Kapitel 1 - Wo das Unheil beginnt...

Lauter Atem rasselte in Jonathans Kehle, als seine Beine ihn durch die verzweigten, leergefegten Gänge seiner High-School trugen.

Ein Blick links. Ein Blick rechts. Alles frei. Weiter laufen. Niemals stehen bleiben.

Einen Moment lang kämpfte Jonathan mit dem Verlangen, über seine Schulter zu sehen. Da war irgendetwas in ihm, das unbedingt wissen wollte, ob er auch heute einmal mehr von diesen geistesgestörten Schlägertypen verfolgt wurde, welche ihn für eine Art Beute zu halten schienen, die es zu jagen galt.

Just in diesem kurzen Moment der Achtlosigkeit, rammte Jonathan jemand von der Seite und stieß ihn mit voller Wucht gegen eine Reihe von dunkelgrünen Schülerspinden, die die Flure der Schule säumten.

»Hast wohl gedacht, du kommst vor deiner täglichen Tracht Prügel davon, hä, Nigger?«

Die Stimme seines jugendlichen Angreifers war so spöttisch und hasserfüllt, dass Jonathan einen Augenblick lang die Fäuste ballte. Dann hob er tapfer den Blick, um seinem Verfolger in die Augen blicken zu können. Heute würde er es schaffen und für sich selbst gerade stehen. Heute würde er endlich beweisen, dass er sich nicht länger von ihm unterdrücken ließ.

Doch noch bevor ihre Blicke sich trafen, schlug die Faust des viel kräftigeren, schwarzhaarigen Jungen in seine Magengrube und zwang ihn hustend und vor Schmerz keuchend in die Knie.

Lachend packte der Junge Jonathan im Genick und schleuderte ihn mit dem Gesicht voraus zu Boden, bevor er begann, mit seinen Gefolgsleuten wild auf ihn einzutreten.

Wimmernd kauerte sich Jonathan auf dem Boden zusammen und versuchte möglichst viele Tritte mit den Armen oder Beinen abzudämpfen, während er sich im Stillen eingestand, dass er diesem Wahnsinnigen wohl niemals entkommen würde.

Als die Jugendlichen nach unzähligen, schier endlosen Augenblicken endlich das Interesse verloren und sich mit siegreichen High Fives von ihm entfernten, erhob er sich und schleppte sich erschöpft in die Jungentoilette. Hauptsächlich, um sich schnell vor dem Unterricht das Blut aus dem Gesicht zu waschen, das bei der Schlägerei aus seiner Nase und aus seinem Mundwinkel geronnen war. Aber auch, um endlich einen Moment lang im Schutz der verschlossenen Toilettenkabine verschnaufen zu können.

Jonathan hatte schon lange keine Tränen mehr über das verloren, was Kyle Martens ihm täglich antat. Es war bereits eine tägliche Routine für ihn geworden.

Seinerseits Quarterback des Footballteams seiner Schule, hatte Kyle ihn ganz offensichtlich als sein persönliches Opfer auserkoren. Es war beinahe zu klischeehaft, um wahr zu sein.

Jonathan hatte sich schon oft gefragt, was ausgerechnet diesen arroganten Mistsack zum beliebtesten und am meisten bewunderten Schüler der gesamten Schule machte. Er konnte, außer seiner Sportlichkeit und seines Aussehens, einfach nichts an Kyle finden, das ihn auch nur in irgendeiner Weise zu einem Vorbild machte. Für wen auch immer.

Wahrscheinlich brauchte Kyle einfach den Kick, um sich mächtig zu fühlen. Und da Jonathan mit seiner recht schmächtigen Statur, seinen vorbildlich guten Noten und seiner stillen, in sich gekehrten Persönlichkeit für ihn das perfekte Opfer darstellte, hatte er in ihm die perfekte Partie gefunden.

Seufzend zog sich Jonathan die Kapuze seines Pullovers über den Kopf, als er sich auf zu seinem Klassenzimmer machte. Er wollte nicht, dass die Schüler auf dem Gang sahen, dass er wieder einmal zusammengeschlagen worden war. Sie würden ihn nur wieder auslachen oder ihn künstlich bemitleiden, um besser vor ihren Freunden dazustehen. Und Jonathan ertrug ihre falschen Mitleidsbekundungen einfach nicht mehr. Er wollte einfach seine Ruhe haben. War das denn zu viel verlangt?

