leider nicht.
Die Nachricht an Cat Noir war noch keine Minute verschickt, als auch schon die Antwort kam.
Kein Problem. Dann hoffentlich bis morgen.
Schlaf gut, Pünktchen.
Sie klappte das Bugphone zu und verstaute es, dann ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken, verschränkte die Arme auf der Tischplatte und legte ihren Kopf darauf ab.
Es wäre der Moment gewesen, um sich zurückzuverwandeln, doch sie machte keinerlei Anstalten. Sie wollte weder Tikkis vorwurfsvollen Blick sehen noch ihre Stimme hören.
Und solange sie sich in den Miraculous-Ohrringen befand, hatte Marinette Ruhe vor ihr.
Es war das erste Mal, dass sie so etwas tat - dass sie Tikki regelrecht in ihren Ohrringen einsperrte. Und sie hatte auch ein wenig ein schlechtes Gewissen dabei.
Aber es wurde etwas erträglicher, als sie sich selbst etwas klarmachte: Es war nicht so, dass sie Tikkis Gesellschaft meiden wollte - zumindest nicht nur.
Sie hatte auch Angst, einzuknicken. Sie hatte Angst, doch noch schwach zu werden und Tikki ein zweites Mal nach den ehemaligen Miraculous-Trägern zu fragen.
Die Sache ging ihr nämlich nicht mehr aus dem Kopf.
Vor dem Gespräch mit Tikki waren es nur ein paar fixe, ungeordnete Überlegungen gewesen. Jetzt nach dem Gespräch war Marinette sich sicher, dass es irgendwie wichtig war.
Warum sonst sollte Tikki Informationen zurückhalten?
»Du solltest das lieber nicht wissen.«, hatte sie gesagt.
Gab es irgendeine Erwiderung, mit der sie Marinette noch neugieriger hätte machen können?
Dieser Satz war wie ein Auslöser gewesen; wie ein Steinchen, das eine ganze Lawine in ihren Gedanken ausgelöst hatte.
Eine der ersten Erkenntnisse war, dass es Beziehungen zwischen früheren Ladybugs und Cat Noirs gegeben haben musste.
Wenn nicht, hätte Tikki es einfach verneinen können.
Aber warum sollte sie so ein Geheimnis darum machen?
Was war passiert?
Hatte es zu Problemen geführt? Zu Komplikationen?
Marinettes Fantasie hatte längst begonnen, mit verschiedenen Szenarien herumzuspielen - von abgelenkten Superhelden-Paaren, die überwältigt wurden, über akumatisierten Superhelden mit gebrochenen Herzen, bis hin zu einem Superschurken, der die Liebe des Paares als Druckmittel missbrauchten.
Mit jeder Minute wurden die Vorstellung düsterer, bis nur noch die totale Katastrophe als Option übrig blieb.
Und ihr Vorwissen machte die ganze Sache nicht besser. Immer wieder mischte sich die Erinnerung an Cat Blanc in ihren Gedankenstrudel.
Marinette hatte sich immer eingeredet, dass damals die Offenbarung ihrer Identität für die Zerstörung in der Zukunft verantwortlich gewesen war. Aber genau genommen war das nicht die volle Wahrheit.
»Unsere Liebe hat das der Welt angetan.«
Das hatte der akumatisierte Cat Noir zu ihr gesagt.
Sie wusste nicht, wie genau es dazu gekommen war, aber die Liebe zwischen ihr und Cat Noir war ohne Zweifel mit dafür verantwortlich gewesen.
Eine Liebe, die sie sich damals nicht hatte erklären können.
Der kurze Abstecher in die Zukunft hatte eine Flut an Fragen aufgeworfen, und in den darauf folgenden Tagen und Wochen des Grübelns, hatte sie auf keine Einzige davon eine Antwort gefunden.
Irgendwann hatte sie sich verbieten müssen, weiter darüber nachzudenken, um davon nicht in den Wahnsinn getrieben zu werden.
Leider bezweifelte sie, dass Verdrängung dieses Mal eine Option war.
Tikki hatte mit Sicherheit nur das Beste für sie gewollt, als sie ihr die Wahrheit über die früheren Miraculous-Paare verschwiegen hatte.
Aber dass ihr Schweigen Marinette komplett fertigmachen würde, hatte sie wohl nicht mit einberechnet.
Als der Wind draußen vor dem Fenster zunahm und den Rahmen zum Vibrieren brachte, hob Marinette den Kopf und sah nach draußen.
Seit sie von der Schule nach Hause gekommen war, waren dunkle Herbstwolken aufgezogen und es sah aus, als würde es jeden Moment zur Regnen beginnen.
Sofort dachte sie an Cat Noir.
Hoffentlich war er nach ihrer Nachricht zu Hause geblieben. Die Vorstellung, wie er irgendwo dort draußen allein auf den Dächern unterwegs war, behagte ihr nicht.
In den folgenden Stunden schien ihr Kopf beinahe zu Platzen vor Gedanken, aber immer Mal wieder blitzte trotzdem eine Empfindung inmitten all der Fragen und Unsicherheiten auf: Bedauern.
Sie wusste, dass sie richtig gehandelt hatte. Trotzdem bedauerte sie es, den Abend nicht mit Cat Noir verbracht zu haben.
Sie hätte gern gewusst, womit er sie heute überrascht hätte, welches neue Detail sie über ihn erfahren hätte - und womit er sie zum Lachen gebracht hätte.
Bei dem Gewitter, das inzwischen tobte, hätte es eigentlich eine Erleichterung sein müssen, nicht dort draußen zu sein. Aber irgendwie war die Vorstellung von ihr und Cat Noir, wie sie sich einen gemeinsamen Unterstand suchten und in den strömenden Regen sahen, völlig abgeschnitten von der Welt, gar nicht mal so schlecht.
Und das wiederum machte all die Fragen in ihrem Kopf umso wichtiger - und erschreckender.
Als Marinette sich spät am Abend wieder zurückverwandelte, war sie unheimlich erschöpft.
Tikkis Bemerkung »Du wirst Cat Noir nicht ewig aus dem Weg gehen können.«, nahm sie mit einem müden Nicken entgegen und kroch dann unter ihre Bettdecke.
Nur zu gern überließ sie der Marinette von Morgen das Chaos in ihrem Kopf, und ergab sich dem bleiernen Schlaf, der auf sie wartete.
Mittlerweile fehlte ihr die Kraft für weiteres Nachdenken oder für genaues Hinhören, wie es ihr selbst ging.
Und als diese Mal Cat Noirs Bild vor ihr auftauchte, nahm sie es bereitwillig an.
Wenigstens in den letzten Sekunden des Tages hatte sie sich sein tröstendes Lächeln verdient.
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