11
Hoch oben auf dem Funkmast hatte der Wind zugenommen.
In ihrem Ladybug-Anzug fror Marinette nicht, aber trotzdem sehnte sie sich nun nach der Wärme und Gemütlichkeit ihres eigenen Zimmers.
Sie wollte dieses Gespräch mit Cat Noir nicht weiterführen. Es würde kompliziert und anstrengend sein und den erholsamen Effekt seiner Gesellschaft kaputtmachen, den sie nach einem langen Schultag gebraucht hatte.
»Du wurdest schon einmal akumatisiert.«
Cat Noir brauchte einige Sekunden, um den Satz halbwegs zu verarbeiten.
»Was? Nein, wurde ich nicht.«, erwiderte er schließlich.
»Ich wurde mal von einem dunklen Amorpfeil getroffen und hatte mich nicht mehr richtig unter Kontrolle. Und Puppeteer hat mich auch mal kontrolliert. Aber akumatisiert wurde ich nie.«
Marinette atmete erleichtert auf. Sie musste Cat Noir nun nicht mehr korrigieren und ihm von der Sache erzählen.
Er hatte ihr gerade die perfekten Argumente gegeben, um ihn auch so zu überzeugen.
»Da merkst du es selbst: Hättest du in diesen Situationen meine Identität gekannt, wüsste Hawk Moth jetzt, wer ich bin.«
Cat Noir ließ den Kopf hängen.
Endlich hatte er es begriffen.
Marinette schloss die Augen und atmete erleichtert ein paar Mal tief ein und wieder aus.
Nicht nur war sie um ein langes, anstrengendes Gespräch herumgekommen, Cat Noir hatte auch endlich verstanden, was die Gefahr hinter all dem war.
Hoffentlich würde es also auch in Zukunft -
»Was meintest du gerade damit?«, unterbrach Cat Noirs Stimme ihre Gedanken.
Marinette presste die Augen noch fester zusammen, doch es half nichts.
Jetzt würde nur das spontane Auftauchen eines Superschurken Cat Noir von dieser Sache abbringen.
Sich an diese letzte Hoffnung klammernd, öffnete sie vorsichtig ihr linkes Auge und sah sich um. Leider kein Superschurke in Sicht.
»Ladybug! Was meintest du gerade damit?«, drängte Cat Noir noch einmal.
Mit einem Seufzen wandte sie sich zu ihm um.
»Du wurdest schon einmal akumatisiert.«, wiederholte sie.
Sofort fragte Cat Noir weiter nach.
»Wann soll das gewesen sein? Und warum kann ich mich nicht daran erinnern?«
»Weil es ... in einer anderen Zeitlinie passiert ist.«
Deutliche Verwirrung machte sich auf Cat Noirs Gesicht breit.
Marinette holte noch einmal tief Luft und begann dann von Anfang an zu erzählen.
»Es ist schon eine ganze Weile her. Ich habe damals meine Kräfte als Ladybug für eine private Sache missbraucht. Erst habe ich mir nichts dabei gedacht, aber dann ist plötzlich Bunnyx aus der Zukunft aufgetaucht.
Sie meinte, irgendetwas an diesem Tag hätte die Zeitlinie komplett durcheinandergebracht und das hätte in der Zukunft katastrophale Folgen gehabt.
Sie hat mich mitgenommen, damit ich es wieder in Ordnung bringe; in die Zukunft.«
Cat Noirs Augen waren bei jedem Wort größer geworden. Marinette musste zur Seite sehen, um weiterreden zu können.
»Was ich dort gesehen habe ... es war einfach grauenhaft! Ganz Paris war zerstört. Und ich habe sehr schnell herausgefunden, wer dafür verantwortlich war.
Du hattest es alles zerstört.«
Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Dann redete sie schnell weiter.
»Bessergesagt: Dein akumatisiertes Ich.
Du warst nicht mehr Cat Noir sonder Cat Blanc. Ich habe dich getroffen und mit dir gekämpft.«
»Wie ... wie ist es passiert?«, fragte Cat Noir leise nach.
»Ich kenne die Einzelheiten nicht. Ich weiß nur, dass es damit zu tun hatte, dass meine Identität bekannt geworden ist.
In der Zukunft, als Cat Blanc, kanntest du meinen echten Namen und du hast mich für all das verantwortlich gemacht.«
Kurz dachte Marinette darüber nach, ihm auch noch von dem einen Satz zu erzählen, der ihr in diesem Zusammenhang zu schaffen gemacht hatte.
»Du hast mir das Herz gebrochen, Marinette.«, hatte Cat Blanc zu ihr gesagt.
Aber sie hatte Cat Noir schon mehr als genug darüber gesagt. Dieses weitere Detail würde es nur noch komplizierter machen.
»Am Ende habe ich begriffen, wodurch das alles ausgelöst worden ist - den Missbrauch meiner Fähigkeiten. Ich bin zurück in die Gegenwart gekommen und habe meinen Fehler korrigiert. In unserer Zeitlinie ist es also nie dazu gekommen.«
Sie verstummte und auch Cat Noir schwieg eine Zeit lang.
Als er schließlich wieder etwas sagte, war es eine Frage.
»Warum hast du es mir nicht gesagt?«
Er sah sie an und sie konnte nicht genau sagen, ob sein Blick nun vorwurfsvoll, verletzt oder einfach nur neugierig aussah.
»Dieses Wissen war für mich nicht so einfach zu ertragen.«, antwortete sie ehrlich.
