Folge 2 - Siren
Prolog
Adrien
Ich träumte mal wieder. Mit offenen Augen. Jeden Morgen, bevor mein Wecker klingelte und Paris noch in dämmeriges Halbdunkel getaucht war, stand ich am Fenster und träumte vor mich hin. Natürlich von ihr: Ladybug. Ich kramte jede Erinnerung an sie hervor, ging jede einzelne Begegnung mit ihr durch, doch nie kam ich ihrem Geheimnis näher: wer steckte hinter dieser Maske? Aber vielleicht erinnerte ich mich auch einfach nur gern an sie. Das gab mir Kraft, den Tag zu überstehen, einen Tag voll von Chloés nerviger Anhänglichkeit und Nathalies kühlen Hinweisen auf meine Termine. Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch auf der Welt, der sich auf Akuma-Attacken freute. »Gäääähn... Kleiner? Was machst du denn? Ich habe Hunger!« Plagg schwirrte herbei. »Erzähl mir was Neues...«, murrte ich und nahm ein Stück Camembert aus dem Vorrat. Während Plagg zu schmatzen begann, wandte ich mich wieder der Stadt hinter dem Fenster zu. In mir wuchs der Wunsch, diesem leeren Haus zu entkommen, dort draußen zu sein und über die Dächer zu springen. »Plagg, bist du fertig? Wir machen einen kleinen Ausflug.« Er gähnte missbilligend, vom Käse war längst nichts mehr übrig. »So früh schon? Weißt du, dir fehlt dieses gesunde Maß an Faulheit.« Ich verdrehte die Augen. »Plagg, Verwandle mich!« Kaum war aus Adrien, dem ständig bevormundeten Jungen, Cat Noir, der freie und selbstsichere Superheld geworden, schwang ich mich aus dem Fenster und katapultierte mich mit meinem Stab von Dach zu Dach. Es fühlte sich unglaublich befreiend an, einfach so zum Spaß Cat Noir zu sein. Ich wünschte, ich könnte immer so sein. Ich hielt inne. Da war doch... Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Nicht weit von mir saß Ladybug, entspannt ließ sie die Füße von einem Dach baumeln und ließ gedankenverloren ihr Jo-Jo hoch und runter sausen. Ich sprang zu ihr herüber und setzte mich neben sie. »My Lady.« Überrascht sah sie auf. »Cat Noir? Was machst du denn hier?« Ich zuckte mit den Schultern. »Mir war langweilig, schätze ich. Und du?« Sie lächelte müde. »Ich konnte nicht einschlafen. Manchmal bin ich lieber Ladybug als mein anderes ich.« Ich stützte mein Kinn auf die Hände. »Kenne ich. Es ist leichter, sich hier oben hinter einer Maske zu verstecken, als in einem leeren Zimmer Löcher in die Luft zu starren.« Sie nickte. »Das trifft es irgendwie. Aber ich konnte nicht deswegen nicht schlafen.« »Was ist es denn dann?« Sie rieb sich besorgt die Stirn. »Nach der Sache mit Cat Cupid habe ich mich nochmal mit Evie unterhalten, bevor sie abgereist ist. Sie hat mir erzählt, dass Hawk Moth... Na ja, irgendwie verbissen geklungen hat. Ich habe Angst, dass er stärker wird, und wir nicht rechtzeitig kommen, um ihn aufzuhalten.« Ich antwortete nichts. Meine letzte Unterhaltung mit Evie ging mir durch den Kopf.
»Ich habe sehen können, wie viel sie dir bedeutet.«, flüsterte sie mir grinsend ins Ohr. »Und ich dachte mir, als Wiedergutmachung für den ganzen Ärger erzähle ich dir, wie sie für dich fühlt.« Sie machte eine dramatische Pause. »Sie ist total in dich verknallt! Über beide Ohren.«
Ich war mir da nicht so sicher. Aber es war ein wunderbarer Gedanke. »Sitzt du auch manchmal hier oben, wo du weißt, dass dich niemand sehen kann, und fühlst dich einfach sicher?«, fuhr sie fort. »Weil eben niemand weiß, wer du bist, ist es irgendwie so... Einfach. Niemand kann dich für deine Fehler verantwortlich machen, weil dich niemand kennt... Und all diejenigen, die tagsüber auf dich herabsehen, bewundern dich, wenn du ihnen mit einer Maske begegnest.« Ich nickte. »Und niemand schreibt einem vor, was man zu tun hat. Das ist glaube ich das Schönste an der Sache. Abgesehen von dir natürlich, My Lady!« Sie schüttelte grinsend den Kopf. Ich atmete seufzend aus und stand auf. »Es wird langsam Zeit für mich zu gehen.« Galant reichte ich ihr eine Hand und sie ließ sich von mir aufhelfen. »Na dann, Kätzchen. Es war schön, sich mit dir zu unterhalten.« »Finde ich auch.« Mit einem Handkuss verabschiedete ich mich und sie verdrehte die Augen. »Bis dann!« Ihr Jo-Jo wickelte sich um einen Schornstein und zog sie weg. Ich sah ihr nach, dann machte auch ich mich auf den Heimweg. Gekonnt schwang ich mich durchs Fenster und verwandelte mich zurück. »Das waren vielleicht Zehn Minuten!«, maulte Plagg. »War das die Mühe echt wert?« Ich ging zur Tür, beflügelt von dem Gedanken an eine gepunktete Heldin mit einem magischem Jo-Jo. »Ja.«, antwortete ich meinem Kwami. »Das war es.«
Marinette
Leichtfüßig lief ich zur Schule. Das Gespräch mit Cat Noir hatte wahre Wunder gewirkt, obwohl er weder irgendwelche Weisheiten zum Besten gegeben, noch besondere Ratschläge erteilt hatte, fühlte ich mich einfach besser. Als hätte er meine Sorgen einfach mitgenommen. Zumindest ihr Gewicht. »Hey, Marinette!«, begrüßte mich Alya. »Hallo!« Ich umarmte sie beschwingt. »Was ist denn mit dir los? Hast du Adrien geheiratet oder gibt es einen anderen Grund für deine Euphorie?« »Nope! Ich hab nur zwei Stunden geschlafen und fühle mich fantastisch. Ehrlich! Ab heute schlafe ich nie wieder, das wirkt Wunder!« »Aha. Dein Gesicht widerspricht dir da allerdings vehement, meine Liebe. Du siehst aus wie Frankensteins Monster mit Kater.« Ich zuckte mit den Schultern. »Nichts, was man nicht überschminken könnte. Wie läuft's mit deinem Blog?« »Besser denn je. Ich hab ein paar Leute gebeten, mir ihre Handyvideos von Ladybug und Cat Cupid zu schicken, und ich habe die Ereignisse ziemlich genau rekonstruiert. Von so vielen Klicks kann XY nur träumen! Ehrlich gesagt habe ich mir dafür auch die halbe Nacht um die Ohren gehauen.«, gab Alya zu. »Oh! Sie mal, wer da kommt. Lila, la Menteuse!*«
Tatsächlich. Sie hob ihr Kinn, als sie bemerkte, dass wir sie ansahen, und rauschte an uns vorbei.
»Tse. Chloé 2.0 in brünett. Als ob wir mit der nicht schon genug am Hals hätten.«
»Lass gut sein, Alya. Wir kennen Sie doch eigentlich gar nicht.«
»Hm.«, machte sie nur. Wir beobachteten, wie Lila die Treppe zum Eingang hinauflief. Chloé und Sabrina schienen es kaum erwarten zu können, endlich mit ihren Sticheleien anzufangen.
»Oh, Sabrina, sieh nur. Volpina erweist uns die Ehre! Die ach so berühmte Superheldin, die ja so stark und mächtig ist. Und so ehrlich!«
Sabrina nickte eifrig.
»Und die so verzweifelt versucht hat, Adriens Aufmerksamkeit zu bekommen.«
Lila blieb stehen, als sich die beiden vor ihr aufbauten. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber sie sah nicht aus, als hätte Chloé sie bereits verärgert.
»Lass mich durch.«, sagte sie ruhig, was Chloé natürlich ignorierte.
»Hör mir gut zu, Lügnerin: Adrien gehört mir.«
Lila legte den Kopf schief und schnaubte lachend. Sabrina schnappte empört nach Luft, als könnte sie es nicht fassen, dass jemand über Chloé lachte.
»Denkst du, sie macht Witze?«, regte sie sich auf. Lila antwortete nicht, woraufhin Chloé wieder in Aktion trat.
»Du hältst dich wohl für sehr schlau, Lila. Aber das ändert nichts daran, dass jeder hier weiß, dass du uns angelogen hast. Ich wusste natürlich von Anfang an, dass du lügst. Weißt du, all deine Geschichten über deine Reisen und Bekanntschaften waren ja schon unglaubwürdig genug, aber Ladybug soll deine beste Freundin sein? Never! Jeder weiß dass Ladybug und ich wie Schwestern sind! Und im Gegensatz zu dir wurde ich schon oft von ihr gerettet.«
»Wenn du das sagst.«, gab Lila gelangweilt von sich und aus dem Hintergrund bekräftigte Sabrina: »Ja, das sagt sie!«
Mit einer zackigen Handbewegung befahl Chloé ihr, still zu sein.
»Lila, liebe, arme Lila.«, sagte sie selbstgefällig. »Ich bin niemand, den man zum Feind haben möchte. Hast du eine Ahnung, wer ich bin? Ich bin Chloé Bourgeois!«
Unbeeindruckt zog Lila eine Augenbraue hoch.
»Schön...?«
»Echt jetzt? Weißt du, wer der der Bürgermeister von Paris ist?«
»Bourgeois?«
»Exakt. Und er ist mein Vater!«
Stille. Dann sanken Lilas Schultern ab und sie sagte mit bestürztem Ton: »Das ändert natürlich alles. Bitte, richte ihm mein Beileid aus, aber es ist nicht seine Schuld. Niemand hätte ahnen können, dass du geboren wirst.«
Sabrina bekam Schnappatmung und ihre Freundin lief rot an. Ohne auf die beiden zu achten lief Lila vorbei und wandte sich Richtung Musikraum, während Sabrina ständig wiederholte, dass Chloé es dieser Lila eigentlich so richtig gezeigt hätte. Das war wahrscheinlich besser, denn tatsächlich schien sie sich etwas zu beruhigen.
»Okay, ich hätte nicht gedacht, dass sie Chloé dermaßen Feuer unterm Hintern machen kann.«, gab Alya zu und ich gab ihr Recht. »Na ja, ich muss los. Nino und ich wollten noch in die Bibliothek, bevor der Unterricht anfängt. Erdkunde-Projekt. Bis dann!«
»Ja, bis dann.«
Alya ging die Treppe hoch in Richtung Bibliothek, ich dagegen bog rechts ab. Zu den Musikräumen. Lautlos öffnete ich die Tür und folgte den hellen Tönen einer einfachen Melodie. Ganz hinten stand Lila, die Augen konzentriert geschlossen. Sie spielte Querflöte. Genau wie als Volpina. Als sie fertig war klatschte ich leise, aber sie zuckte trotzdem zusammen.
»Das klang wunderschön!«, lobte ich ehrlich. Sie schnaubte abfällig.
»Wer bist du?«
»Ich heiße Marinette. Und du bist Lila, stimmt's?«
Sie beäugte mich misstrauisch, als könnte ich mich jeden Moment auf sie stürzen.
»Das weißt du doch. Jeder hier weiß es.«
»Du meinst, weil du uns angelogen hast?«
Sie sah mich wütend an.
»Das war kein Vorwurf!«, stellte ich hastig klar. »Ich glaube, ich verstehe es sogar ein bisschen.«
Lilas Blick wurde fragend.
»Na ja, ich kann mir vorstellen, wie schwer es ist, auf einer fremden Schule neue Freunde zu finden. Und Adrien ist ein Mensch gewordener Traum- also, Adrien ist traumhaft- ich meine, Adrien ist ein sehr netter Kerl, und da möchte man natürlich beeindrucken.«
Ich lächelte sie unsicher an.
»Eigentlich wollte ich dir nur sagen... Du hättest nicht lügen müssen. Das kann ich dir aus Erfahrung raten: Je öfter man lügt desto mehr verstrickt man sich darin, bis man nicht mehr aus diesem Netz rauskommt. Und... Ich halte dich für ein starkes, unbeugsames Mädchen. Wenn es jemand überhaupt nicht nötig hat, Geschichten zu erfinden, dann du.«
Ihr Blick war überrascht und irgendwie betrübt.
»Marinette, richtig?«
Sie packte ihre Querflöte ein.
»Ich... Danke. Dass du so freundlich zu mir bist.«
Mein Lächeln wurde zu einem erleichterten Strahlen.