Auf dem Weg zum Vertretungsplan, warf ihm ein Lehrer einen düsteren Blick zu. Es war verboten, Kopfbedeckungen im Schulhaus zu tragen. Das wusste eigentlich jeder.

›Heute ist es dir egal‹, dachte Jonathan, als ihre Blicke sich trafen. Der Lehrer senkte prompt den Blick und passierte Jonathan, als sei nie etwas gewesen. Nicht ein Wort des Tadels wandte er an ihn, obwohl das eigentlich seine Pflicht gewesen wäre.

Jonathan hatte diese eine Fähigkeit besessen, seit er denken konnte. Schon im Kindergarten hatten Menschen immer schon das getan, was er in Gedanken von ihnen verlangt hatte. Und solange er ihnen dabei in die Augen sah, konnte er ihnen so fast alles vorschreiben und sie taten es einfach, ohne nach dem Warum zu fragen.

Jonathan es so schon einige Male geschafft, Kyles täglichen Anschlägen zu entgehen. Doch heute hatte er den Blickkontakt nicht herstellen können. Und das war ihm wohl zum Verhängnis geworden.

Jonathan wusste nicht, wie er es machte. Er dachte einfach einen Gedanken und die Menschen um ihn herum taten, was er wollte. Es war beinahe unheimlich. Es war eine Gabe, die im selben Zuge nützlich, wie auch hochgefährlich sein konnte, wenn man sie nicht richtig einsetzte.

Noch als er im Kindergarten gewesen war, hatte er durch einen falschen Gedanken zwei beste Freunde dazu gebracht, sich gegenseitig so heftig zu streiten, dass einer den Anderen vom Klettergerüst gestoßen hatte, woraufhin dieser mit gebrochenem Oberschenkelhals ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Seitdem hatte dieser Junge Probleme beim Laufen und musste bei der Leichtathletik im Sport oftmals aussetzen, weil ihn seine Hüfte noch immer schmerzte.

Die Wochen darauf hatte Jonathan mit schweren Schlafstörungen und Albträumen zu kämpfen gehabt. Und als bekannt gegeben wurde, dass das Bein des verletzten Jungen nie hundertprozentig verheilen würde, hatte er sich geschworen, seine Fähigkeit nur noch dann einzusetzen, wenn er sie wirklich dringend benötigte. Und daran hatte sich Jonathan bis zu diesem Tag auch gehalten.

Doch mit seinem Wechsel auf die High School hatte sich das Blatt für ihn gewendet. Jonathan hatte vom ersten Tag an so gut wie keine Kontakte knüpfen können. Vielleicht, weil er Angst hatte, dass er vor Aufregung falsche Gedanken hegen und Menschen damit verletzen könnte. Vielleicht aber auch, weil er nicht die Art von Mensch war, der mit einem Grinsen im Gesicht auf neue Menschen zugehen und sich mit ihnen über Gott und die Welt unterhalten konnte, obwohl er sie gar nicht kannte. Er war einfach keine besonders charismatische Person. Jonathan war eher der Typ, der zeichnend in einer Ecke des Klassenzimmers hockte und den angeregten Gesprächen seiner Mitschüler lauschte. Dabei traute er sich jedoch nie, sich in ihre Gespräche einzuklinken, wenn er etwas zu dem Thema beizutragen hatte. Nein, er behielt e für sich, denn eigene Meinungen machten angreifbar.

Die Angst, etwas falsches zu sagen und ein anständliches, peinliches Schweigen auszulösen, war größer, als die Aussicht auf eine unterhaltsame Konversation.

Deshalb führte Jonathan eher ein introvertiertes, zurückgezogenes Einzelgängerleben. Er lernte viel und bot damit die perfekte Angriffsfläche für die coolen Kids, die Menschen wie ihn schnell als Streber abstempelten und dies als Rechtfertigung benutzten, seinen Kopf in eine Kloschüssel zu tunken, oder ihn auf dem Gang zu belästigen, wenn sie seinen Weg kreuzten.

Und zu Hause wurde der Zustand nicht zwingend besser. 

