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Das erste Mal, dass Seungmin seine Entscheidung mit Minho zu reisen wirklich bereut, ist, als er nachts eingewickelt in seinem Schlafsack unter einem Felsvorsprung sitzt und nicht weiß, wie er sich von seiner Angst ablenken soll. Minho hatte die geniale Idee eine Nachtwache einzuführen. Er hatte dabei anscheinend vergessen, dass Seungmin ein ernstzunehmendes Angstproblem hat, denn anstatt die erste Schicht zu übernehmen und Seungmin zumindest ein bisschen Angst zu nehmen, hat er sich einfach schlafen gelegt. Ohne nach Seungmins Meinung gefragt zu haben.
Aber was hat Seungmin sich auch erhofft? Seit sie heute -viel zu früh Seungmins Meinung nach- aufgebrochen waren, hatte Minho kaum noch ein Wort mit ihm gewechselt. Seungmin weiß nicht einmal, wo genau sie hingehen. Jeder Versuch ein Gespräch zu beginnen war erfolglos geblieben oder hatte höchstens eine kurze, sehr schroffe Antwort aus Minho herausgelockt. Gut, Seungmin muss zugeben seine Laune war auch nicht die Beste gewesen. Er hatte die Nacht vorher sehr schlecht geschlafen. Immer wieder war er aus einem seiner vielen Albträume hochgeschreckt und musste sich dann erstmal wieder beruhigen, bevor er sich wieder hinlegen konnte. Es war wie ein endloser Zyklus, der durch Minhos Anwesenheit deutlich verschlimmert wurde. Da half es auch nicht, dass die beiden durch Minhos Verletzung nicht mal schnell vorankamen. Minho hatte sich die ganze Zeit an Seungmins Arm gekrallt und nach jedem Schritt hatte es sich so angefühlt, als wolle Minho ihn ein wenig mehr herausreißen. Es ist fast so, als ob Minho alle seine Probleme auf Seungmin schiebt. Der andere ist frustriert, das versteht Seungmin auch. Aber Seungmin will nicht das Opfer dieser Frustration werden. Er will nichts damit zu tun haben.
Ein lautes Knacken aus dem Wald lässt Seungmin zusammenzucken. Es ist seine Aufgabe aufzupassen, dass sich keine Mindless ihrem Lager nähern. Nur weiß Seungmin auch noch nach Jahren der Apokalypse nicht wirklich, wie genau das eigentlich geht. Er war nie mit anderen Personen unterwegs gewesen und wenn doch, nur tagsüber. In der Nacht hatten sie sich immer eine sichere Unterkunft gesucht. Das hier ist alles andere als sicher. Sie hatten sich so nah wie möglich an einer Felswand niedergelassen, kein Feuer gemacht und auch sonst alle unnötigen Geräusche vermieden. Minho liegt direkt neben Seungmin zusammengerollt in seinem Schlafsack. Auch jetzt ist er komplett geräuschlos, wie er da so schläft. Es wirkt fast friedlich.
Aber das bleibt nicht so und Seungmin weiß es.
Allgemein fühlt sich diese ganze Situation nicht friedlich an. Der Wald um Seungmin herum ist groß und bedrohlich. Seungmin ist dagegen ganz klein und unbedeutend. Bevor Minho schlafen gegangen ist, hat er Seungmin noch ein Messer in die Hand gedrückt. Das hält Seungmin in seinem Schlafsack jetzt fest umklammert. Er hat Angst, da scheint kein Weg drum herumzuführen. Seungmin wäre jetzt lieber in seiner kleinen Hütte am Berghang. Ganz abgeschottet von allem und jedem. Es ist so unfair, dass Seungmin jetzt hier feststeckt. Die Welt ist so unfair. Dann wiederum, war die Welt jemals fair gewesen? Selbst vor dem Wandel, der Apokalypse, hatte es nicht wirklich Fairness gegeben. Reiche Menschen, die sich an dem Leiden anderer Menschen bereicherten, Menschen, die andere, wegen ihres Geschlechtes und/oder sexuellen Präferenz ausschlossen wurden, Krieg, Oppression. All das war natürlich nicht weggegangen. In den Lagern, in denen Seungmin sich länger aufhalten musste, hatte es Rangordnungen gegeben, Unterdrückung, sexuelle Misshandlung und Missbrauch, Homophobie, Sexismus, -. Seungmins Nackenhaare stellen sich bei dem Gedanken auf, dass er höchstwahrscheinlich wieder auf dem Weg zu einem Lager ist. Er hasst diese Orte.