»Nichts zu dank-« Wir hielten gleichzeitig inne. Da war noch jemand. Und dieser jemand sang. Wir schlichen etwas näher. Es kam von der Bühne, eine helle, kräftige Melodie. Das Lied kam mir bekannt vor, es klang nach einer Opernarie. Auf der Bühne stand eine Schülerin, wahrscheinlich in unserem Jahrgang. Sie hatte feuerrotes Haar, das sie notdürftig zu zwei Zöpfen zusammengebunden hatte, und an ihrem Hals funkelte ein dünnes Perlenkettchen. Ich kannte sie nur vom Sehen: Nina, Nataniëls Schwester. Sie war der Star des Chors unserer Schule, unsere Musiklehrerin sprach ständig von ihr. Und wenn man sie singen hörte, wusste man auch warum. Eine so klare und kraftvolle Stimme hatte ich noch nie gehört. Sie verstummte abrupt und sah uns an. Errötend wich sie zurück, dabei stolperte sie und fiel quietschend hin.
»Ich- Au, tut mir leid... Ich dachte, hier wäre niemand! Entschuldigung- Au!«
Sie stieß sich beim Aufstehen den Kopf an einem Pappbaum für das Bühnenbild. Wow. Sie war tatsächlich noch tollpatschiger als ich.
»Ich wollte nicht, also, ich meine, das ist peinlich, tut mir leid...«, stotterte sie vor sich hin.
»Hey, schon gut.«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Wofür entschuldigst du dich denn?«
Sie stand mühsam auf und klopfte sich den Staub von ihrem Rock.
»Ich... Ich weiß nicht, ich... dachte, ich wäre allein. Ich wollte euch nicht stören.«
Lila schüttelte schnaubend den Kopf.
»Stören? Du singst doch toll! Weißt du, als Leyla Hugo** bei uns zu Hause gesungen hat, dachte ich schon, dass das super klingt, aber du warst fast noch besser.«
Nina sah überrascht auf.
»Besser als Layla Hugo? Die Opernsängerin? Findest du wirklich?«
Lila nickte und auf Ninas Gesicht breitete sich ein Strahlen aus.
»Sie ist mein Vorbild, wisst ihr? Ich möchte irgendwann genauso berühmt sein wie sie. Ich habe mich sogar bei einer Jugendoper zum Vorsingen angemeldet!«
»Cool. Wann war das denn?«, fragte ich neugierig.
»Oh, das war noch nicht. Es ist ist übermorgen. Mein Problem ist nur... Ich kann nicht vor Publikum singen.«
Oh. Das erklärte ihre Nervosität, als sie uns gesehen hatte. Der Schulgong unterbrach unser Gespräch, und wir verabschiedeten uns von Nina.
»Viel Glück beim Vorsingen!«, rief ich ihr noch zu, dann machten wir uns auf den Weg zum Klassenzimmer. Lila blieb den ganzen Weg über sehr still, ihr Blick war fest auf den Boden gerichtet.
»Du hast Layla Hugo nie getroffen, oder?«, brachte ich es dann zur Sprache. Sie nickte und drehte sich von mir weg.
»Ich wollte nicht lügen... Ich hatte es plötzlich gesagt, und dann konnte ich nicht mehr zurück. Es ist mir einfach rausgerutscht.«
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Lila... Ist nicht schlimm.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Doch.«
»Nein! Niemand ist immer völlig ehrlich, und du hast ja nicht in allem gelogen: Nina ist wirklich mindestens so gut wie Layla Hugo. Denk... Denk einfach immer daran, dass du es nicht nötig hast, die Dinge zu beschönigen.«
»Warum redest du eigentlich mit mir? So oft, wie ich Lüge...«
»Ganz einfach: Ich mag dich. Und du hast mich beeindruckt. Als du vorhin in die Schule gekommen bist, hast du Chloés und Sabrinas Sticheleien einfach an dir abprallen lassen. Das zeugt von Stärke, Lila, und Selbstvertrauen. Ich wünschte, ich könnte das auch. Du brauchst keine Lügen oder Superkräfte, solange du dich daran erinnerst, was für ein starker Mensch du bist.«
Schneller als ich blinzeln konnte, hatte sie ihre Arme um mich geschlungen und drückte mich einmal herzlich.
»Du bist ein Engel, Marinette. Danke!«
Adrien
Ein entnervtes Seufzen bahnte sich den Weg durch meine Kehle. Gruppenarbeit war ja an sich nichts schlechtes, aber mit Nataniël? Gut, er war kein schlechter Kerl, und er arbeitete gut mit, aber trotzdem! Wenn er nichts zu tun hatte, starrte er entweder Marinette an, oder er kritzelte sie in sein Zeichenbuch. Und, auch wenn es mich nichts anging, irgendwie störte es mich. Der Gong zum Schulende war für mich eine Erlösung. Ich schnappte mir meine Tasche und ging zur Tür. Ein Rumpeln ließ mich zusammenzucken, es kam aus einem Seitenfach. »Plagg, was soll das?«, zischte ich. »Hör auf damit!« Ich versteckte mich hinter den Spinden und öffnete die Tasche, sofort huschte das schwarze Kwami hervor. Seine Schnurrhaare wackelten wie verrückt. »Das ist nicht meine Schuld!«, meckerte er. »Jemand ruft mich.« »Jemand ruft dich? Wer? Und Wie?« Er verdrehte die Augen. »Der Hüter natürlich. Wir müssen los!« Ohne auf meine Antwort zu warten schwirrte er los. »Plagg! Warte, verdammt noch mal!« Zum Glück waren bereits die meisten Schüler draußen, sodass niemand bemerkte, wie ich dem kleinen Katzenwesen hinterher jagte. »Komm zurück!«, rief ich ihm hinterher, aber er sauste einfach weiter. Völlig außer Atem holte ich ihn schließlich vor einem Mehrfamilienhaus ein. »Was zur Hölle sollte das, Plagg!? Was, wenn dich jemand gesehen hätte?« »Ach, komm runter, Kleiner! Ich hab aufgepasst.« Ich schnaubte wütend, dann sah ich am Gebäude hinauf. »Was wollen wir hier überhaupt?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich wohnt der Hüter hier.« »Der Hüter?« »Jep. Kennst du noch nicht, aber das ändert sich jetzt! Komm mit.« Wieder schwirrte er davon, diesmal allerdings langsam genug, um ihm folgen zu können. Vor einer Tür im zweiten Stock hielt er schließlich an und ich klopfte zögerlich. »Herein!«, bat eine Stimme von drinnen. Vorsichtig öffnete ich die Tür, in Erwartung, irgendeinen mysteriösen Ort vor mir zu haben, einen Tempel oder etwas ähnliches, in dem dieser Hüter lebte. Tatsächlich war es eine ganz gewöhnliche Wohnung, klein und spärlich möbliert. Auf einer Schilfmatte saß ein asiatisch aussehender Mann, der, trotz seines definitiv höheren Alters, irgendwie einschüchternd wirkte. Im Yogasitz und mit geschlossenen Augen hob er den Kopf, als ich eintrat. »Ah, Cat Noir. Entschuldige bitte die plötzliche Störung, aber die Zeit drängt. Wir haben viel zu besprechen.« Mein Mund klappte auf. Das mich jemand so selbstverständlich mit Cat Noir ansprach, brachte mich irgendwie aus dem Konzept. »Ich, äh, es tut mir leid, aber ich erinnere mich nicht an ihren Namen.« »Ich habe ihn dir auch nie genannt. Er lautet Fu. Meister Fu, Hüter der Miraculous und ihrer Kwamis. Oh, und das ist Wayzz, mein langjähriger Begleiter.« Ein kleines, hellgrünes Wesen schwebte hervor. »Sei gegrüßt, Cat Noir. Plagg, wie schön, dich wiederzusehen.« »Hey, Grüner. Was hab ich verpasst?« Eifrig schwätzend machten sich die zwei aus dem Staub. »Meister Fu, was genau mache ich hier?«, fragte ich verwirrt. »Nun, ich nehme an, Ladybug hat dir noch nichts erzählt?« »Ladybug? Sie war hier? Kommt sie auch?« Bitte, Bitte, Bitte, Bitte, Bitte, Bitte... »Nein, sie war bereits vorgestern hier.« Verdammt. Meister Fu fuhr fort: »Sie hat mir dieses erstaunliche Buch gebracht. Das dürfte dir bekannt vorkommen, nicht wahr?« Er deutete auf einen antik aussehenden Wälzer, der geöffnet auf einer Kommode lag. »Das ist doch... Das ist doch mein Buch! Also, nicht meins, es gehört meinem Vater, aber ich hatte es mit in der Schule. Wieso hatte Ladybug es?« »Eins nach dem anderen. Du sagst, es gehört deinem Vater? Wie interessant... Das ergibt Sinn.« Gedankenverloren sah Meister Fu aus dem Fenster, dann fuhr er fort. »Soweit mir Tikki, Ladybugs Kwami erzählt hat, hat eine deiner Schulkameradinnen das Buch an sich genommen und anschließend entsorgt. Tikki und Ladybug haben es gerettet und zu mir gebracht. Wie viel weißt du über dieses Buch?« Ich zuckte mit den Schultern. »Eigentlich gar nichts. Etwas davon ist Chinesisch, ein kleines Bisschen ist auf Französisch, aber das Meiste kann ich nicht lesen. Ich habe versucht, es zu übersetzen, aber das ist keine Sprache, die in irgendeinem Lexikon zu finden ist.« »Sehr richtig. Und das ist auch gut so! Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass dieses Buch sich in der Obhut eures Gegners befand.« »Hawk Moth?!« »Ja. Euer Glück, dass er diese Sprache nicht zu lesen vermag, andernfalls hätte er längst einen Weg gefunden, euch zu besiegen.« Ich betrachtete die Aufgeschlagene Seite. Eine farbige Zeichnung von Hawk Moth prangte in der Mitte, umgeben von seinen Akumas. »Warum steht er auch in diesem Buch? Es ist doch ein Buch über Helden, oder?« Er nickte. »Weißt du, auch Hawk Moth sollte eigentlich ein Held sein. Sein Kwami, Nooroo, hat die Fähigkeit, Menschen für kurze Zeit mit besonderen Kräften auszustatten, damit sie als Champions für Hawk Moth kämpfen. Aber diesmal hat ihn jemand in seine Gewalt gebracht, der andere Pläne mit dieser Gabe hat. Hawk Moth benutzt sie, um Menschen für seine Zwecke kämpfen zu lassen. Deswegen habe ich dir und Ladybug eure Miraculous geschenkt.« Ich nickte langsam. »Verstehe... Aber wenn Sie das alles wissen, warum haben Sie dann noch nicht versucht, Hawk Moth aufzuhalten? Sie sind doch auch ein Superheld, oder?« Meister Fu kratzte sich verlegen am Kopf. »Ja, ja, das bin ich wohl. Es ist nur so... Auch wenn man es mir natürlich nicht ansieht, ich bin schon etwas älter...« »Einhundertsechsundachtzig Jahre alt, um genau zu sein, Meister.«, ergänzte Wayzz, der soeben wieder ins Zimmer schwebte. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Sie sind schon über Hundert Jahre alt?!« Missbilligend sah Meister Fu mich an und ich biss mir gedanklich auf die Zunge. »Ich meine... Das sieht man Ihnen gar nicht an.« Schon wieder viel besser gelaunt erhob sich Meister Fu. »Nun, jedenfalls darfst du das Buch später wieder mitnehmen, ich habe bereits das Meiste übersetzt. Im Gegensatz zu euch Jungspunden spreche ich diese Sprache nämlich.« Jetzt klang er etwas selbstgefällig. »Und? Was steht drin?« Irgendetwas Großes, Dramatisches? »Plump gesagt, eine Art Lehrplan für meinen Unterricht.«
Unterricht???
Echt jetzt?!