Schon oft hatten seine Lehrer sich erkundigt, ob bei ihm zu Hause alles in Ordnung sei, weil seine Eltern nie zu den Elternsprechabenden erschienen, doch Jonathan hatte sie dann immer geschickt angelogen und ihnen in Gedanken ein ›Ich sage die Wahrheit. Du glaubst mir‹ eingepflanzt.

Meistens hatten sich seine Lehrer daraufhin zufrieden lächelnd abgewendet und waren weiterhin ihrer Tätigkeit nachgegangen, ohne weitere, unangenehme Fragen zu stellen.

Jonathan wollte nicht, dass die Lehrer erfuhren, was mit seinen Eltern war. Sie beschämten ihn sogar so sehr, dass er nicht einmal täglich nach Hause zurückkehrte, um bei ihnen zu sein. 

Manchmal übernachtete er sogar einfach in der Schule und lernte. Er hatte große Pläne. Er wollte Ingenieur werden und für große Konzerne arbeiten. Er wollte aufsteigen und reich werden. Und im Moment sah es ganz danach aus, als liefen seine schulischen Leistungen auf ein Stipendium für eines der angesehensten Colleges in ganz Amerika hin.

Innerlich fieberte Jonathan bereits seinem Senior Year entgegen und tat alle in seiner Macht stehende, um das Stipendium auch zu bekommen.

Doch zuerst kam Englisch...

Am Vertretungsplan angelangt, suchte er nach dem Raum, in dem er die nächste Unterrichtsstunde hatte und da Mr. Beckett, der Englischlehrer erkrankt war, wurde die Stunde heute von einem gewissen Professor T. Sullivan vertreten. Sie schrieben heute ein Examen, daher versprach es eine recht angenehme Stunde zu werden.

Der Vertretungslehrer war Jonathan nicht bekannt, doch das wunderte ihn nicht. Zu Beginn der Semester wurden immer wieder neue Lehrer eingestellt. Wahrscheinlich war er einfach noch nicht lange hier.

Seufzend rückte der schlaksige Bursche die Umhängetasche auf seiner Schulter zurecht und machte sich auf zu dem Raum, der auf dem Vertretungsplan angegeben war. Im Kopf ging er noch einmal die wichtigsten Punkte zu ihrer Schullektüre, Macbeth, durch, die er sich notiert hatte.

Macbeth war ein heldenhafter General und Verfechter des Guten, bis er von den drei Hexen verführt wurde, die ihm eine verlockende Zukunft prophezeiten. Um an Macht zu gelangen, ging er schließlich so weit, dass einen Mordanschlag auf den König plante und ausführte. Als der König tot war, wurde Macbeth von den Hexen prophezeit, dass sein bester Freund die letzte Hürde für ihn war, um zum König aufzusteigen. Daraufhin brachte er auch diesen um und wurde schließlich von seinem ehemaligen Generalskameraden MacDuff im Zweikampf aus Rache erschlagen, weil MacBeth dessen Frau und Kind ermorden lassen hat.

Mit einem hoffnungsvollen Seufzer suchte Jonathan den Raum auf und setzte sich in hinterster Reihe an den äußersten Rand der Sitzreihen, wo er niemanden störte. Sofort begann er damit, sein Schulzeug auf seinem Tisch zu sortieren, damit er gleich loslegen konnte, sobald die Aufgaben vor ihm auf dem Tisch lagen.

›Mann, ich bin wirklich ein Streber‹, tadelte er sich lächelnd in Gedanken versunken, lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Mit der Zeit füllte sich der Raum zusehends und schließlich saß jeder Schüler auf seinem Platz. Jeder, bis auf Kyle, der offenbar eine andere Klassenarbeit unter Professor Sullivans Aufsicht nachschreiben musste und der nun mit ihm in einem Raum war. Jedenfalls hatte er in dieser Klasse eigentlich nichts verloren, da Kyle eigentlich eine Klassenstufe über ihm war.

Mit einem unangenehmen Gefühl der Angst, kauerte Jonathan sich in seiner persönlichen, kleinen Ecke zusammen, doch es war bereits zu spät. Kyle hatte ihn gesehen und ließ sich schwungvoll auf den Stuhl neben ihn plumpsen, bevor er Jonathans Mäppchen von seinem Tisch klaute, dessen Inhalt über den kompletten Boden verstreute und schließlich, unter dem Gelächter der restlichen Klasse, mit den Füßen quer durch das gesamte Zimmer kickte.

