Prolog

'Hilf mir...'

Kälte und Dunkelheit umgaben ihn.
Zitternd saß er da, sein flacher Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft, doch sehen konnte er sie nicht.
Reglos verweilte er in der scheinbar endlosen Schwärze.
Wie lange war es schon her, dass er das letzte Mal etwas erkennen konnte?
Auf sein Zeitgefühl konnte er sich schon lange nicht mehr verlassen. Mit nichts außer dem harten Boden, der kalten Wand und der Dunkelheit, war es ihm unmöglich, zwischen Minuten und Stunden zu unterscheiden.

'Mama? Ich habe Hunger...'

Jedes Mal wenn er mit den Fingern seine kalte Haut berührte, fühlte er, wie abgemagert die Gliedmaßen darunter waren. Obwohl er nicht mehr wusste, wie sein Gesicht einst ausgesehen hatte, konnte er sich nur zu gut vorstellen, wie schrecklich abgemagert sein knochiger Körper aussehen musste.
Und doch spürte er keinerlei Verlangen nach Nahrung.
Noch vor einiger Zeit, so sagte ihm eine vage, verschwommene Erinnerung, hatte er regelmäßig etwas gekaut, einen faden Geschmack schmecken können und widerwillig geschluckt.
Jemand war gekommen, immer und immer wieder, Tag für Tag hatte jemand ihm das immergleiche, langweilige Essen vor die Nase gestellt. Zu dieser Zeit war er fast immer hungrig gewesen, doch als es irgendwann aufhörte, als irgendwann niemand mehr kam, hatte sich der nagende Hunger nach einer Weile verzogen.

'Bitte... e-es tut mir leid... bitte hör auf!'

Die Stille war unerträglich laut. Sie umgab ihn von allen Seiten, drückte ihn nieder, wollte ihn ersticken. Es war unerträglich und doch war er froh darüber. Denn das einzige, was noch schrecklicher war, als dieses dumpfe Schweigen, waren die Schreie.
Diese qualvollen, hohen, verängstigten und verzerrten Stimmen, die wortlos um Hilfe riefen. Er wusste nicht, woher sie kamen, auch wenn er das Gefühl hatte, es eigentlich wissen zu sollen.
Immer wenn sie wieder laut wurden, war das einzige was er tun konnte, sich die Hände über auf die Ohren zu pressen und zu hoffen, dass es bald vorbei war.
Und so gab er sich jedes Mal erleichtert der erdrückenden, leeren Stille hin, froh darüber, nichts von alledem hören zu müssen.

'Mama! Mama, es tut so weh!'

Doch über alldem, über der Dunkelheit, der Kälte und den Stimmen, war das, was am schlimmsten und unerträglichsten war, der Schmerz.
Die Momente, in denen sein Kopf anfing zu pochen, zu brennen und sich anfühlte, als würde er heißlaufen und im nächsten Moment explodieren.
Jedes Mal konnte er nicht anders, als sich vor Pein auf dem Boden zusammenzusacken und sich zitternd zusammenzukrümmen. Gequält riss er den Mund auf, ob er wirklich schrie oder ob seine Stimme erstickt wurde, wusste er selbst nicht.
Es fühlte sich an, als wäre da zu viel in seinem Gehirn, zu viele Erinnerungen, zu viele Gedanken, zu viel Wissen, auf das er selbst keinen Zugriff hatte und welches einfach zu viel war, als dass sein Körper damit umgehen konnte.

'Eines Tages wird ein Engel kommen, um dich zu retten, ein wunderschöner Engel, der nur für dich vom Himmel hinabsteigt. Und dann wird alles gut.'

Keuchend krallte er seine Finger in den dünnen Stoff des Kleidungsstückes, welches er schon immer trug, seit er sich erinnern konnte.
Wie gerne hätte er sich gewehrt.
Wie gerne wäre er aufgestanden, hätte nach einem Ausweg gesucht, wie gerne wäre er geflohen.
Doch so oft er es sich auch wünschte, so oft er es sich selbst sagte, sein müder Körper schaffte es nicht.
Die Hoffnung auf Hilfe hatte er schon lange aufgegeben. Wie lange es auch dauern würde, es würde niemand kommen.
Es gab niemanden mehr.
Er war allein, gefangen in dieser Hölle, in diesem endlosen Albtraum, aus dem es kein Entkommen gab.

'Mama, wo gehen wir hin?'