Als Seungmin anfängt sich einzubilden, dass eine allzu bekannte Person zwischen den Bäumen hervortritt, entscheidet er sich Minho aufzuwecken. Der Mond steht hoch am Himmel, er ist sich sicher, dass die Hälfte der Nacht vorbei ist. Selbst wenn nicht, er hält es hier nicht mehr aus. Er darf nicht mehr über Lager nachdenken, nicht, wenn diese Person da vorne neben dem Baum steht und ihn mit schräg gelegtem Kopf beobachtet.
„Minho“, flüstert er panisch. Seine Stimme bricht in der Mitte des Wortes, sodass es eher, wie ein gequietschtes „Min“ klingt. Das interessiert Seungmin aber nicht. Minho rührt sich nicht. „Minho“, versucht er es nochmal etwas lauter. Immer noch nichts. Beim nächsten Versuch stößt er Minho an. „Minho, bitte wach auf.“ Er klingt jetzt sehr verzweifelt. Wie soll er aber auch nicht? Es sieht immer noch so aus, als stände die Person da und Seungmin ist sich nicht sicher, ob das real ist. Diesmal regt sich Minho ein bisschen. Er murmelt etwas vor sich hin, das Seungmin aber nicht versteht. „Bitte, können wir uns abwechseln. Ich schaffs nicht mehr.“ Langsam setzt sich Minho auf. Er wirkt noch sehr verschlafen. „Das ist doch nicht real, oder?“, fragt Seungmin den anderen nach einem Moment voll Stille. Minho schaut in die Richtung, in die Seungmin zeigt, kneift die Augen zusammen, reibt sie sich, schaut dann nochmal. Seungmin macht das Angst. „Was denn?“, fragt Minho dann. Erleichtert seufzt Seungmin auf. „Nichts“, antwortet er. Als er in die Richtung der Person schaut, ist da auch nichts mehr. „Na los, gib mir das Messer, dann kannst du schlafen.“ Minho streckt die Hand in Richtung Seungmin aus. Seungmin gibt ihm das Messer.
Dann sitzen sie beide in Stille gegen den Felsen gelehnt. Seungmin weiß nicht, ob er jetzt schlafen kann. Er will jetzt wirklich nicht allein sein. Minho und er kennen sich nicht. Sie sprechen ja nicht mal wirklich miteinander. Aber einer Sache ist Seungmin sich inzwischen einigermaßen sicher: Minho will ihm nichts antun. Seungmin vertraut ihm zwar nicht, aber zumindest tut es ihm gut zu wissen, dass er gerade von dem anderen nichts befürchten muss.
„Willst du nicht schlafen? Dann würd ich mich wieder hinlegen-“, fängt Minho nach einiger Zeit wieder an. „Nein, nein, sorry“, unterbricht Seungmin ihn.
Er rollt sich in seinem Schlafsack auf dem Boden zusammen. Es ist nicht besonders warm oder bequem, aber Seungmin ist nichts anderes gewöhnt. Was er auch gewöhnt ist, sind die Schatten der Albträume, die ihn heimsuchen, sobald er seine Augen schließt.
Die Angst ist wirklich das Unfairste, was Seungmin kennt.