Jonathans verzweifelte Versuche, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, erwiesen sich als erfolglos. Kyle grinste, als ihm die Mitschüler Beifall johlten - bis zu dem Moment, in dem Professor Sullivan, überraschend pünktlich für einen Vertretungslehrer, den Raum betrat und mit einem beherzten Schwung seine Aktentasche auf das Lehrerpult knallte.

»Jesses Maria! Was ein Tumult hier? Na? Hast du Spaß, Martens?«

Kyle hielt plötzlich inne, richtete sich auf und grinste Professor Sullivan einen Moment lang dümmlich an, bevor er sich zurück auf seinen Platz setzte, als wäre alles in bester Ordnung. Offenbar kannten sich die beiden bereits.

Professor Sullivan war ein recht ulkiger Kauz in den Mittfünfzigern, mit lockigem, blonden Haar. Er trug einen flotten, dunklen Anzug mit einer schwarzen Fliege und blickte dabei aufmerksam über seine kleine, sichelmondförmige Brille, die vorne auf seiner kurzen, spitzen Nase saß und das Bild von einem verrückten, alten Professor neckisch ergänzte.

Für sein Alter hatte er sich erstaunlich gut gehalten. Jonathan hätte ihn eher auf Mitte vierzig geschätzt. Später sollte er jedoch erfahren, dass er mit seiner ersten Einschätzung falsch gelegen hatte.

»Das waren Zeiten, als sich Mobbingopfer noch gegen eine solche Behandlung gewehrt haben, was?«, seufzte der Professor, klatschte nach dem Tafelanschrieb in die mit Kreidestaub verklebten Hände und lehnte sich dann mit überschlagenen Beinen an die Kante des Lehrerpultes, um dann mit kühlen, eisig grauen Augen in die Klasse zu blicken. Diese musste daraufhin schweigend dabei zusehen, wie er eine Packung Zigaretten aus seiner Jackettasche kramte.

Jonathan konnte nicht fassen, dass dieser Typ es einfach ignorierte, dass Kyle vor seinen Augen einen seiner Schüler nach Strich und Faden verarschte. Gerade als Lehrer war es doch seine Pflicht, für seine Schüler zu sorgen und sich darum zu kümmern, dass Rüpel, wie Kyle, nicht aus der Reihe tanzten.

»Rauchen ist in der Schule verboten!«, blaffte Judith, die vorlaute Klassenstreberin sofort durch ihre riesige Zahnspange, als sie beobachtete, wie Professor Sullivan eine der Zigaretten aus der Schachtel zog und sie vor sich in die Luft hielt. Doch der alte Mann ignorierte sie gekonnt und fixierte Kyle mit seinen kalten Augen, die Jonathan einen Moment lang einen Schauer über den Rücken gleiten ließen.

»Rauchst du?«, fragte Professor Sullivan ruhig, während Kyle sich verunsichert grinsend nach seinen ebenso verwirrten Klassenkameraden umschaute und schließlich nickte.

»Dann komm!«, brummte der Vertretungslehrer freundlich, streckte die Zigarette vor sich aus und winkte damit, um Kyle zum Aufstehen zu bewegen. Jonathan duckte sich tiefer hinter seinen Tisch. Was wollte dieser verrückte alte nur von ihnen? Sie sollten ein Examen schreiben und keine Psychospielchen spielen.

»Na komm!«, forderte Professor Sullivan Kyle erneut auf. »Ich werde dich schon nicht beißen.«

Zögernd erhob sich Kyle und stakste mit angespannten Schultern bis nach vorne an das Lehrerpult, wo er nach der Zigarette griff, die der Professor ihm angeboten hatte.

In diesem Moment ließ sich der neue Vertretungslehrer von der Kante des Pultes gleiten und richtete sich vor Kyle zu voller Größe auf. Obwohl er selbst dann noch zwei Köpfe kleiner war, als sein Gegenüber. Kyle war gelinde ausgedrückt ein Hüne von einem Kerl. Da konnte Professor Sullivan einfach nicht mithalten, was den alten Mann jedoch überhaupt nicht zu stören schien.