»Ich habe ziemlich lang gebraucht, um damit innerlich abzuschließen. Ich dachte, dass es unfair von mir wäre, dich auch damit zu belasten.«
Jetzt schlug sein Blick tatsächlich zu verletzt um.
»Wir sind ein Team, Ladybug! Du musst mit so etwas nicht allein fertig werden!«
Sie wollte etwas erwidern, doch ihr fiel nichts Geeignetes ein.
»Wenn ich davon gewusst hätte, wäre ich doch viel vorsichtiger mit dieser ganzen Geheime-Identitäten-Sache umgegangen! Warum bist du dieses Risiko denn eingegangen?«
»Ich habe damals darüber nachgedacht, es dir zu sagen.«, gab Marinette zu. »Aber ich wusste einfach nicht, was das für Konsequenzen haben würde. Ich hatte Angst, dass du womöglich an dir selbst zweifeln würdest.«
Sie senkte den Kopf und fügte mit leiser Stimme hinzu:
»Ich hatte Angst, dass du deinen Ring zurückgibst, wenn du davon erfährst.«
Cat Noir neben ihr seufzte leise und fuhr sich mit der Hand über die Katzenohren.
»Ich gebe zu, dass es nicht unbedingt motivierend ist, so etwas zu hören – zu hören, dass man potenziell ganz Paris zerstören kann.«
Marinette senkte den Blick noch ein wenig tiefer. Sie war nun unheimlich froh, dass sie einen weiteren Fakt in ihrer Erzählung ausgelassen hatte: Dass Cat Blanc nicht nur Paris zerstört hatte, sondern beinahe auch für das Ende der Welt verantwortlich gewesen wäre.
»Aber keine Sorge.«, redete Cat Noir weiter, »Ich werde meinen Ring nicht abgeben. Ich könnte all das hier niemals aufgeben.«
Er sah sie mit einem sanften Lächeln an.
Er hatte es nicht gesagt, aber Marinette glaubte, noch einen deutlicheren Satz herauszuhören: »Ich könnte dich niemals aufgeben.«
Vor einigen Tage hätte er etwas Derartiges vielleicht tatsächlich noch ausgesprochen, aber inzwischen hielt er sich mit Gefühlsbekundung zurück.
Selbst in Momenten wie diesem war ihm noch bewusst, dass ihr Herz gebrochen war.
Voller Dankbarkeit erwiderte sie sein Lächeln.
»Ich bin froh, dass ich es jetzt weiß.«
Cat Noir lehnte sich nach hinten und stützte sich auf seinen Armen ab.
»In den entscheidenden Momenten habe ich immer das Richtige getan und nicht versucht, deine Identität herauszufinden.
Aber manchmal war es beinahe unerträglich, nur so wenig über dich zu wissen. Jetzt, wo ich weiß, wie gefährlich es werden kann, wird es mir leichter fallen.
Ich verspreche dir, dass ich nicht mehr darüber nachdenke und dich auch Nichts mehr in diese Richtung frage.«
Marinette drehte sich zu ihm um und erwiderte seinen aufrichtigen, ernsten Blick.
»Und ich verspreche dir, dass ich so etwas Wichtiges in Zukunft mit dir teile.«, erwiderte sie.
Sie drehte sich wieder nach vorn und sah in Richtung Horizont, wo die Sonne bereits am Untergehen war.
Da sprach Cat Noir sie noch einmal an.
»Ladybug?«
»Ja?«
»Du hast gesehen, was passiert wäre, wenn deine Identität damals bekannt geworden wäre. Mehr nicht.«
»Was meinst du damit?«
»Ich will nur sagen, dass es trotzdem nicht immer so laufen muss. Vielleicht gibt es einen Zeitpunkt, an dem es in Ordnung ist. Und vielleicht ist es auch etwas anderes, wenn nur ich deine Identität kenne.«
Sie fuhr zu ihm herum.
»Cat! Du hast doch eben noch versprochen –
»Und daran halte ich mich auch!«, unterbrach er sie.
»Ich will diesen Gedanken nur nicht für immer und ewig aufgeben.
Solange es Hawk Moth gibt, bringt es uns in Gefahr. Schon verstanden.
Aber irgendwann könnte es kein Problem mehr sein.
Vielleicht wird es irgendwann einfach von selbst passieren – ohne, dass einer von uns beiden daran Schuld ist und ohne, dass wir etwas dagegen tun können. Und vielleicht ist es dann nicht das Ende der Welt, sondern genau der richtige Zeitpunkt dafür.
Ohne schlimme Folgen. Ohne Katastrophe.«
»Willst du wirklich darauf hoffen?«, fragte sie nach und er nickte.
»Ist das nicht das Allerwichtigste für einen Superhelden? Hoffnung?
Wir kämpfen jetzt schon so lange Zeit gegen Hawk Moth. Auf der Liste von Dingen, für die man diesen Kampf führt, kann ein weiterer Punkt nicht schaden.«
»Klingt, als wäre in deinen Augen meine Identität zu einer Belohnung für das Besiegen von Hawk Moth geworden.«
»Auf jeden Fall ein weiterer Ansporn.
Du musst jetzt nicht fürchten, dass ich dir am Tag unseres Sieges dein Miraculous von den Ohren reiße. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich dich irgendwann ohne Maske sehen werde.
Irgendwann wird es passieren.
Und bis dahin werde ich jedes Geheimnis über dich herausfinden, das noch kein anderer kennt.«
Er lehnte sich wieder nach vorn und kam ihrem Gesicht ganz nah.
»Also, Pünktchen, was hast du in deinem Schrank, wovon niemand weiß?«
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