»Wofür denn Unterricht?« »Für euch. Du und Ladybug werdet theoretischen und praktischen Unterricht von mir erhalten, in dem ihr mehr über euch selbst und eure Kräfte erfahren könnt, aber auch über die Helden der Vergangenheit und die außerhalb von Frankreich.« Na ja, das klang irgendwie spannend. »Meister, die Zeit drängt.«, meldete sich Wayzz zu Wort. »Ah, ja! Hier.« Er reichte mir das Buch. »Ich werde dir durch Plagg Bescheid geben, wann die erste Unterrichtseinheit ansteht.« »Ist das denn wirklich nötig? Mein Terminkalender ist auch ohne Superhelden-Training schon voll genug.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Ladybug kommt auch.« Oh! »Wann soll ich da sein???« »Das wird Plagg dir sagen. Oh, und komm als Cat Noir. Wir wollen doch, dass eure Identitäten geheim bleiben, nicht wahr?« Äh... »Heißt das, Sie wissen wer hinter ihrer Maske steckt? Wer ist es? Ist es jemand, den ich kenne?« Meister Fu lächelte geheimnisvoll. »Ich werde es dir nicht verraten. Auch, wenn ich nur zu gerne sehen würde, wie ihr es herausfindet, glaube mir.« »Also kenne ich sie?« »Meister, gleich kommt ihr nächster Patient!« »Ja, ja, Wayzz. Also, Monsieur Agreste. Es war mir eine Freude, aber nun mach dich auf den Heimweg.« Ich nickte und ließ Plagg vorweg sausen. »Bis zum nächsten Mal, Meister Fu.« Draußen ließ sich Plagg auf meine Schulter fallen und seufzte. »Wusstest du, dass vor dir noch niemand sonst Unterricht von einem Hüter bekommen hat?« »Tja, scheint so, als würde endlich jemand mein Talent zu würdigen wissen.« Der Kleine lachte schnaubend. »Oder du bist so miserabel, dass er Mitleid mit dir hatte.« »Pff... Ich bleibe lieber bei meiner Theorie. Warum nennst du mich eigentlich nicht Meister, so wie Wayzz Monsieur Fu?« »Nicht in diesem Leben, Kleiner.«
Kapitel 3
Zwei Tage später
Marinette
»Tikki, ich bin schon wieder zu spät!« Jetzt kam es mir zu gute, dass ich in letzter Zeit genauso schnell war wie als Ladybug. Mit einem Affenzahn sauste ich zur Schule. Schließlich war ich sogar überpünktlich, sodass ich mich noch mit Lila im Musikraum treffen konnte.
Alya und Nino hatte ich überzeugen können, Lila gegenüber freundlich zu sein, und Adrien war sowieso zu niemandem gemein, aber die anderen... Immerhin hatte Lila ja uns.
»Marinette! Da bist du ja.« Schwungvoll umarmte sie mich. »Hey, Lila.«, begrüßte ich sie. »Tut mir leid, ich bin spät. Alya wollte noch ein paar Fotos von Ladybug für ihren Blog, und ich hatte ein paar ziemlich gute.« Nicht gelogen. Zumindest nicht direkt. Zwar hatte ich mich in Ladybug verwandelt und die Fotos eigens für Alya gemacht, aber das sollte ich wohl besser nicht erwähnen. Lila verdrehte seufzend die Augen.
»Sie ist ganz schön besessen von ihr, was?«
»Ein bisschen, ja.«
»Ich mag sie, aber das verstehe ich einfach nicht. Ich meine... Ladybug. Sie weiß ja nicht mal, wer hinter dieser albernen Maske steckt.«
Eins hatte sich nach wie vor nicht geändert: Lila verabscheute Ladybug. Der Gong ersparte mir eine Antwort und wir liefen nach oben, zum Klassenraum. Lila lief nach hinten zu ihrem Sitzplatz, ich nahm hinter Adrien Platz.
»Hi, Marinette!«, grüßte er mit seinem wunderschönen, freundlichen, liebenswerten, funkelnden, traumhaftem [...] Lächeln. Allein dafür lohnte es sich, zur Schule zu kommen.
»H-Hi Adrien.«, stotterte ich zurück. Na toll. Letztens hatte ich mich noch so flüssig mit ihm unterhalten, und jetzt schaffte ich nicht mal mehr ein Hallo.
Nach Schulschluss standen Alya, Lila und ich vor dem Eingang und unterhielten uns über das Vorsingen heute Nachmittag.
»Wollen wir nicht auch hingehen? Nina singt auch, und sie kann etwas Unterstützung gut gebrauchen.« Alya schüttelte bedauernd den Kopf.
»Ich kann leider nicht. Ich will heute Kameras in der Stadt verteilen, die bei Akuma-Attacken Ladybug und Cat Noir Filmen sollen. Vielleicht krieg ich dadurch ja sogar heraus, wer Ladybug wirklich ist! Das Aufstellen wird aber wahrscheinlich länger dauern.« Lila schnaubte abfällig und ich fragte schnell weiter, bevor sie einen Kommentar abgeben konnte.
»Aber dass müssen ja hunderte sein, allein um dieses Viertel abzudecken.«
»Ich weiß! Aber das ist kein Problem mehr für mich. Ich habe jetzt nämlich einen Sponsor!« Jetzt wirkte sogar Lila überrascht.
»Echt? Wer gibt denn Geld dafür aus?«
»Gabriel Agreste zum Beispiel. Er hat die Kameras finanziert und den Papierkram erledigt. Und die Nachrichtensender haben ein kleines Team geschickt, die beim verteilen der Kameras helfen und mich interviewen. Ist das genial oder nicht?«
»Ich muss sagen, dass ist schon cool!«, gab Lila zu. »Wer hätte gedacht, dass ein Blog über Ladybug so erfolgreich werden könnte?« Autsch. »Alya hat sich aber auch wirklich reingehängt. Deine Aufnahmen sind erstklassig!«, meldete ich mich zu Wort. »Und wie du die ganzen Hintergründe recherchierst ist auch genial.« Auch wenn sie manchmal unauffällig Tipps von mir bekam.
»Danke, Marinette. Ich muss dann auch langsam los, man sieht sich!« Winkend lief sie davon und ich wandte mich wieder Lila zu.
»Gehen wir dann zum Vorsingen?«
»Warum nicht? Ich hab noch nichts vor.«
»Kann ich auch mitkommen?«, fragte auf einmal Adrien, der gerade aus dem Schulgebäude gekommen war.
»Ich hab heute keine Termine, und Nino hilft Alya beim Kamera aufstellen.« Sofort begann mein Herz, einen wilden Stepptanz aufzuführen.
»Klar! Du bist to- ICH MEINE, DAS! -das wäre toll.« Er lächelte wieder dieses wunderschöne, freundliche [wir wissen wie's weitergeht...] Lächeln und ich schmolz dahin. Lila verzog missbilligend das Gesicht und beäugte Adrien abfällig. War sie vor ein paar Tagen nicht noch hellauf begeistert von ihm gewesen? Vielleicht täuschte ich mich ja auch.
»Dann bis später!«, rief Adrien mir zu und stieg in das Auto, dass ihn jeden Tag von der Schule abholte. Ich seufzte verträumt. Könnte es noch besser sein? Nun ja, ich musste jetzt zwar tierisch aufpassen, wo ich mich verwandelte, aber da ich wusste, dass Alya Kameras aufstellte, war ich wenigstens vorgewarnt. Und Adrien verbrachte Zeit mit mir... Hach! Sofort hatte ich wieder seine funkelnden grünen Augen in meinen Gedanken, und wie perfekt er einfach war...
»Marinette? Ma-ri-nette!«, rief Lila jede Silbe betonend und schnipste vor meinen Augen herum. »Hast du mir zugehört?«
»Was? Äh... Tut mir leid! Ich war gerade so in Gedanken.«
»Etwa von Prinz Charming hier?« Ich kratzte mich am Kopf. »Eventuell...?« Sie seufzte laut.
»Ich habe gerade gesagt, dass Nina für eine einfachere Version der Odysee vorsingt. Sie wird sogar in der Pariser Oper aufgeführt. Wenn Nina das Casting gewinnt, bekommt sie die Rolle der Sirene.« Oh. »Woher weißt du das alles?«
»Ich habe mich eben schlau gemacht. Während du Monsieur Goldlöckchen nachgesabbert hast habe ich im Internet nachgeforscht.« Sie hielt ihr Handy hoch. Wie lange genau hatte ich Adrien eigentlich hinterher gestarrt? In diesem Moment klingelte Lilas Handy und ihr vorwurfsvoller Blick wich einem Überraschtem.
»Oh, das ist meine Mutter. Sie lässt mich von der Schule abholen und fragt sich, wo ich bleibe. Ich muss los. Willst du vor dem Casting vielleicht noch zu mir kommen?« Ich nickte begeistert.
»Klar!«
»Super. Dann bis später!« Sie lief leichtfüßig los, Richtung der Parkplätze. Ich ging in die andere Richtung und Tikki schwirrte aus ihrem Versteck.
»Lila hat sich aber ganz schön verändert, nicht wahr?«
»Du meinst, wegen Adrien?«
»Ja, das auch. Aber auch in anderen Bereichen. Sie lügt nicht mehr, sie scheint ihre Schwäche für Adrien verloren zu haben, sie, äh... ist nicht besonders begeistert von Ladybug... Alles in allem scheinst du ihr gutzutun.«
»Bis auf diese Ladybug-Sache meinst du?«
»Nun... ja. Aber das legt sich schon wieder.«
»Ich bewundere dich für deinen Optimismus, aber ich glaube, das ist nicht nur eine Phase. Sie hasst mich.«, jammerte ich.
»Ach, Marinette! Sie ist nur sauer, weil du etwas harsch zu ihr warst. Und ohne deine Maske mag sie dich ja, also...«
»Tikki, warte!« Abrupt hielt sie inne. Ich deutete auf einen kleinen schwarzen Fleck auf einem Hausdach.
»Da steht eine von Alya's Kameras.«
»Oh Nein! Glaubst du, sie hat uns auf Video?« Ich sah genauer hin.
»Nein. Sie ist auf die Dächer gerichtet. Gott sei dank... Aber jetzt wissen wir wenigstens, wo wir besonders Aufpassen müssen.«
»Aber warum ist sie denn auf die Dächer gerichtet?«
»Hm... Ich denke, viele würden sich beschweren, wenn sie auf offener Straße gefilmt würden. Und ich und Cat bewegen uns ja hauptsächlich über die Dächer, also bekommt Alya trotzdem genug Filmmaterial. Zum Glück wissen wir jetzt ja, wo wir aufpassen müssen.«
»Na ja... Auf der Liste in ihrer Tasche standen noch Einhundertundvierundzwanzig andere Kameras...«
»Einhundertundvierundzwanzig?! Warte, du hast in Alya's Tasche rumgeschnüffelt?« Sie sah mich mit unschuldigen blauen Augen an.
»Nein! Ich habe nur kurz reingeguckt, nur ganz, ganz kurz. Und da war diese Bestellungsliste... Die hab ich mir angesehen und eingeprägt.« Ich seufzte schwer.
»Dieses eine mal könnte nützlich gewesen sein. Aber mach das nicht noch einmal!« Sie sauste unter meine Jacke.
»Ich sollte zur Sicherheit lieber versteckt bleiben. Vor Alya könntest du dich noch herausreden, aber wenn Cat Noir dich mit mir sieht, wird er wissen, dass ich ein Kwami bin.«
»Du hast Recht. Komm, wir beeilen uns besser, nach Hause zu kommen.«
Staunend stand ich vor der riesigen Villa. Sie war mindestens so groß wie Adriens, allerdings eher im klassischen Stil gehalten, ohne die ganze Technik. Hier wohnte Lila?
Ich atmete tief durch und drückte die Klingel. Ein melodisches Klingeln ertönte, dann öffnete sich das riesige schmiedeeiserne Tor. Also doch mehr Technik, als ich dachte.
Vor mir erstreckte sich ein breiter Kiesweg, gesäumt von in kunstvolle Formen geschnittenen Zypressen. Vor dem Haus teilte sich der Weg und führte rund um einen fröhlich dahinplätschernden Springbrunnen, bevor die beiden Seiten sich wieder zu einem Weg zusammenschlossen und an einer großen Treppe endeten.
Zögernd lief ich los. Ich fühlte mich wie eine Maus, die durch den Garten eines Riesen spazierte. Eines Riesen mit Katze. Einer riesigen Katze, die hungrig umherstrich und auf eine dumme kleine Maus wartete, die es wagte, ihr Reich zu betreten... Okay, Marinette, jetzt klingst du paranoid.
