4.) - Shimo

Mit großen Augen stand ich an der Hafenkante, nur wenige Zentimeter trennten meine Füße von den dunklen Wellen, und starrte hinaus, ließ den Blick über's Meer streifen, bis zu dem Punkt am Horizont, wo der Himmel mit den endlosen Wassermassen zu verschmelzen schien. Einige Meter hinter mir handelte Kitsui mit einem Schiffsbesitzer über den Preis, für den er uns bei seinem Weg ins Erdreich mitnehmen würde, doch ihre Stimmen drangen nur leise zu mir durch. Ich war gefesselt von dem Anblick der dich sich mir bot und war mir nicht sicher, ob ich das Meer, welches durch den bewölkten Himmel eine scheinbar schwarzblaue Farbe angenommen hatte, unheimlich oder faszinierend finden sollte.
Während ich noch darüber nachdachte, wie es wohl war, so weit draußen zu sein, mit nur einem einfachen Holzboot, welches einen von hunderten Metern dunklen Gewässers trennte, war ich so in Gedanken versunken, dass ich fast einen Herzinfarkt bekam, als sich auf einmal ein Arm von hinten um meine Schultern schlang.
"Na? Gefällt dir der Ausblick?", fragte Kitsui ruhig und lehnte seinen Kopf leicht gegen meinen Hals, während er sein Kinn auf meine Schulter bettete.
Sofort wirbelte ich herum, schubste ihn weg und stolperte ein paar Schritte zurück, wobei ich leider vergaß, dass ich direkt an der Grenze zum Hafenbecken stand. Ein überraschtes Keuchen entwich meiner Kehle, meine Augen wurden panisch, als ich nach hinten kippte und hätte Kitsui mich nicht festgehalten, wäre ich dem Wasser wohl wenige Sekunden später näher gewesen, als ich gewollt hätte.
Aber so stand ich mit den Füßen grade so auf der bröckeligen Kante, nach hinten gekippt und starrte Kitsui entgegen, der mich noch immer noch am Arm gepackt hatte und mit einem breiten Grinsen auf mich heruntersah.
"Du musst ein bißchen vorsichtiger sein, Shimo. Das Wasser ist tiefer als es aussieht und wer weiß, was da unten alles auf einen lauert", ließ er mich mit einem merkwürdigen Unterton in seiner Stimme wissen und für einen kurzen Moment schien etwas in seinen Augen aufzublitzen, was mir einen Schauer über den Rücken jagte.
"Zieh mich hoch", zischte ich leise, funkelte ihn an und versuchte, dass Gefühl der Übelkeit in meinem Bauch zu ignorieren.
Kitsui rührte sich nicht und blickte mich aus seinen grauen Augen triumphierend an, doch als ich grade schon wieder Panik bekam, grinste er erneut und trat er ein paar Schritte zurück, bis ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
Augenblicklich zog ich meinen Arm mit einem kräftigen Ruck aus seinem Griff und warf ihm aus zusammengekniffenen Augen einen wütenden Blick zu.
"Was zur Hölle sollte der Mist grade?"
Mit einem entschuldigenden Lachen rieb Kitsui sich mit der Hand den Hinterkopf und die jegliche Bedrohlichkeit schien verschwunden zu sein.
"Ah, tut mir leid, es ist nur lustig zu sehen, wie schreckhaft du manchmal bist. Entschuldige..."
Während mein Herzschlag sich langsam wieder beruhigte, fixierte ich ihn noch einen Augenblick lang mit böse funkelnden Augen und rieb dabei meinen schmerzenden Unterarm. Das würde sicherlich einen Bluterguss geben. Dann wandt ich seufzend den Blick ab und schaute wieder hinauf auf's Meer.
"Also? Was hat er gesagt?"
"Er nimmt uns mit, aber ich musste ihm 30.000 Yen dafür geben... blöder alter Geizkragen", murrte Kitsui, warf mir noch ein kurzes Lächeln zu und schlenderte dann in Richtung eines relativ neu aussehenden Bootes davon. Nach kurzem Zögern folgte ich ihm, blieb jedoch einige Schritte hinter ihm, sah zum trüben Himmel hinauf und hoffte, dass es während unserer Schiffsreise nicht regnen würde.
Als wir bei dem kleinen Schiff ankamen, überquerte Kitsui ohne Weiteres die schmale Holzplanke, doch ich blieb abrupt stehen. Der Übergang war vermutlich nicht einmal zwei Meter lang und dennoch hielt mich etwas davon ab, ihn zu betreten. Mit starrem Blick beobachtete ich, wie das dunkle Wasser in kleinen Wellen gegen die Flanke des Bootes schwappte und es leicht schaukeln ließ.
"Shimo? Stimmt irgendwas nicht?", ertönte Kitsuis Stimme verwundert.