Doch ganz offensichtlich schien dieser dem vorlauten Burschen ordentlich Respekt eingeflößt zu haben, denn Kyle stand starr, wie eine Salzsäule, mit der Zigarette in der Hand und rührte sich nicht.

»Danke«, murmelte er schnell, bevor er sich umdrehen und zu seinem Platz laufen wollte, doch Professor Sullivan steckte nur beide Hände in die Hosentaschen und grinste verschwörerisch.

»Wir wissen beide, das Rauchen auf dem Schulgelände streng verboten ist, Martens. Oder täusche ich mich?«

Kyle drehte sich abrupt mit der Zigarette in der Hand um und bemerkte nur noch, wie Professor Sullivan ihn flink mit seinem Smartphone fotografierte.

Ein raunendes Kichern ging durch die Reihen, als die Schüler bemerkten, dass der Vertretungslehrer Kyle ganz offensichtlich übers Ohr gehauen hatte. Die Schüler mochten die Vorführung witzig finden, doch die Züge des Alten zeugten von völliger Ernsthaftigkeit, während er Kyle einen vernichtend scharfen Blick zuwarf.

»Und jetzt räumst du gefälligst die Sauerei auf, die du gemacht hast, sonst gibt es einen Verweis von der Schulleitung!«

»Das können Sie nicht!«, brüllte Kyle plötzlich so zornentbrannt, dass einige Mitschüler ihm verängstigte Seitenblicke zuwarfen. »Sie haben mich doch dazu verleitet!«

»Ach, dann hast du die Zigarette also nicht freiwillig entgegen genommen?«

Kyle schnappte nach Luft, als er zu einem Veto ansetzte, dann überlegte er es sich jedoch anders und begann murrend, die Stifte aus Jonathans Mäppchen einzusammeln, die überall im Raum verstreut lagen.

»Blödes Arschloch!«, grummelte er leise vor sich hin, während Professor Sullivan die Arbeitsblätter für die Klausur austeilte.

»Na, na! Das will ich überhört haben!«, flötete der Lehrer dem Jungen über die Schulter zu, der nur stöhnend die Augen verdrehte, Jonathan genervt die Stifte auf den Tisch klatschte und sich schließlich wieder auf seinen Platz setzte.

»Na also! Braver Junge! Bin stolz auf dich«, schnurrte Professor Sullivan fröhlich und wuschelte Kyle einmal herzhaft durch die frisch gestylten Haare, als er ihm grinsend sein Aufgabenblatt über die Schulter reichte.

»Hier, nur für dich, Großer. Aber nicht alles auf einmal zu Papiersternchen schnippeln, ja? Ich will mindestens noch einen Papierflieger sehen.«

Professor Sullivans Stimme triefte vor Sarkasmus. Wenn Blicke hätten töten können, wäre der verrückte Vertretungslehrer nun gevierteilt, mit einen Gartenhäcksler geschreddert, verbrannt und über den Weiten des Atlantiks verstreut worden. Doch zum Glück befanden sie sich alle noch immer hier in dem kleinen Klassenzimmer, in dem Jonathan sich gerade, tief im inneren ins Fäustchen lachte, dass der arrogante Kyle endlich einmal eine Retourkutsche für seine Taten erhalten hatte.

Als Professor Sullivan Jonathan sein Aufgabenblatt auf den Tisch klatschte und ihm im Vorbeigehen wortlos die Kapuze vom Kopf zog, bohrten sich seine Augen so tief in Jonathans Kopf, dass er ein merkwürdiges Rauschen in seinen Gedankengängen vernahm. Das war unüblich, denn gewöhlicherweise waren die Gedanken anderer Menschen nie so klar und geordnet, dass Jonathan gerade gerichtete Ströme wahrnehmen konnte.

Es war, als würden Hände in seinem Verstand wühlen, seine Gehirnwindungen ausquetschen und ihnen Informationen entreißen, die sich irgendwo, tief in seinem Kopf befanden.