Ganz ruhig. Das war erst die Auffahrt. Unschlüssig stand ich schließlich vor der Haustür. Hier gab es keine Klingel, nur einen altmodischen, hübsch verzierten Türklopfer. Bevor ich ihn greifen konnte, wurde die Tür plötzlich aufgerissen und Lila fiel mir um den Hals. »Marinette! Da bist du ja!«, rief sie und strahlte mich an. »Komm rein, komm rein. Ich zeig dir gleich alles.«
»Äh...«, stotterte ich, »Bei diesem Haus könnte das allerdings eine Weile dauern.« Sie lachte und ich folgte ihr ins Haus. Es war viel heller hier drinnen als in Adriens Haus: große, viktorianische Fenster ließen das Sonnenlicht herein und die mit Glassteinen besetzten Kronleuchter warfen kleine Regenbögen auf die Wände. »Wow!«, entfuhr es mir. Lila grinste stolz. »Schön, was? Ich hab mich selbst noch nicht ganz daran gewöhnt.«
»Weißt du, ich wäre kein bisschen überrascht, wenn Ludwig der Vierzehnte plötzlich hier stehen würde, weil er dieses Haus mit seinem Schloss in Versailles verwechselt hat.«
»Wow, Marinette! Ich dachte, du hättest in Geschichte durchgeschlafen.«
»Ach komm schon! Ich schlafe nachts halt schlecht.« Sie verdrehte die Augen. »Natürlich. Dein Tisch ist da selbstverständlich viel gemütlicher.« Ich lachte und folgte Lila eine kunstvoll geschwungene Treppe hinauf. Und noch eine. Und noch eine. »Sag mal, wie viele Treppen hat dieses Haus eigentlich?!«, schnaufte ich völlig verausgabt. Lila dagegen hüpfte leichtfüßig die Stufen hinauf. »Auf, auf! Wir sind fast da.« Endlich oben! Außer Atem ließ ich mich auf den Boden sinken. »Ich... hasse Treppen...« »Oh.«, sagte Lila überrascht. »Na dann, keine Sorge. Runter können wir den Aufzug nehmen.« Was?! Stöhnend stand ich auf und schleppte mich Lila hinterher den Flur entlang, bis zu einer hellen Holztür. Sofort war meine Müdigkeit verflogen. Die Wände waren in einem weichen Orange gestrichen, ein gewaltiges weißes Himmelbett betonte die helle, freundliche Atmosphäre. Auch die anderen Möbel waren weiß, aber das beeindruckendste war direkt gegenüber von mir. Eine Glastür führte zu einer riesigen Dachterasse, deren Boden mit Gras und anderen Pflanzen bedeckt war. Es war, als hätte hier oben jemand einen Wald gepflanzt. »Wow... Das ist ja unglaublich, Lila! Als hättest du hier oben einen eigenen Garten.« Sie lächelte geschmeichelt. »Als wir hier eingezogen sind, war ich auch total baff. Und diese Terasse ist die ganzen Stufen doch wert, oder?« »Definitiv.« Ich sah mich noch einmal in dem - verglichen mit dem Rest des Hauses - relativ bescheidenen Zimmer um. Auf der Kommode stand ein verschnörkelter Schmuckhalter, an dem eine vertraute Kette baumelte. Ich ging darauf zu und nahm sie ab. Der Fuchs-Anhänger baumelte fröhlich hin und her, als wüsste er nicht, was er angerichtet hatte. »Du hast die hier noch?«, fragte ich Lila und hielt die Kette hoch. Sie sah zu Boden. »Ich hätte sie ja wohl kaum wegschmeißen können, oder?« Fragend legte ich den Kopf schief. »Warum trägst du sie dann nie?« »Weil... Ach, weiß auch nicht.« Sie ließ sich auf das Sofa fallen und ich setzte mich im Schneidersitz neben sie. »Weißt du, an meinem ersten Tag hier habe ich mich mit den anderen aus der Klasse über ihre Akumatisierungen unterhalten. Außer Nataniël erinnern sich die meisten nur an den groben Ablauf, alles andere ist wie ausgelöscht. Aber... Aber ich erinnere mich an jedes kleinste Detail. An jede Sekunde, in der ich Volpina war. Und... Ich vermisse es. Ich weiß, das war nicht echt, nur ein Trick von Hawk Moth, aber trotzdem. Und ich kann diese Kette nicht wegwerfen, weil ich Angst habe, dadurch jede Verbindung zu Volpina zu verlieren. Aber wenn ich sie tragen würde, würde es immer daran erinnern, dass ich mich von Hawk Moth habe benutzen lassen.« Ich betrachtete den Anhänger. »Verstehe... Aber ich denke, du solltest die Kette trotzdem tragen.« Überrascht sah Lila auf. »Wieso das denn?«
»Du sagtest doch, du vermisst es, Volpina zu sein, nicht wahr?« Sie nickte. »Was genau fehlt dir denn daran?«
»So vieles. Meine Superkräfte natürlich, auch, wenn sie nicht echt waren. Weißt du, wenn ich eine Illusion von mir selbst habe fliegen lassen, dann konnte ich selbst den Wind in meinem Gesicht fühlen, konnte Paris unter mir sehen... Es war, als würde ich wirklich fliegen, und nicht nur mein Abbild. Aber das beste war... dieses Gefühl der Stärke. Das Gefühl, keine Grenzen zu haben.« Ich nickte verständnisvoll. Das kannte ich nur zu gut. »Und deswegen solltest du die Kette tragen. Damit sie dich daran erinnert, dass du immer stark und frei sein kannst, nicht nur als Volpina. Denn weißt du, ich mag Lila viel mehr als sie.« Sie sah mich gerührt an.
»Marinette...Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Über dich sollte man einen Blog schreiben, nicht über Ladybug.« Äh, hehehe... Das war ja irgendwie dasselbe. Mein Blick fiel auf die Wanduhr gegenüber und ich zuckte zusammen. »Arg, Lila! Wir müssen los!« Das Casting fing in Zehn Minuten an! In Windeseile schossen wir die Treppen hinunter, ohne den Aufzug zu beachten. Lila bog unten angekommen jedoch scharf rechts ab und führte mich durch eine Seitentür in eine Garage. Darin stand eine mattschwarz lackierte Limousine, deren Tür von einem schmalen Mann mit Schnurrbart aufgehalten wurde. Ohne lange zu staunen sprang ich hinter Lila hinein und ließ mich auf die weißen Ledersitze fallen. Außer Atem sah ich Lila an. »Ihr... habt eine... Limousine?« Sie nickte, nicht weniger erschöpft. »Wir haben... Sogar... zwei...« »Warum frage... Ich überhaupt?«
An der Schule angekommen stiegen Lila und ich entspannt aus. Obwohl Lilas Haus am anderen Ende des Viertels war, hatten wir kaum länger als fünf Minuten gebraucht, um hierher zu kommen und waren sogar noch zu früh. Trotzdem hatte bereits eine ganze Menge Zuschauer Platz genommen. »Oh, Marinette, da vorne ist Madame Bustier! Hast du was dagegen, wenn ich kurz hinlaufe und sie nach meinem Schülerausweis frage? Den wollte sie mir heute geben, aber anscheinend hat sie es vergessen.« Ich schüttelte den Kopf. »Kein Problem, geh nur!« Lila lächelte dankbar und zischte davon, während ich mich etwas umsah. Staunend, wie schnell all das aufgebaut worden war, bemerkte ich nicht wo ich hinlief, bis ich gegen jemanden prallte und zu Boden fiel. »M-Marinette?!«, rief dieser jemand entsetzt und ich sah auf. Es war Nataniël! »Oh, Entschuldigung!«, rief ich schnell. »Tut mir leid, ich habe nicht nach vorne gesehen! Ist alles in Ordnung?« Er lief knallrot an. »Ja, natürlich, alles bestens, ja!«, betonte er hastig. Sein Blick richtete sich zu Boden, bei meinem Sturz hatte ich seinen Block mitgerissen. Aufgeschlagen lag er da, ein paar Seiten hätten sich gelöst und vor meinen Füßen verteilt. Auf fast jedem Blatt waren kleine Bildergeschichten zu sehen, ich erkannte den Evillustrator, Volpina, Dark Cupid... und Ladybug, die sie allesamt das Fürchten lehrte. Aber auf einem einzigen Blatt... war ich. Mein Gesicht, wie ich begeistert aus dem Bild strahlte. Hektisch sammelte Nataniël die Zeichnungen ein, sein Gesicht hatte mittlerweile den gleichen Farbton wie seine Haare. Verlegen reichte ich ihm die Zeichnung von mir und er sah mich überrascht an. »Äh... Danke.«
»Keine Ursache!«, sagte ich und wollte mich davonmachen, bevor die Situation noch peinlicher wurde, doch plötzlich hielt er mich zurück. Er schien von sich selbst überrascht zu sein, denn er ließ mich los, als hätte er sich verbrannt. »Tut mir leid, ich... Ich wollte nicht...«, stammelte er und holte tief Luft. »Was ich sagen wollte, ist... Es tut mir leid, Marinette. Alles. Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst, aber ich musste es zumindest versuchen! Ich habe dir Angst gemacht, dich eingesperrt...«
»Das warst doch nicht du!«, widersprach ich ihm. »Nataniël, das ist ganz sicher nicht deine Schuld! Der einzige, der dafür die Schuld trägt ist Hawk Moth. Quäl dich bitte nicht mit Dingen, die du nicht getan hast.«
»Aber das habe ich! Hätte ich dich nicht ohne deine Erlaubnis gezeichnet - noch etwas, wofür ich mich entschuldigen muss - hätte Chloé mich nie damit aufgezogen und Hawk Moth mich nicht akumatisieren können.« Ich legte ihm bestimmt eine Hand auf die Schulter und lächelte ihn an.
»Nataniël. Es gibt absolut nichts, wofür ich dir Böse sein könnte.« Er hob schüchtern den Blick. Irgendwie süß... »W-Wirklich? Na... dann?«
»Hey, Marinette, da bin ich wieder!«, rief Lila und kam auf uns zu. »Oh, du hast Gesellschaft. Nataniël, richtig? Was machst du denn hier?« »Ich bin wegen meiner Schwester hier, Nina. Sie singt heute vor und ich möchte unbedingt dabei sein.«
»Ah, wir auch! Wir haben ihr vorgestern beim Üben zugehört, sie singt fantastisch.« Ich lächelte Nataniël an. »Scheint so, als läge euch die Kunst im Blut.« Er lächelte zögernd zurück. »Ich... muss dann auch los.«, sagte er. »Bis... Bis Morgen, Marinette!« Der letzte Teil klang erleichtert, als hätte man ihm eine riesige Last von den Schultern genommen. Offenbar hatte ihm diese ganze Akuma-Sache schwerer im Magen gelegen, als ich gedacht hatte. Er strahlte mich noch einmal an, dann wandte er sich um und ging mit federnden Schritten zu seinem Platz auf den Zuschauerrängen. Ich sah ihm lächelnd hinterher, bis Lila mich neckend anstubste. »Uuuuh, Marinette. Feuerköpchen hier scheint aber seeeehr interessiert an einer Muse zu sein, was?« Ich zog schnaubend eine Augenbraue hoch. »Ach, übertreib nicht, Lila. Er ist... Nun ja...« »Süß? Attraktiv? Begabt?« »Lila!« Sie lachte. »Wollen wir Nina noch Hallo sagen, bevor es losgeht?«, fragte sie und ich nickte. Ohne zu zögern marschierte sie auf die Bühne zu, die im Hof aufgebaut worden war. Dahinter konnten sich die Teilnehmer noch etwas vorbereiten. Etwa zehn Kandidatinnen liefen hektisch hin und her, machten kleine Stimmübungen oder unterhielten sich. »Siehst du sie?«, fragte ich Lila und reckte den Kopf, nach Ninas rotem Schopf suchend. Bei den anderen war sie nicht zu sehen. »Dort!«, sagte Lila und deutete in die Ecke. Ich folgte ihr und sah Nina wie ein Häufchen Elend ganz alleine auf einer Bank sitzen. Sie hatte die Knie angezogen und die Arme um ihre Beine geschlungen. »Hi, Nina!«, rief ich ihr zu, aber sie schien mich nicht zu hören. Überrascht sah sie auf, als wir vor ihr stehen blieben. »Oh, H-Hallo. Ihr seid auch gekommen...« Lila und ich wechselten einen besorgten Blick. »Was ist denn los? Ist alles in Ordnung?« Sie schüttelte den Kopf und schielte ängstlich am Vorhang vorbei auf die noch nicht mal halbgefüllten Zuschauerränge. »Das sind so viele...«, flüsterte sie. »Ich kann unmöglich singen, wenn so viele Menschen zuhören.« Lila legte den Kopf schief. »Aber... willst du nicht die Rolle in der Oper bekommen? Da musst du doch auch vor Publikum singen.« »Ich weiß. Und ich übe seit ich fünf bin, um in der Oper zu singen. Aber... Aber immer wenn mich so viele Menschen anstarren bekomme ich einen Kloß im Hals und... Ich wollte immer, dass die Leute meine Stimme hören und staunen, aber dass mich die Menschen dabei ansehen... Wenn ich einen Fehler mache...« Sie brach ab und schluckte. In diesem Moment sah ich Adrien zur Tür reinkommen. Er sah mal wieder einfach perfekt aus, wie ein wahr gewordener Traum... »Nina, du schaffst das schon. Stell dir die Zuschauer einfach mit Rüsseln oder so vor...«, hörte ich mich reden. »Wir müssen dann auch auf unsere Plätze, viel Glück!« Hastig zog ich Lila hinter mir her. Adrien saß in der ersten Reihe, zwei Plätze hielt er frei. Für uns! Noch bevor wir ihn erreicht hatten, wurde bereits das Licht gedämmt und ein Scheinwerfer auf die Bühne gerichtet. »Oh, es geht los!«, zischte Lila mir zu. Zögernd ging ich auf den Sitz neben Adrien zu. »A-Adrien, Hallo!«, begrüßte ich ihn nervös lächelnd und setzte mich. Lila dagegen blieb überraschend still, sie sah ihn nicht einmal an. »Hi! Ich hab mich schon gefragt, wo ihr bleibt.«, begrüßte Adrien uns. Madame Bustier trat auf die Bühne und schaltete ein Mikrofon an. »Herzlich Willkommen! Heute wollen wir den talentiertesten Sängerinnen unserer Schule die Chance geben, Paris mit ihren Stimmen zu erfreuen. Diejenige, die von unserem Juroren als gut genug empfunden wird, darf nächstes Jahr in der Oper ›Odyssee‹ die Rolle der Sirene singen. Ich wünsche allen Zuschauern viel Spaß und den Kandidatinnen dazu noch viel Glück!« Beifall vom Publikum. »Unsere erste Stimme gehört Nina, toi toi toi!« Madame Bustier verließ die Bühne wieder und der Vorhang öffnete sich. Auf der riesigen Bühne wirkte Nina so klein und verloren, in ihrem über die Menge huschenden Blick stand blanke Panik. Sie schluckte schwer und öffnete den Mund. Dann schloss sie ihn wieder. »Oh Nein...«, murmelte ich. »Komm schon, sing, Nina!« Als hätte sie mich gehört, öffnete sie den Mund noch einmal, holte tief Luft... und klappte ihn wieder zu. Kein Ton verließ ihre Lippen.