Kurz schloss ich die Augen, versuchte die Vorstellung, wie ich in den endlosen schwarzen Tiefen versank, zu verdrängen und rang mich dazu durch, einen Fuß auf die Planke zu setzten.
Einen Schritt.
Noch einen.
Das Holz gab ein unheilvolles Knarzen von sich und ich flüchtete mich mit einem Sprung auf das Deck des Schiffes, wo ich kurz geduckt kauern blieb, bevor ich mich wieder beruhigt hatte.
Als ich den Kopf hob, stand Kitsui vor mir und sah zu mir herunter, wobei er versuchte, die den belustigten Ausdruck auf seinem Gesicht zu verbergen, was ihm allerdings nicht sonderlich gut gelang.
"Geht's dir gut?", fragte er schmunzelnd und streckte mir zur Hilfe eine Hand entgegen, die ich allerdings ignorierte, ohne ein Wort aufstand und mich von ihm wegdrehte, wobei ich missmutig die Zähne zusammenbiss.
Verdammt, was war denn heute los mit mir? Ich reagierte bei jeder Kleinigkeit völlig über, da war es kein Wunder, dass Kitsui sich über mich lustig machte.
"Guten Tag, Miss", erklang eine höfliche Stimme hinter mir und als ich mich umwandte, stand vor mir ein älterer Mann von kleiner Statur mit zottigem braunem Haar und einem freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht.
"Ich bin Tamashi Masao, mir gehört diese schlichte Schönheit, auf der wir stehen. Freut mich, Ihnen auf ihrer Reise behilflich sein zu können."
Er lächelte ein ehrliches und doch nicht zu aufgeschlossenes Lächeln, wie man es häufig bei Geschäftsleuten sehen konnte.
"Shimo. Freut mich...", erwiderte ich knapp und nickte ihm zu.
"Also dann", fuhr Masao fort und blickte kurz zu Kitsui, welcher sich zu uns gesellt hatte, "wird Zeit, abzulegen, nicht wahr? Von Ihnen ist hoffentlich niemand seekrank?"
Kitsui verneinte und ich schwieg bloß. Dass dies die erste Schiffsfahrt in meinem Leben werden würde, ließ ich lieber unerwähnt.
Masao begab sich in die Steuerkabine des Segelbootes und während ich noch über seine merkwürdige Art zu Sprechen sinnierte, setzte sich das Gefährt mit einem leichten Ruck in Bewegung. Sofort waren jegliche Gedanken wie weggepustet und ich sah mit großen Augen dabei zu, wie sich das Schiff langsam aber sicher vom Ufer entfernte, wobei es mit der Zeit immer mehr Fahrt aufnahm.
Dann, als es endlich direkt auf's offene Meer hinaus hielt, lief ich hastig nach vorne an den Bug, hielt mich mit den Händen an der Reling fest und starrte nach vorn. Der kräftige Seewind verwandelte meine Haare in ein einziges Chaos, das Rufen der Möwen, welche uns noch eine Weile lang begleiteten, bevor sie zum Ufer zurückkehrten, klang in meinen Ohren und der salzige Geschmack in der Luft, beruhigte mich auf eine angenehme Art und Weise.
Geschmeidig schnitt die Spitze des Gefährts durch die Wassermassen und ich beobachtete den weißen Schaum unter mir, während mir die Gischt ins Gesicht spritzte.
"Sieht aus, als hättest du Spaß", bemerkte Kitsui trocken, lehnte sich neben mich an das Geländer und ließ den Blick über den weiten Ozean schweigen.
"Ach ja?", fragte ich überrascht und er nickte ohne mich anzusehen.
"Das sieht man nicht häufig", meinte er dann und seine Mundwinkel zuckten amüsiert.
"Bist du schon mal auf einem Schiff gewesen?", wollte ich wissen, seinen Kommentar ignorierend.
"Klar. Sag bloß, du etwa nicht?"
"Ich... bin noch nie am Meer gewesen", gestand ich und konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie Kitsui mir einen ungläubigen Blick zuwarf.
"Noch nie?"
Ich schüttelte den Kopf und starrte wieder eine Weile schweigend hinab ins Wasser.
Mittlerweile waren wir schon so weit draußen, dass die Küste nur noch als schmaler Streifen am Horizont hinter uns zu erkennen war. Kitsui verschwand irgendwann wieder für einen Moment, kam dann jedoch zurück und gähnte ausgiebig, bevor er begann, zu sprechen.
"Masao-san sagte, dass die Fahrt wohl einige Tage dauern wird. Unter Deck gibt's eine Vorratskammer und auch eine Kajüte, wo wir in Ruhe schlafen können."
Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, mehrere Tage mit einem kleinen Schiff mitten auf dem Meer zu verbringen. Mit einem leisen Seufzen schloss ich die Augen.
Aber eine andere Wahl hatte ich jetzt wohl nicht mehr.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top