Als die Augen des Vertretungslehrers sich daraufhin überrascht weiteten, begann Jonathan stumm zurück zu starren und schickte ihm in Gedanken:

›Dieser Junge ist nichts Besonderes. Du hast eine wichtigere Aufgabe zu erledigen.‹

Professor Sullivan schüttelte daraufhin nur verwirrt den Kopf, wandte den Blick ab und drehte sich um. Dann ging er eins, zwei Schritte auf das Lehrerpult zu, bevor er stehen blieb, sich perplex zuckend aufrichtete und noch einmal über die Schulter zu Jonathan schielte, dem vor Schreck das Blut in den Adern gefror.

In all den Jahren, in denen er seine Fähigkeit genutzt hatte, hatte es noch keinen Menschen gegeben, der begonnen hatte, einen von Jonathans Befehlen zu befolgen und diesen dann mitten in der Ausführung abgebrochen hatte.

Es schien beinahe, als ob der Lehrer schon nach kurzer Zeit bemerkt hatte, dass der Gedanke, der ihn zum Gehen bewegt hatte, gar nicht sein eigener gewesen war, sondern vielmehr ein fremdes Saatgut, welches Jonathan ihm wie ein Parasit in den Kopf eingepflanzt hatte.

Professor Sullivan nickte kurz, während er noch immer mit dem Rücken zur Klasse stand und dann endlich begann, die Arbeit zu erledigen, die ihm von Beginn an aufgetragen worden war.

»Also, ich weiß, dass es einige von euch wahrscheinlich eher peripher tangiert, welche Noten sie in diesem Examen mit nach Hause bringen!«, Professor Sullivan warf Kyle einen zynischen Seitenblick zu, der wütend grunzend die Hände zu Fäusten ballte. »Aber für die, denen es nicht scheißegal ist, dass die Noten in ihrem Abschlusszeugnis der High School enorm wichtig für ihre weitere, berufliche Laufbahn sind: Lass euch gesagt sein! Ich höre es, wenn ihr schummelt! Also denkt gar nicht dran, bei eurem Neben Nebensitzer zu spicken. Lasst am besten eure Spickzettel in euren Mäppchen, auf euren Trinkflaschenetiketten oder auf euren Handgelenken gleich verschwinden. Ich finde es heraus! Wer beim Schummeln erwischt wird, bekommt traditionell sofort eine Sechs und einen Vermerk im Klassenbuch. Auch, wenn ich einigen von euch Kleingeistern zutraue, dass sie meine Drohung nicht ernst nehmen, glaube ich, dass ihr doch ganz aufrichtige Menschen seid. Aber wenn ihr wollt, versucht es nur! Wir werden sehen, ob ihr so clever seid, für wie ihr euch haltet.«

Ein unangenehmes Murmeln ging durch die Reihen, während die Hälfte der Klasse schnell ihre präparierten Lineale, Füllerkappen oder Trinkflaschen in ihren Schultaschen verschwinden ließen.

Mit einem Anflug von Euphorie klatschte Professor Sullivan daraufhin in die Hände und verkündete damit, dass das Examen nun beginnen konnte.

Doch so sehr Jonathan sich auch bemühte, sich zu konzentrieren. Ihm ging immer das Gefühl durch den Kopf, das ihn erfasst hatte, als der Vertretungslehrer ihm an diesem Tag in die Augen geblickt hatte.

Hatte dieser Mensch vielleicht auch eine ähnliche Fähigkeit, wie er? War er doch nicht allein mit seinem Leid auf der Welt?

Alles in Jonathan sträubte sich gegen den Gedanken, den schrägen, alten Mann nach dem Examen einfach darauf anzusprechen. Denn, was wäre, wenn er doch einfach nur ein verrückter, alter Mann war?

Er hätte diesem Kerl zugetraut, dass auch er seine bestimmten Lieblingsschüler und Sündenböcke hatte, die er es auch spüren ließ, wie sie bei ihm standen. Genau wie Kyle an diesem Tag.

Bei dem bloßen Gedanken daran, zog sich Jonathan der Magen zusammen.

Kyle würde das gewiss nicht auf sich sitzen lassen. Und ganz bestimmt würde er wieder Jonathan dafür die Schuld in die Schuhe schieben, weil er es ja gewesen war, wegen dem er von Professor Sullivan dermaßen bloßgestellt worden war. Auch, wenn er es sich genau genommen selbst zuzuschreiben hatte.