Nina
Im Publikum wurde Getuschel laut. Alle starrten mich erwartungsvoll an, die ersten begannen bereits, entnervt die Augen zu verdrehen oder mitleidig zu seufzen. Ich spürte, wie ich knallrot anlief. Meine Knie wurden weich und meine Hände schlossen und öffneten sich zuckend. Ich musste hier weg! Tränen schossen in meine Augen als ich mich umdrehte und von der Bühne rannte. Ein paar andere Kandidatinnen kamen besorgt auf mich zu, doch ich rannte schluchzend an ihnen vorbei in ein leerstehendes Klassenzimmer. Durch den Notausgang flüchtete ich ins Treppenhaus, das aufs Dach führte. Im Abtauchen war ich schon immer gut gewesen, ich konnte jeden Schlupfwinkel und jedes Versteck innerhalb von Sekunden finden. Schluchzend kauerte ich mich auf die Stufen und schlang die Arme um die Beine. Ich war so armselig! Wieso hatte ich mich auch für diese dämliche Show beworben? Ich hatte doch gewusst, dass ich es nicht schaffen würde! Dass ich nicht einen Ton über die Lippen bringen würde, dass ich mich vor allen blamieren würde! Aber ein kleiner Teil von mir hatte immer noch gehofft... dass ich mich überwinden könnte. Wenn ich sang fühlte ich mich so losgelöst, so frei. Es gab nur meine Stimme, keine Sorgen, keine Ängste. Und ich hatte dieses Gefühl teilen wollen. Ich hatte mir gewünscht, anderen Menschen diese gestaltlose Sphäre zu zeigen, diesen mystischen Ort den man nur hören, nur fühlen konnte. Wie dumm ich doch war... Alles, was ich ihnen gezeigt hatte, war meine eigene Unfähigkeit.
Zur selben Zeit:
Langsam öffnete sich das Fenster und ließ das Licht auf seine Schmetterlinge fallen, die leichtfüßig um ihn herum aufstiegen, weiß, wie leere Blätter, die darauf warteten, beschrieben zu werden. »Hm... Ein junges Talent hat Angst, sich der Welt zu zeigen. Zeit, einen neuen Takt vorzugeben! Komm her, mein tückischer kleiner Akuma.« Einer der kleinen Schmetterlinge löste sich aus dem Schwarm und landete auf seiner Hand. Er legte die andere darüber und ließ die Kraft seines Kwamis hindurchfließen, bis die Angst dieses Mädchens die Flügel seines Akumas schwarz und violett malte. »Flieg, mein Akuma, und flüstere diesem armen Mädchen eine neue Melodie ein!«
Ein kleines Insekt schwebte durch ein angelehntes Fenster und flatterte auf meine Kette zu, während ich versuchte, die Tränen versiegen zu lassen. Ein seltsames Geräusch ließ mich aufsehen, und plötzlich fühlte es sich so an, als würde man mich aus mir herausreißen und in einen Strudel aus Zweifel und Enttäuschung werfen. Ich trieb hilflos in den wogenden Fluten, und drohte, darin zu ertrinken, als ich auf einmal eine Stimme hörte. »Hallo, Siren. Armes Kind, du willst doch nur den Zauber deiner Stimme mit der Welt teilen...« Ein Teil von mir wusste genau, dass ich immer noch sicher auf den Stufen zum Dach saß, und dass diese Stimme nichts Gutes im Schilde führte, aber dieser Teil war zu klein, um bemerkt zu werden. Der Rest von mir klammerte sich an diese Stimme, wie an einen Rettungsring. »Ich bin Hawk Moth, Siren. Und ich will dir dabei helfen, jedem einzelnen Bürger von Paris deine Stimme zu zeigen. Aber dafür verlange ich natürlich eine kleine Gegenleistung...« Ich würde alles tun, um diesem Strudel zu entkommen! »Das klingt wie Musik in meinen Ohren.«, antwortete ich und lächelte. Meine Gedanken, mein Wille, alles, was mich ausmachte verschwand im Strudel, dessen angsterfüllte, wütende Fluten mein neues Ich formten: Siren, die Stimme von Paris. Dunkler Nebel hüllte mich ein und ließ den letzten Rest von mir verschwinden. Meine feuerroten Haare drehten sich zu zwei Zöpfen zusammen, und mein förmliches blaues Kleidchen wurde von einem Tiefschwarzen Kleid mit Reifrock abgelöst. Ein Kleid, das unverwechselbar das einer Diva*** war! Die Perlen an meiner Kette hatten sich dunkelrot verfärbt, dieselbe Farbe hatten auch meine seidenen Handschuhe. Ich stand auf und knickste. »Vorhang auf, Paris! Bereitet euch auf ein unvergessliches Konzert vor!«
Kapitel 5
Marinette
»Nina? Bist du hier?« Keine Antwort. »Vielleicht ist sie nach Hause gegangen?«, schlug Adrien vor. Lila schnaubte und verdrehte die Augen. »Wohl kaum. Die anderen Mädchen meinten, sie wäre in dieses Klassenzimmer gerannt, aber da sie nicht wieder herausgekommen und offensichtlich auch nicht mehr hier ist, kann sie nur durch den Notausgang gegangen sein. Und dessen Türen nach draußen sind alle verschlossen.« »Dann ist aufs Dach gegangen.«, schlussfolgerte ich. In diesem Moment gab es einen lauten, schrillen Ton, als wäre ein Mikrofon kaputt. Wir sahen zur Tür hinaus, das ganze Publikum war aufgestanden und deutete aufs Dach. Dort stand ein Mädchen in einem weit ausladenden Kleid und lächelte würdevoll winkend auf die Menschen hinab. »Liebes Publikum, lasst euch noch ein weiteres Talent ansagen: Siren! Genießt die Show.« »Oh-Oh«, sagten Adrien und ich gleichzeitig. Da war Nina also. Plötzlich war die Luft erfüllt von einem wunderschönen, überirdischen Klang. Einen so süßen und reinen Ton hatte ich noch nie gehört... So schön... Ein Knall ließ die Musik abrupt abreißen. Lila hatte die Tür des Klassenzimmers zugeworfen und den Gesang ausgesperrt. »Hey!«, sagte Adrien verwirrt und ich sah Lila böse an. »Was soll das denn?« Sie schlug sich die Hand vor die Stirn. »Ach, kommt schon! Diese Siren ist doch ganz offensichtlich eine Nina à la Akuma! Und ihr glaubt nicht wirklich, dass sie nur so zum Spaß singt, oder?« Vorsichtig öffnete sie die Tür. Siren hatte aufgehört zu singen, aber die Zuhörer standen noch immer mit verträumten Gesichtern da und rührten sich nicht. »Hach, was für ein wunderbares Lied, nicht wahr?«, säuselte Siren. »Warum höre ich keinen Applaus?« Wie in Trance begannen die Menschen, begeistert in die Hände zu klatschen. Entzückt lauschte sie dem Applaus, dann machte sie eine schneidende Geste und die Menge verstummte. »Nun, mein Publikum, schwärmt aus und sucht nach Ladybug und Cat Noir! Ich habe ein ganz besonderes Lied für die beiden in Petto!« Ich sah in Lilas selbstgefälliges Gesicht. »Habe ich es euch nicht gesagt?« »Woher wusstest du das?«, fragte Adrien verblüfft und sie verdrehte die Augen. »Die Sirenen aus der Odyssee, Blondie.« Ich verschluckte mich und begann zu husten. Hatte sie Adrien gerade Blondie genannt?! Er sah sie verwirrt an, dann beschloss er anscheinend, das letzte zu überhören. »Was meinst du damit?«, fragte er. Sie seufzte. »Hat sich denn keiner von euch informiert? Die Götter haben Wetten abgeschlossen, ob Odysseus nach dem Trojanischen Krieg nach Hause finden kann. Er muss über den Ozean nach Itaka segeln, aber Poseidon, der Gott des Meeres schummelt und stellt ihm einen Haufen Fallen. Eine davon ist die Insel der Sirenen. Ihr Gesang verleitet Seefahrer dazu, ihre Heimat zu vergessen und Kurs auf die Insel zu nehmen, von der es keine Rückkehr gibt. Odysseus hat seinen Männern die Ohren mit Wachs verschlossen und sich selbst am Mast festgebunden. An seinem Gesicht konnten die Männer sehen, wann er die Sirenen hörte, und erst, als sie die Insel hinter sich gelassen und sich Odysseus Züge entspannten, nahmen sie das Wachs aus den Ohren. Ende.« Adrien und ich starrten sie an und sie blinzelte verwirrt. »Was denn? Ich mag diese Geschichte!« Adrien zuckte mit den Schultern und sah vorsichtig nach draußen. »Sie ist weg. Wir sollten losgehen und die Menschen warnen. Und... wir sollten uns Ohrstöpsel besorgen.« Ich nickte und auch Lila widersprach nicht. »Teilen wir uns auf.«
Adrien
Plagg zischte hervor, kaum dass Marinette und Lila außer Sichtweite waren. »Was hatte die denn für ein Problem?«, meckerte er. »Was meinst du?« »Diese Lila natürlich! Blondie, dass ich nicht lache! Wenn ich ein paar Zentimeter größer wäre, dann...« Ich lachte. »Lass mal lieber gut sein. Jetzt haben wir wichtigeres zu tun!« »Natürlich, deine gepunktete Freundin wartet ja.« »Plagg, verwandle mich!« Grünes Licht hüllte mich ein, und als es erlosch, trug ich mein schwarzes Kostüm und Katzenohren. In Windeseile kletterte ich aufs Dach, wo Siren zuletzt gesungen hatte. »Ah, das Kätzchen inspiziert bereits den Tatort.«, begrüßte mich eine vertraute Stimme hinter mir. Ladybugs Jo-Jo surrte durch die Luft und kehrte dann in ihre Hand zurück. »M' Lady! Das ging aber schnell.« Sie lächelte und betrachtete die Stadt vor uns. »Die Welt ist ein Dorf, was? Oh, unser Gegner heißt übrigens Siren. Sie benutzt ihre Stimme, um Menschen zu kontrollieren, genau wie-« »- in der Odyssee.« Verblüfft sah sie mich an und ich genoss meinen Triumph kurz, bevor ich sie angrinste. »Ich weiß nunmal einfach alles, My Lady.« Sie verdrehte lächelnd die Augen, dann deutete sie auf einen Punkt in der Ferne. »Sie zu finden dürfte einfach werden.« Ich trat neben sie und folgte ihrem Blick. »Am Eiffelturm.« Eine Menschentraube hatte sich dort versammelt und sah zu einer schmalen Person auf. »Nichts wie hin.« Ich hielt ein paar Ohrstöpsel hoch und warf ihr ein zweites zu. »Damit wir nicht als ihr Fan-Club enden.« In Höchsttempo liefen wir über die Dächer und die bekannte Euphorie breitete sich in mir auf. Wieder einmal sauste ich an der Seite meiner großen Liebe über Paris hinweg, den Wind im Gesicht und die Gefahr vor uns. Ich liebte es, Cat Noir zu sein! Am liebsten würde ich mich nie wieder zurückverwandeln. Mit einem breiten Lächeln beschleunigten wir noch einmal und ich katapultierte mich mit meinem Stab auf den Eiffelturm, während Ladybug ihr Jo-Jo benutzte. »Ende der Vorstellung!«, unterbrach sie Siren, bevor sie anfangen konnte zu singen. Aus Prinzip rief ich: »Rück den Akuma raus und wir drücken ein Auge zu, Nina.« Aber ich wusste, dass sie sowieso nicht darauf eingehen würde. »Ich bin nicht Nina! Und ihr werdet euch noch wundern, wozu ich nun in der Lage bin! Das nächste Lied wird sein...«, überlegte sie und schloss die Augen. Ich brachte die Ohrstöpsel in Position. »Kontrolle!«, hörte ich Siren dumpf durch die Watte. Dann holte sie tief Luft und begann zu singen. Ich konnte sie zwar hören, aber die Ohrstöpsel schwächten den Klang genug ab, um mich vor der Wirkung ihrer Stimme abzuschirmen. Als sie endete zückte ich meinen Stab und Ladybug ließ das Jo-Jo kreisen. »Sehr schön, leider umsonst!«, schrie ich, da ich meine eigene Stimme selbst kaum hörte. »Was? Das... Das... Ah! Was erlaubt ihr euch nur!«, empörte sie sich. »Zeit für das nächste Lied: Angriff!« Sie holte erneut Luft und schrie uns kurze, aggressive Töne entgegen. Wie Geschosse aus Schall hielten sie auf uns zu und wir mussten ausweichen, nicht gerade sehr elegant. Dadurch, dass wir nichts hören konnten, war irgendwie auch unser Gleichgewichtssinn gestört.