Hätte er sich doch bloß erinnert. Hätte er doch bloß Erinnerungen gehabt, Erinnerungen an fröhliche Tage, an lachende Gesichter und an sonnenbeschiene Blumenwiesen.
Doch da war nichts.
Seine Gedanken waren leer und so sehr er es auch versuchte, konnte er sich an nichts erinnern außer an verschwommene Farben.
Das einzige, was ihm blieb, war die Stimme, diese leise, weit entfernte Stimme, die so undeutlich in seinem Kopf sprach, dass er ihre Worte nicht verstehen konnte. Aber sie war so voller Zuneigung und Fürsorge, dass er sich krampfhaft an diesen schwachen Gedanken klammerte, er durfte ihn nicht verlieren, denn er wusste genau, wenn dies geschah, würde er in dieser Schwärze endgültig den Verstand verlieren.

'Warte... bitte geht nicht ohne mich...'

Als er das Leuchten zum ersten Mal bemerkte, war er sich sicher, dass es eine Einbildung war. Halluzination, Wunschdenken, solche Dinge hatte er schon oft genug erlebt.
Doch das Licht begann zu flackern. Trüb und schwach, ging es im Sekundentakt ein paar Mal an und wieder aus, dann wich es für einen Moment der Dunkelheit, nur um im nächsten Moment grell und stark wiederzukehren.
Erschrocken schlug er sich die Hände vor das Gesicht, zu lange waren seine Augen daran gewöhnt gewesen, nichts zu sehen, sodass dieses unbeschreibliche Leuchten nun in ihnen brannte wie Säure.
Eine Weile saß er so da, reglos zusammengekauert und mit gesenktem Kopf, so wie er es schon immer getan hatte.
Aber irgendwann wurde ihm klar, dass das Licht nicht verschwand.
Vorsichtig hob er den Blick und blinzelte zwischen seinen Fingern hindurch.
Zögernd ließ er die Hand sinken, konnte deutlich spüren, wie seine tränenden Augen sich langsam wieder an die Helligkeit gewöhnten.
Dann sah er sie.
Eine Gestalt, klein und schmächtig, eine entfernte Silhouette, welche gemächlich in seine Sichtbereich schritt und sich deutlich von dem leuchtenden Hintergrund abhob.

'Ein Engel...?'

Fasziniert beobachte er, wie sie stehen blieb und obwohl er nichts außer ihre Umrisse erkennen konnte, löste sie etwas unbeschreibliches in ihm aus.
Es war, als würde sein gebrochener Körper neue Kraft aus dem Licht schöpfen, nach geraumer Zeit kehrte Gefühl in jedes seiner Gelenke zurück. Langsam, ganz langsam, vor lauter Angst, dass er es nicht schaffen würde, fing er an sich zu bewegen.
Erst die Finger, dann die Arme, die Füße und irgendwann auch die Beine. Sein Kopf war eingedämmt, die Freude ließ ihn taub werden, sodass er den unbeschreiblichen Schmerz nicht einmal spürte, welcher ihn durchflutete, als er zitternd begann, über den kalten Boden auf die Person zuzukriechen.
Panik überkam ihn, als diese sich zögernd wieder in Bewegung setzte, auf den Rand des wunderschönen Bildes zusteuerte und drohte, dort zu verschwinden. Mit zusammengebissenen Zähnen schob er sich weiter voran, seine Händballen waren blutig, zerfetzt und voller Dreck von dem steinernen Boden, aber er blendete es aus. Das Einzige, was in diesem Moment zählte, war zu ihr zu kommen. Sie strahlte eine atemberaubende Schönheit aus, welche er noch nie zuvor gesehen hatte.
Und dann erreichte er sie.
Heftig keuchend und mit tränenverschmiertem Gesicht hob er den Kopf.
Da war sie, nur wenige Schritte von ihm entfernt und zitternd streckte er die Hand nach ihr aus. Sehnsüchtig und voller Hoffnung.
Er wollte etwas sagen, wollte sich bemerkbar machen, wollte ihr mitteilen, dass er hier war, dass sie nicht länger suchen musste, dass sie ihn gefunden hatte.
Sein Hals schmerzte unerträglich, doch er überwand sich und so sprach er mit leiser, krächzender Stimme ein einziges Wort, das einzige, an das er denken könnte, das einzige, welches sich richtig anfühlte.
Die Gestalt blieb stehen und trotz des grellen Lichts konnte er sehen, wie sie ihm den Kopf zuwandte.
Endlich hatte sie ihn bemerkt. Endlich.
Langsam ließ er den Arm sinken, weitere Tränen entflohen seinen Augen und zum ersten Mal, seit er denken konnte, bildete sich ein müdes Lächeln auf seinen Lippen.

'Bist du gekommen, um mich zu retten?'

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