Doch was erwartete man denn auch von einem Kerl, der sich mit Steroiden vollpumpte, um seinen von den Mädels begehrten Körper in Form zu halten? Kyle war die Verkörperung des Sprichwortes: Viel Muskeln, wenig Hirn. Und dank der Steroide würde er sich sicherlich bald auch noch König von Schrumpfklöte taufen können. Aber das sagte ihm Jonathan lieber nicht ins Gesicht.

Bei dem Gedanken daran musste Jonathan grinsen und erwischte sich dabei, wie er zu Professor Sullivan blickte, der ihn offenbar die ganze Zeit aus der Ferne beobachtet hatte.

Der alte, blonde Lockenkopf hielt sich gerade schmunzelnd die Hand vor den Mund und wandte dann den Blick wieder ab, als er bemerkte, dass Jonathan von seiner Beobachtung Notiz genommen hatte. Komischer Kerl.

Der Rest des Examens verlief im Folgenden relativ reibungslos und als Jonathan schließlich den Stapel Papier auf dem Lehrerpult ablegte, entfuhr ihm ein erleichtertes Seufzen.

Er hatte seine Konzentration tatsächlich zurückerlangen und damit seine Note in Englisch retten können. Jetzt konnte er beruhigt schlafen gehen.

Als er an Professor Sullivan vorbei aus dem Klassenzimmer schlich, warf er dem Vertretungslehrer einen misstrauischen Blick über die Schulter zu, nur um zu bemerken, dass der alte Mann ihn schon wieder angestarrt hatte.

Jonathan lief ein kalter Schauer über den Rücken, was ihn in seiner Entscheidung bestärkte, Professor Sullivan nicht auf die merkwürdigen Ströme anzusprechen, die in seiner Nähe durch seinen Kopf rauschten. Dennoch konnte er tief in dem Mann spüren, dass er ein Geheimnis verbarg, welches er nicht preisgeben wollte.

Und das machte ihn stutzig. Denn, was für ein Mensch dieser Professor Sullivan auch immer sein mochte. Gewöhnlich war er ganz gewiss nicht. Er faszinierte Jonathan auf dieselbe Art und Weise, wie er ihm Angst einjagte. Und das verwirrte ihn.

Mit einem unguten Gefühl ging Jonathan nach dieser Vertretungsstunde nach Hause, wo sein Vater einmal mehr ihren Rausch ausschlief. Vorsichtig nahm er ihm die Bierdose aus der Hand, deckte ihn zu und schaltete dann die Glotze ab, auf der irgendeine Dauerwerbesendung lief, die er wohl bis vor wenigen Stunden noch verfolgt hatte. Von seiner Mutter war mal wieder keine Spur. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder einen ihrer Ausfälle und verzockte ihr gesamtes Monatsgehalt beim Glücksspiel.

 Seufzend warf sich Jonathan auf sein Bett und steckte dann seine Nase erneut in seine Schulbücher, um auf das Mathematikexamen zu lernen, das schon in zwei Wochen anstand.Immer wieder glitten seine Gedanken jedoch zu den Vorkommnissen des heutigen Tages. Dieser Professor hatte etwas an sich gehabt. Etwas, das Jonathan sich zwar erklären , jedoch irgendwie nicht glauben konnte.

Er war sich sicher, dass es nicht bei dieser einen Begegnung bleiben würde. Tief im Inneren hoffte, er, dass er Professor Sullivan wiedersehen würde, während eine andere Seite in ihm dagegen rebellierte und ihm riet, sich dringend von diesem Mann fern zu halten.

Doch dazu war Jonathan viel zu fasziniert. Mit einem erschöpften Seufzen ließ er sein Schulbuch bereits nach kurzer Zeit auf seinen Kopf sinken und schloss die Augen.

Er war nicht allein. Da war er sich sicher.

Diese Sicherheit gab ihm in diesem Moment enorme Kraft. Und zum ersten Mal seit vielen Monaten schlief er traumlos, die gesamte Nacht hindurch, bis ihn sein Wecker am nächsten Morgen aus den Federn riss, um seinen Albtraum ein weiteres mal von vorne beginnen zu lassen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top