Marinette
Ungeschickt landeten Cat und ich auf einem Dach, Siren drängte uns immer weiter zurück. Das mit den Ohrstöpsel war wohl doch keine so gute Idee gewesen. Wir brauchten einen besseren Plan! »Cat!«, brüllte ich, damit er mich durch die Ohrstöpsel hören konnte. »Ich greife sie von vorne an und du schleichst dich von hinten an!« Er nickte und ließ sich vom Dach fallen, sofort begann ich Siren zu attackieren. Aber sie war verdammt schnell und mit meinem miserablen Gleichgewichtssinn konnte ich nicht richtig zielen. Immer wieder ging mein Jo-Jo ins Leere, außerdem wusste ich nicht, wo sich der Akuma versteckte. Obwohl... bis auf diese Kette an ihrem Hals trug sie keinen Schmuck... und hatte sie die nicht schon vor ihrer Akumatisierung getragen? »Ich wette, deine Kette ist von einem Akuma besetzt!«, rief ich Siren zu und gab Cat damit unauffällig einen Tipp. Er tauchte hinter ihr auf und zückte seinen Stab, mit einem Satz katapultierte er sich auf Siren zu. Doch urplötzlich wich sie aus, drehte sich um und schrie Cat mit übernatürlich lauter Stimme an. Entsetzt beobachtete ich, wie er von der Schallwelle erfasst und zu Boden geschleudert wurde. Sein Kopf prallte unsanft auf das Kopfsteinpflaster und er verlor das Bewusstsein, Siren lachte nur hämisch. »Na los, mein Publikum! Holt euch sein Miraculous!« »Nein!«, schrie ich und sprang vom Dach, landete linkisch auf dem Boden und zog Cat an mich. Er war schwer, aber nichts, was Ladybug nicht hinbekam. Mit ihm im Arm konnte ich mein Jo-Jo nicht benutzen, also blieb mir nur die Flucht. Ich rannte los, aber Siren stellte sich mir in den Weg. »Ihr seid dämlicher, als ich dachte!«, sagte sie lächelnd. »Wenn ihr eure Pläne so laut herumbrüllt, ist es fast schon zu einfach.« Mit der freien Hand schlug ich mir an die Stirn. Natürlich. Cat hatte durch die Ohrstöpsel Schwierigkeiten, mich zu hören, aber Siren verstand jedes Wort. Ich war so dumm! Siren zuckte nur mit den Schultern und holte tief Luft, dann griff sie erneut an. Ich wich aus und rannte in eine Seitengasse, Cat war immer noch bewusstlos. Wir mussten uns irgendwo verstecken! Hm... Meister Fu's Wohnung war nicht weit von hier... Ja, das würde gehen. Ich legte einen Zahn zu und schlitterte um eine Ecke, rannte so viele Umwege wie möglich. Erst, als ich mir ganz sicher war, dass ich Siren abgehängt hatte, traute ich mich zu dem Mehrfamilienhaus, in dem Meister Fu wohnte. Die Tür schwang sofort auf und Wayzz, das Schildkröten-Kwami, begrüßte mich mit einem Nicken. »Meister Fu ist im Behandlungszimmer. Er erwartet euch bereits.« Verwirrt bedankte ich mich und trug Cat Noir hinein, Wayzz bedeutete mir, ihn auf eine Matte zu legen. Meister Fu kniete bereits daneben und streckte die Hände aus, genau so, wie er auch Tikki geheilt hatte. »Keine Sorge, Ladybug, er wird wieder.« »Das funktioniert auch bei Menschen?«, fragte ich zweifelnd und strich Cat die Haare aus dem Gesicht. Wäre er wach, hätte er sicher irgendwelche dämlichen Witze gerissen. »Bis zu einem gewissen Grad, ja. Dass er noch verwandelt ist vereinfacht die Sache natürlich, da ich mich auf Plaggs Energie konzentrieren kann. Die Energie von Menschen zu beeinflussen ist viel schwieriger.« Ich nickte und tat so, als würde ich sein Hüter-Fachchinesisch verstehen. Aber was immer er da auch tat, es schien zu funktionieren. Cat gab ein lang gezogenes Gähnen von sich und streckte sich, öffnete aber nicht die Augen. Meister Fu lehnte sich zurück und stand auf, Wayzz wie immer an seiner Seite. »Das war's. Den größten Schaden hat er von Siren's Angriff davongetragen, der Sturz scheint ihm wenig ausgemacht zu haben. In ein paar Minuten wird er wieder zu sich kommen.« Ich sah ihn überrascht an. »Wie schaffen Sie es nur, immer genau zu wissen was passiert?« Er lächelte stolz und setzte eine Kanne Tee auf. »Du meinst, weil ich wusste, dass ihr gleich vor meiner Tür stehen würdet? Nun, das wird Inhalt der heutigen Lektion sein. Du hast doch nicht vergessen, dass ich euch Unterricht geben wollte, oder?«
»Nein! Natürlich nicht!« Doch. Total. Meister Fu sah mich nur wissend an, als wüsste er genau, dass ich log. Da konnte man sagen, was man wollte, aber der Mann war auf Zack. Ich hörte Cat noch einmal gähnen und lief zu ihm, just in dem Moment, in dem er richtig aufwachte. Abrupt fuhr er hoch. »Was-Wer-Wie-Wo... Ladybug?« Ich schnipste gegen das Glöckchen an seinem Hals. »Höchstpersönlich. Und bevor du fragst, du warst ohnmächtig und ich musste fliehen, wir sind bei Meister Fu. Kennt ihr euch schon?« Er schielte an mir vorbei zu Meister Fu, der würdevoll auf ihn hinunter blickte. »Oh, ja, Jep, wir kennen uns. Hi, Meister.« Fu nickte würdevoll und bedeutete Cat, sich aufzurichten. »Wir fangen so schnell wie möglich an, bevor Siren zu viele Anhänger sammeln kann. Heute werde ich euch beibringen, per Telepathie miteinander zu kommunizieren.« Sofort fuhr Cat Noir hoch. »Telepathie? Wirklich? Wie cool!« Unser Lehrer nickte und ich setzte mich aufmerksam neben meinen Partner. Das schien spannend zu werden. »Alle Kwamis sind jeder Zeit in der Lage, Kontakt zu anderen aufzunehmen, solange es ihnen nicht ausdrücklich von ihren Meistern verboten wird. Deswegen kann Wayzz mir auch sagen, was ihr tut. Zumindest, solange ihr verwandelt seid. Wenn ihr die Verbindung zu euren Kwamis löst, seid ihr wieder »offline«. Telepathie ist eine passive Fähigkeit, um sie bewusst einzusetzen, müsst ihr die Verbindung zu Tikki und Plagg aufs Maximum ausweiten. Dadurch verlängert sich auch der Zeitraum, den ihr als Superhelden verbringen könnt.« Okay, sicher, alles klar. Ging's noch allgemeiner? »Und wie genau macht man das?«, fragte ich während Meister Fu sich in aller Ruhe eine Tasse Tee holte. »Ohne fremde Hilfe schafft ihr das nicht. Ich werde euch anleiten.« Er setzte sich würdevoll vor uns, sodass wir ein Dreieck bildeten. »Eine Warnung habe ich noch: Kwamis sind, trotz ihres niedlichen Aussehens, Gottheiten der höchsten Ordnung und direkt mit all der Energie um uns herum. Da ihr die Verbindung mit ihnen heute zum ersten Mal ausweitet, könntet ihr Bilder sehen, die vielleicht noch in ferner Zukunft oder Vergangenheit liegen. Seit ihr bereit?« Gleichzeitig nickten wir, man konnte uns deutlich ansehen, wie gespannt wir waren. Sofort schwebte Wayzz herbei und legte seine Hand auf Meister Fu's Schulter, ein grüner Schimmer erhellte den Raum. Unser Lehrer holte tief Luft, und berührte jeden von uns mit dem Zeigefinger an der Stirn. Zuerst geschah gar nichts. Doch dann füllte sich mein ganzes Sichtfeld mit rotem Licht, Meister Fu's Wohnung verschwand auf einmal. Wo war ich? Wo war Cat Noir? »Nur keine Sorge, ihr Zwei.«, hörte ich Fu sagen, seine Stimme schien von überall gleichzeitig zu kommen. »Macht euch bereit, ich stärke jetzt eure Kwamis.« Das Licht schrumpfte zu einer Kugel zusammen, langsam konnte ich Tikki darin erkennen. Aber bevor ich sie rufen konnte, lenkte etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich: meine Umgebung hatte sich verändert. Bilder flackerten um mich herum auf, immer deutlicher erkannte ich etwas. Feuer schoss in den Himmel, der Schatten eines gigantischen Flügels legte sich über mich. Dann verschwand das Bild wieder und stattdessen sah ich in ein paar meerblaue Augen. Ein maskierter Junge stand vor mir, sein Kostüm bestand aus unzähligen roten Schuppen. Auch er verschwand, bevor ich Details erkennen konnte. Das Bild des Jungen wurde von einem anderen abgelöst, dem eines tiefschwarzen Schmetterlings. Ein Akuma? Der hier sah anders aus... statt des violetten Musters waren seine Flügel mit goldenen Linien überzogen. Und Zack! Auch er verschwand wieder und ich sah einen leeren, weißen Raum vor mir. In der Ferne konnte ich ein kleines Mädchen ausmachen, das mich munter anlächelte. Ihre Augen waren schneeweiß, wirkten aber nicht blind. Ihr Gesicht war... seltsam. Es schien sich ständig zu verändern, als könnte es sich nicht entscheiden, wie alt es sei. Mal sah es aus wie Sechs, dann wieder meinte ich in das faltige Gesicht einer alten Frau zu sehen. Als sie sich auflöste, tauchte kein neues Bild mehr auf. Stattdessen schwebte auf einmal Tikki vor mir, die blauen Augen fröhlich funkelnd. »Marinette!« »H-Hey! Hast du das gerade auch gesehen?« Sie legte fragend den Kopf schief. »Nein...? Hattest du eine Vision?« Ich zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich, aber es hat keinen Sinn ergeben. Vermutlich ist es unwichtig.« Ich sah sie neugierig an. »Also, was muss ich jetzt machen, um diese Telepathie-Fähigkeit zu bekommen?« »Oh, die hast du schon. Konzentrier dich auf Cat Noir, sein Gesicht, seine Stimme, irgendetwas. Es ist ganz leicht.« Ich versuchte es. Cat's dämliche Witze... Seine Leichtsinnigkeit... aber auch seine Loyalität und sein Mut! Ich schloss die Augen und konzentrierte mich ganz auf meinen Partner. »Cat? Bist du da?«
Adrien
Suchend sah ich mich um. Vor mir hatte sich eine grüne Lichtkugel gebildet, in der ich Plagg erkannte, aber hatte Meister Fu nicht etwas von Zukunftsvisionen gesagt? Tatsächlich flackerte vor mir plötzlich ein Bild auf, es zeigte... eine Sternwarte? Nein, nicht irgendeine! Gefesselt betrachtete ich die drei Personen, die die Wendeltreppe zum Teleskop hinaufkletterten. Das waren... wir. Papa, Maman und ich, vor vielleicht zehn Jahren. M-Maman! Ich versuchte, das Bild zu greifen, aber es löste sich genauso schnell auf, wie es gekommen war. An seiner Stelle erschien eine Frau in einem blauen Kostüm, ihr Gesicht war maskiert. Sie sah sich panisch um, um sie herum schlugen leuchtende Geschosse ein. Jemand schleuderte ein Netz über sie und sie ging zu Boden, die Szene verschwand wieder. Sie wurde von einem Mann mit violetter Maske abgelöst, der vor einer langen Mauer stand. Die chinesische Mauer?! Anscheinend handelte es sich bei dem Mann um einen früheren Hawk Moth, denn als auf einmal eine ganze Armee auf ihn zustürmte, ließ er nur gelassen einen Akuma aufsteigen. Der Schmetterling flog frontal gegen die Stirn einer jungen Chinesin, deren schwarzes Haar sich abrupt weiß verfärbte. Ein seltsames Symbol erschien knapp unter ihrem Haaransatz und ein lavendelfarbener Umhang hüllte sie ein. Auch sie löste sich viel zu schnell wieder auf, ich konnte mir keinen Reim auf das Gesehene machen. Das nächste Bild zeigte... mich? Nein, einen ehemaligen Cat Noir. Er kniete vor einem Mädchen, das ihn rosafarbenes Licht gehüllt am Boden lag. Ihr gepunktetes Kostüm verschwand und gab den Blick auf eine riesige Wunde frei. Entsetzt wich ich zurück. Das war eine von Ladybugs Vorgängerinnen! Und sie... starb. Cat Noir schluchzte und ließ den Kopf sinken, er zuckte nicht mal zusammen, als ihm ein Pfeil in den Rücken geschossen wurde. Als wäre es ihm egal. Ich war immer noch völlig geschockt, als sich das Bild veränderte und einen mit Schmuck behängten Mann zeigte. Ein Pharao? Er nahm soeben die ihm dargebotenen Miraculous entgegen und rezitierte etwas aus einer Schriftrolle, dann explodierte der Raum um ihn herum regelrecht. Violette Flammen wüteten durch die Szene und brannten alles nieder, die Menschen, die versuchten, sie zu bekämpfen, schienen bei Kontakt mit dem Feuer alle Hoffnung zu verlieren. Schließlich verblasste auch dieses Bild und ich atmete auf. Das waren... furchtbare Visionen gewesen. Je weiter zurück in die Vergangenheit ich geblickt hatte, desto schrecklicher waren die Szenen gewesen. Vor meinem inneren Auge sah ich immer noch diese andere Ladybug liegen, verletzt und dabei, sich zurückzuverwandeln. Vollkommen hilflos dem Tod überlassen. »Kleiner, alles klar? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!«, fragte Plagg's Stimme hinter mir und ich zuckte zusammen. »P-Plagg!« Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch und ich sah zur Seite. »Keinen Geist. Ich... glaube, ich habe in die Vergangenheit gesehen, bis ins alte Ägypten. Damals ist... Ladybug gestorben. Und Cat Noir auch. Ist... das wahr?« Jetzt war es Plagg, der den Blick abwandte. Er sah... traurig aus. »Sein Name war Seto.«, sagte er leise. »Er... und die damalige Ladybug, Amany, waren Geschwister. Amany war gerade einmal zwölf, aber... sie war eine der gütigsten, moralischsten und weisesten Heldinnen, die es je gab. Seto... er hat sie verehrt. Sie war sein ein und alles, seine perfekte kleine Schwester. Sie haben die Sklaven gegen den Pharao verteidigt, haben die Wachen ausgetrickst wo es nur ging. Aber... in dieser Nacht, da... waren es einfach zu viele. Sie haben Amany verwundet und als Köder benutzt, um Seto aus der Reserve zu locken. Ich habe ihn angefleht, nicht zu gehen, doch als er gesehen hat, dass Amany im sterben lag... Er konnte sich nicht einmal mehr von ihr verabschieden.« Ich sah zu Boden. Obwohl es bereits Jahrtausende zurücklag... diese Geschichte von einem Zeitzeugen zu hören, ließ sie unglaublich lebendig wirken. »Plagg...« »Ach, oh je, 'tschuldigung! Hab mich ein bisschen mitreißen lassen! Wo waren wir? Telepathie?«, überspielte Plagg die Sache und sah auf. Ich zögerte. »Ich wollte nur sagen... Wenn er Amany wirklich so geliebt hat, hätte niemand auf der Welt ihn davon abhalten können, zu ihr zu gehen. Du hättest ihm nicht helfen können.« Er sah zu Boden. »Ich weiß. Aber... danke. Seto hätte dich bestimmt gemocht.« Ich lächelte und er sah misstrauisch auf. »Bilde dir darauf bloß nichts ein!« Ich hielt eine Hand hoch und hielt mir die andere vor die Brust. »Versprochen! Also, was muss ich jetzt machen?« Plagg kratzte sich am Kopf. »Hm... Weiß nicht. Denk einfach an Ladybug, das wird schon irgendwie.« Ich seufzte tief und zwang mich, Seto und Amany vorerst aus meinem Kopf zu verbannen. Das war Vergangenheit. Ich würde so etwas nie zulassen. Mit einem Kopfschütteln begann ich, mich auf Ladybug zu konzentrieren. Ihr bezauberndes Lächeln, die himmelblauen, stolzen Augen... »Cat? Bist du da?«, hörte ich sie auf einmal, in ihrer Stimme schien eine Zweite, Hellere mitzuschwingen. War das ihr Kwami, Tikki? »Anwesend!«, antwortete ich und hörte, wie auch Plagg's Stimme in Meiner nachklang. »Wahnsinn! Das funktioniert ja perfekt!« Ich hörte sie lachen. »Was dachtest du denn? Oh, aber was sollen wir eigentlich jetzt machen? Wie können wir aufwachen?« »Dafür bin ich ja hier.«, antwortete ihr Meister Fu's nach wie vor körperlose Stimme. »Wenn ihr soweit seid, hole ich euch nun zurück.« Plagg spitzte die Ohren. »Dann sollte ich dir wohl noch schnell sagen, dass ich ab jetzt Zugang zu deinen Gedanken habe, wenn du dich verwandelst. Ist das nicht lustig?« Ich zuckte zusammen. »Bitte WAS?! Heißt das, ich habe dich ab jetzt ständig in meinem Kopf?!« »Überraschung! Das wird zum Totlachen!« Ich wollte ihn empört zur Schnecke machen, aber da füllte sich mein Sichtfeld bereits mit grünem Licht und ich befand mich wieder in Meister Fu's Wohnung. Ladybug neben mir blinzelte und grinste mich abenteuerlustig an. »Sieht so aus, als könnten wir Siren jetzt ein Schnippchen schlagen!« Ich grinste zurück, wie geblendet von ihrem strahlenden Lächeln. »Himmel noch mal, schnulzt du immer so rum?«, meckerte Plagg in meinem Kopf und ich sah schnell weg. »Halt die Klappe! Das ist privat!« Wie sollte ich das aushalten? Mir reichte schon, dass Plagg mir zu Hause auf die Nerven ging! Meister Fu klatschte in die Hände und stand auf. »Sehr, sehr gut! Damit ist die heutige Lektion beendet. Auf, auf! Wenn ich mich recht erinnere, wartet noch ein Akuma auf euch.« Sofort sprangen wir auf und Meister Fu öffnete ein Fenster. »Hier entlang, wenn ich bitten darf. Die Nachbarn wären wohl ziemlich überrascht, wenn Paris' meist gefeierte Helden an ihrer Tür vorbei spazierten.« Ladybug nickte und warf ihr Jo-Jo. »Danke, für ihre Hilfe, Meister Fu. Bis zum nächsten Mal!« Und schwupps! Sauste sie davon. Ich salutierte scherzhaft in Fu's Richtung, dann folgte ich meiner Partnerin. »Hattest auch eine Vision?«, fragte sie telepathisch als ich sie eingeholt hatte. Anscheinend wollte sie unsere neue Fähigkeit gleich testen. »Ja. War ziemlich... beängstigend.«, antwortete ich ebenfalls per Telepathie. »Und die Bilder waren völlig zusammenhangslos. Ich habe mich vor zehn Jahren mit meiner Familie gesehen, dann irgendeine andere Superheldin, einen ehemaligen Hawk Moth, ein Katzen-Käfer-Team vor über zweitausend Jahren, und irgendeinen durchgeknallten Pharao mit beiden Miraculous. War nicht gerade schön.« »Bei mir war's auch nicht gerade sinnvoll. Ich habe Feuer gesehen, einen Superhelden in unserem Alter, einen goldenen Akuma... oh, und dieses seltsame Mädchen mit den weißen Augen. Weißt du, was das bedeuten soll?« Ich schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich war das irgendein Unsinn, der erst in Tausend Jahren eintritt oder so. Am besten, wir vergessen das wirre Zeug wieder.« Sie nickte langsam und blieb stehen. »Warte! Hörst du das?« Hastig bremste ich und spitzte die Ohren. Gesang... in der Ferne. Richtung Schule. »Setzen wir lieber die Ohrstöpsel wieder ein.«, schlug meine Partnerin vor und nahm ein Paar aus einem kleinen Fach an ihrem Jo-Jo, mir warf sie auch eins zu. Aber anders als vorhin war mein Gleichgewichtssinn noch voll funktionsfähig, ich konnte trotz der Stöpsel immer noch... hören? Nein, es war irgendwie anders. Ein sechster Sinn vielleicht, schwer zu beschreiben. Wir sprangen über eine Straße hinweg auf das nächste Dach, die Schule war nicht weit weg. Siren war leicht zu finden, auch ohne ihr extravagantes Kleid schien sie nicht besonders dezent zu sein. Sie schritt mit gerafftem Rock die Straße entlang, zehn oder mehr ihrer Bewunderer eilten ihr hinterher. Ich wollte direkt zum Angriff übergehen, aber Ladybug hielt mich zurück und legte einen Finger an die Lippen. »Leise! Wir folgen ihr erst.« Brav nickte ich und ging neben ihr hinter einem Schornstein in Deckung. »Da wir ja gerade Zeit haben, habe ich dir heute schon gesagt, wie reizend du wieder aussiehst? Warst du beim Friseur?«, fragte ich und grinste sie an. Sie verdrehte die Augen. »Bleib ernst, Cat. Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren.« »Zu spät. Ich kann die Augen einfach nicht von dir abwenden, My Lady.« Ich zwinkerte ihr frech zu und sie schlug sich eine Hand an die Stirn. »Also gut, Kätzchen.« Provokant legte sie den Kopf schief, grinste mich an und beugte sich vor, bis sich unsere Nasen fast berührten. Mir stockte der Atem. »Vielen Dank für das großkatzige Kompliment, mein allerliebstes Kätzchen!«, sagte sie und tippte mir lächelnd an die Nase. Luft! Ich musste atmen! Wie ging das nochmal? »A-Also... Gern geschehen, M-My Lady!«, brachte ich irgendwie hervor und ihr Lächeln wurde breiter. »Nein wirklich! Das war zum Schnurren süß!« Mein Gesicht war sicher mindestens so rot wie ihre Maske, als noch ein Stückchen näher kam. Spätestens an dieser Stelle wurde ich kurz ohnmächtig, ich spürte nur, wie ich rückwärts vom Dachgiebel kippte und die Ziegel hinunter kullerte. Hastig rappelte ich mich wieder auf und räusperte mich, Ladybug unterdrückte mühsam ihr Lachen. Plagg dagegen machte sich die Mühe erst gar nicht: er prustete einfach los. »Du bist so ein Großmaul, Kleiner! Ich krieg mich nicht mehr ein...«, brüllte er lachend in meine Gedanken und ich zog den hochroten Kopf ein. »Das Mädchen ist große Klasse, das muss sie öfter machen! Du siehst aus, als hätte man dich in rote-Beete-Saft getunkt.« »So, da wir jetzt alle wieder bei der Sache sind, sollten wir Siren weiter folgen, oder Cat?«, fragte Ladybug mit einem breiten Grinsen im Gesicht und ich nickte schnell. »Klar! Siren verfolgen! Sofort!« »Du machst dich nur noch mehr zum Deppen.«, meinte Plagg kopfschüttelnd und ich folgte Ladybug kleinlaut die Dächer entlang. »Ich weiß! Halt die Klappe!«
Marinette
Haha! Die Strategie musste ich mir merken! Immer noch grinsend sprang ich auf das nächste Dach und hielt nach Siren Ausschau. Sie war mitsamt ihrem Gefolge abgebogen, zu einer... Baustelle? Ganze Scharen ihrer Anhänger hatten das Baugerüst mit Bändern und Lichtern geschmückt, eine Splittergruppe rollte sogar einen roten Teppich aus! Siren schritt lächelnd und winkend über das Rot, dann stieg sie das Baugerüst hinauf. Obwohl wir mehrere Häuserblocks entfernt waren, konnten wir sie einwandfrei erkennen. »Was will sie da denn?«, fragte Cat verwirrt, seine Gesichtsfarbe hatte sich mittlerweile wieder neutralisiert. Mein Blick wanderte zum Nachbargebäude. Auf dem Dach war etwas Schwarzes, Glänzendes montiert. Eine... eine Kamera. Eine von Alya's Profi-Kameras. Sofort begannen die Zahnrädchen in meinem Kopf, zu arbeiten. Alya hatte sicher Wind von dem Akuma bekommen, sie würde also alle verfügbaren Kameras nach ihm absuchen und die Bilder life übertragen. Nicht nur auf ihrem Blog, die Nachrichten-Sender, die sie unterstützt hatten, wollten sicher auch etwas senden. Alle würden Siren sehen. Alle würden sie hören. Die Zahnräder rasteten ein und ich sprang auf. »Cat! Sie darf auf keinen Fall vor der Kamera singen! Sonst hat sie ganz Paris unter Kontrolle!« Er sog scharf die Luft ein und fuhr den Stab aus. »Das schaffen wir nicht rechtzeitig!« Wir waren zu weit weg! Ich durfte keine Zeit verlieren! »Glücksbringer!«, rief ich im Rennen, die roten Wirbel gaben ein kleines, gepunktetes Objekt preis. Ein Mikrofon? Warum auch nicht! Wer hatte schon gesagt, das Ding müsste irgendwie zu gebrauchen sein? »Guten Tag, Paris!«, sagte Siren in die Kamera, wir waren immer noch zu weit weg! »Heute werdet ihr ein ganz und gar unvergessliches Lied hören.« Ohne Nachzudenken schaltete ich das Mikrofon ein und rief Sirens Namen. Sie fuhr erschrocken herum. »Was?! Los, haltet sie auf! Worauf wartet ihr?« All ihre Anhänger strömten über die Dächer auf uns zu, während Siren sich wieder der Kamera zuwandte. Nein! Niemand durfte sie hören! Ich sah auf das Mikrofon in meiner Hand. Das war sicher nicht besonders originell, aber zumindest würde es uns etwas Zeit verschaffen! Sobald Siren den Mund öffnete, hatte auch ich tief Luft geholt und das Mikrofon erhoben. »LALALALA!«, grölte ich, was zugegeben nicht sehr einfallsreich war. Aber es reichte, um Siren zu übertönen, die sich wutentbrannt zu mir umwandte. »Wer wagt es...?!« »BIN LADYBUG! BRINGE DIR GLÜCK! UND GLAUBE FEST, DASS ES GELI-INGT! BIN LADYBUG, ES IST VERRÜCKT!«, brüllte ich lachend weiter und warf mein Jo-Jo, das sich zielsicher um zwei Siren-Fans wickelte und zurückschleuderte. »WIE WEIT UNS DIE MACHT DES GUTEN BRI-INGT!« Das war vielleicht unprofessionell gereimt, aber immerhin etwas! Siren stampfte mit den Füßen auf, aber sie konnte unmöglich lauter singen als ich. »Wie kannst du es wagen, so unverfroren mein Konzert zu unterbrechen! Du singst ja nicht einmal gut!« »Immerhin singe ich überhaupt! Man muss nicht perfekt sein, solange man Spaß dabei hat, Nina!« »Schweig! Das ist nicht mehr mein Name! Ergreift sie!« Cat hielt die Menge mit seinem Stab in Schach, aber auch er konnte sie nicht ewig abhalten. Jemand packte mich von hinten und hielt mich fest, trotzig brüllte ich weiter. »MIRACULOUUUUUUUUUUUUS!« Mit einem Schlag riss man mir das Mikro aus der Hand, nutzlos blieb es vor meinen Füßen liegen. Neben mir wurde Cat Noir regelrecht überrannt, ich konnte ihn kaum noch sehen. Wir waren so nahe! Zwischen unserem Dach und dem, auf dem Siren stand, lag nur noch eine einzige Straße! Zufrieden sah sie zu, wie wir versuchten, uns loszureißen. Vergeblich, es waren einfach zu viele. »Nun, da die Störenfriede beseitigt sind, kann das Konzert ja beginnen! Und als Siegestrophäe nehme ich mir danach... hm... eure Miraculous? Ja! Das klingt doch toll!« Sie drehte sich zurück zur Kamera und ich konzentrierte mich. Meine Arme konnte ich nicht bewegen, und an das Mikrofon kam ich nicht heran. Es lag knapp neben Cat Noir, der von zehn Siren-Groupies zu Boden gedrückt wurde. Und die Kamera vor Siren hatte ebenfalls ein kleines, externes Mikro... »Cat! Kommst du an das Mikrofon ran? Du musst es nur in meine Richtung werfen!« Er nickte schnaufend. »Ein Mikro für meine bezaubernde Lady? Kommt sofort!« Er holte aus und erwischte sein Ziel gerade noch so mit der Fingerspitze, das gepunktete Ding rollte auf ihn zu und er beförderte es mit einem ausladenden Schwung in die Luft. Ich konnte mich nicht losreißen, aber das musste ich auch gar nicht: ein kraftvoller Tritt genügte, damit das Mikrofon wie an der Schnur gezogen durch die Luft sauste und mit einem Krachen genau zwischen Kamera und dem anderen Mikro einschlug, das sofort einen markerschütternden, quietschenden Ton von sich gab. Siren und ihr Gefolge zuckten zusammen und hielten sich die Ohren zu, im Handumdrehen hatten wir uns befreit. Ich zückte mein Jo-Jo und baute mich vor der sich aufrappelnden Schar auf. »Kümmere dich um Siren! Ich halte die hier in Schach!«, rief ich meinem Partner zu und er nickte. »Katerklysmus!« Sobald sich seine Hand mit der zerstörerischen Schwärze vollgesogen hatte rannte er los, mit einem Satz war er auf der anderen Seite der Straße und kletterte das Gerüst hoch, bis er unter Siren stand. Siren bemerkte ihn erst, als er die Planken unter ihr zum Einsturz brachte und sie nach unten fiel, ihr Kleid verfing sich an einem abstehenden Metallbalken und ließ sie kopfüber baumeln. Sie schrie und zeterte, aber ihre Anhänger wurden von mir auf Trab gehalten. Sie hatte verloren. Grinsend schnappte sich Cat ihre Kette und zertrat sie, der Akuma flatterte panisch heraus und wollte sich aus dem Staub machen. Ich trat einen von Sirens angreifenden Fans weg und ließ mich vom Dach fallen; mein Jo-Jo zog mich in einem großen Bogen auf das nächste Haus. »Deine dunklen Zeiten sind vorbei, kleiner Akuma.«, sagte ich wie jedes Mal, öffnete mein Jo-Jo und warf es. »Gleich musst du nicht mehr böse sein! Hab dich!« Der schwarze Falter wurde mit einem Zuschnappen meines Jo-Jos an der Flucht gehindert und zu mir gezogen, als ich ihn wieder freiließ, war er nur noch ein unschuldiges weißes Insekt. »Tschüss, kleiner Schmetterling.«, beendete ich Sirens Existenz und griff nach dem Mikrofon, das immer noch an der Kamera steckte. »Miraculous Ladybug!« Sofort breitete sich das rote Glühen aus und reparierte das Gerüst, hüllte die Menschen auf dem Dach ein und setzte sie geheilt auf der Straße ab. Sirens Kostüm löste sich in dunklem Rauch auf und ließ eine verwirrte Nina zurück. »Was... Was mache ich denn hier?« Triumphierend hielt ich Cat Noir die Faust hin und er schlug ein. »Gut gemacht!« »Da wir Siren jetzt erledigt haben, könnten wir ja noch zusammen zum Casting gehen, oder?«, fragte Cat hoffnungsvoll und ich schnippte mir gegen die Ohrringe. »Leider keine Zeit, Kätzchen! Und du hast auch nur noch ein paar Min- Sekunde mal.« Ich sah auf seinen Ring, auf dem gerade mal das erste Feld aufblinkte und verschwand. »Das ist komisch. Ich habe auch erst zwei Punkte verloren.« Cat's Miene hellte sich auf. »Meister Fu meinte doch, wir hätten mehr Zeit, bevor wir uns zurückverwandeln! Anscheinend haben wir jetzt doppelt so viel. Dann könnten wir doch-« »Tut mir leid, ich bin schon verabredet!«, meinte ich grinsend und warf mein Jo-Jo, dass sich an irgendeinem Schornstein fixierte. »Bis zum nächsten Mal!« Mit einem kurzen Ruck ließ ich mich davonziehen, trotzdem konnte ich noch sehen, wie Cat mit dem Fuß aufstampfend »Schade!« murmelte. Ich landete sicher auf einem Dach und rannte in Richtung Schule, in Gedanken bereits bei einem grünäugigen Jungen, mit dem ich den ganzen Nachmittag verbringen durfte!
Epilog
»Das Mädchen scheint das Vorsingen doch noch gewonnen zu haben.«, sagte ich zu Wayzz als die Kinder die Schule verließen. Ich beobachtete vor allem Zwei interessiert, meine beiden Schützlinge. Ladybug und Cat Noir, nun wieder gewöhnliche Jugendliche. Sie wussten ja gar nicht, wie nah sie sich im normalen Leben waren. »Ihr seht wütend aus, Meister. Stimmt etwas nicht?«, fragte mein Kwami besorgt und ich wandte mich seufzend ab. »Ich bin nicht wütend, mein Freund. Ich bin nur so... verwirrt! Wie kann es sein, dass sich die beiden immer noch nicht erkannt haben?! Es ist so... offensichtlich!« »Ihr wisst schon, dass es unmöglich ist, sie zu identifizieren, nicht wahr? Dafür tragen sie doch die magischen Masken!« »Trotzdem!«, sagte ich schmollend. »Sie könnten längst ein Paar sein, wenn sie nicht so unaufmerksam wären!« Wayzz seufzte tief. »Themenwechsel, bevor ich Ihretwegen wieder Kopfschmerzen bekomme. Ladybug und Cat Noir haben ihre Verwandlung jetzt auf das Maximum gehoben, das Training kann beginnen. Was habt Ihr für die beiden geplant?« Mittlerweile war es dunkel geworden, es würde also niemand sehen, wie ich auf dem Heimweg mit einem kleinen Gott redete. »Ich denke, ich werde sie nach Péng schicken.«, überlegte ich laut und Wayzz hob den Kopf. »Nach China? Wieso?«
»Tian-Lóng wird wieder aktiver, laut meinen Freunden dort. Ich möchte nicht, dass die Legenden über ihn neue Nahrung bekommen. Besser, Ladybug und Cat Noir kümmern sich um ihn und ich kann sein Miraculous verwahren, als dass irgendein reicher Mensch Tian-Lóng mit modernen Waffen niederstreckt. Wir müssen vorsichtig sein. Jetzt, wo Hawk Moth aufgetaucht ist, können wir nicht zulassen, dass noch ein Kwami in die falschen Hände gerät.« Das war nur die halbe Wahrheit, und Wayzz spürte es. »Es steckt noch mehr dahinter, nicht wahr?« Ich wandte hastig den Blick ab. »Ich... Ich mache mir Sorgen um sie. Um Luna.«
»Das letzte Mal, als Ihr sie gesehen habt, hat sie sich Rache an Euch geschworen, oder? Und versucht, das Bienen-Miraculous zu stehlen!« Kopfschüttelnd beschleunigte ich meine Schritte. »Sie ist noch ein Kind! Sie wird es verstehen, eines Tages. Und... du weißt, wie verbohrt sie sein kann. Wenn sie noch einmal versuchen sollte, Tian-Lóng auf eigene Faust zu besiegen, könnte es sie das Leben kosten.« Wayzz folgte mir verständnislos. »Ihr wisst, dass sie nicht mehr völlig machtlos ist. Sie könnte Euch angreifen!«
»Ich werde sie nicht aufsuchen, keine Sorge. Es ist nicht so, als könnte ich ihren Hass nicht verstehen. Ich möchte nur sicher sein, dass es ihr gut geht und dass sie nichts Dummes macht. Außerdem wird der Kampf gegen einen Nicht-akumatisierten Gegner eine wertvolle Erfahrung für unser Helden-Duo sein.« Mein Kwami schwebte seufzend auf meine Schulter. »Ich hoffe nur, Ihr überschätzt die Beiden nicht.«
*La Menteuse: die Lügnerin
**Layla Hugo: erfundene Person
***Nein, Diva ist nicht nur ein Wort für eine verwöhnte und überhebliche Dame, sondern auch eine Bezeichnung für eine Opernsängerin.
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Wuuuuuhuuuuuu! Fertig! Episode zwei ist die, die ich zuletzt fertig geschrieben habe, von mir aus gesehen habe ich die Staffel also jetzt beendet! Yee Haw! Von euch aus sind aber noch Sechs Folgen übrig, also nur nicht locker lassen. Der erste richtige Meilenstein ist Episode Drei, die ersten beiden waren wie schon erwähnt erst zum Einleiten. Ich habe mir trotzdem Mühe gegeben, also schreibt mir ruhig was in die Kommentare. Kann auch gerne Kritik sein, mein (absurd großes) Ego verträgt das schon ;D
Wer vom Epilog oder den Visionen etwas verwirrt ist, braucht sich keine Sorgen zu machen, das wird erst später Sinn ergeben. Ein paar Sachen noch später als andere. Viiiiiieeel später. Die erwähnte Luna kommt zum Beispiel erst in meiner zweiten Staffel vor (also der insgesamt dritten).
Und sie wird reinhauen.
Dermaßen.
Wenn ihr mein Mega-stolzes Grinsen sehen könntet...
Bis zum nächsten Nachwort dann!
Eure Geeeny
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