☆
„Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragt Seungmin nervös. Er blickt hinunter auf ein kleines Städtchen. Naja, ob man es als Stadt bezeichnen kann, weiß Seungmin gar nicht. Es gibt fünf größere Häuser, die umgeben von Zelten und Ständen sind. Es sieht fast so aus wie ein Zirkus. Das Ungewöhnlichste daran ist, dass sich zwischen den Zelten mehrere Menschen aufhalten. Zu viele Menschen für Seungmins Geschmack. „Hast du eine bessere Idee?“, fragt Minho genervt zurück und zieht Seungmin fast schon den Hügel hinunter. Er scheint keine Antwort zu erwarten. Auch mit Recht, denn Seungmin hat definitiv keine bessere Idee.
Ihre Vorräte sind aufgebraucht. Seungmin waren seine schon vor zwei Tagen ausgegangen, aber Minho hatte mit ihm geteilt. Jetzt waren aber auch Minhos Vorräte alle und sie hatten sich auf den Weg zu einem Markt gemacht. Es war Minhos Idee gewesen und er hatte, wie so häufig, nicht mit sich reden lassen. Nicht mal auf Fragen antwortete er. Seungmin hatte es auf dem Weg häufiger probiert herauszufinden, was genau das für ein Markt war, woher Minho ihn überhaupt kannte oder ob das ganze sicher war, aber Minho hatte entweder gar nichts gesagt oder ganz knappe Antworten gegeben.
Das war allgemein auch nicht besser gewesen. Sie sind jetzt schon fünf Tage unterwegs, wenn Seungmin sich nicht verzählt hat und haben immer noch nicht viel miteinander gesprochen. Am ersten Tag hatte Seungmin es noch in Ordnung gefunden, aber inzwischen ist die Stimmung einfach nur noch angespannt und unangenehm. Und, Seungmin weiß immer noch gar nichts darüber, wo genau sie hingehen. Es ist aber auch einfach so komisch. Die beiden verbringen all ihre Zeit zusammen, aber wissen gar nichts übereinander. Seungmin darf sich darüber aber nicht zu viele Gedanken machen, sonst kriegt er wieder Angst.
Jetzt wo Seungmin sich dem Markt nähert, fühlt er sich noch unsicherer als zuvor. Das alles gefällt ihm gar nicht. Einige Menschen haben sie schon bemerkt und mustern sie mit einem misstrauischen Blick. Das scheint Minho aber gar nicht zu interessieren. Er geht zielgerichtet an ihnen vorbei. Also eigentlich schiebt er Seungmin soweit es ihm sein verletztes Bein erlaubt. Seungmin wäre am liebsten wieder gegangen. Der Markt ist nicht besonders schön. Die Menschen, die hier sitzen und Waren verkaufen, sehen alles andere als vertrauenswürdig aus. Das liegt aber auch daran, dass es alles gibt. Von Waffen, wie Gewehre und Pistolen, über Essen, wie Öle, Salz und Zucker, bis hin zu Kleidung, die hochwertig und so gut wie neu aussieht. Alles ist mit dabei. Seungmin kann es gar nicht wirklich glauben. Wo haben diese Leute all diese Sachen her?
„Willst du denn gar nichts kaufen?“, raunt Seungmin Minho nach einer Weile über den Markt laufen zu. Sie sind kein einziges Mal stehen geblieben, um mit einem der Verkäufer*innen zu sprechen. „Wieso sollte ich?“, raunt Minho zurück und zeigt Seungmin seine Tasche vorsichtig. In ihr befinden sich einige Lebensmittel von Ständen, an denen sie vorbeigegangen sind. „Das kannst du doch nicht machen. Die Leute hier brauchen auch was zum Überleben“, sagt Seungmin wahrscheinlich ein wenig zu laut. Einige Leute drehen sich wieder misstrauisch zu ihnen um. Minho beschleunigt ihr Tempo ein wenig (so schnell er eben kann). „Nicht so laut. Die mögen Leute, wie uns, hier absolut nicht.“ Was meint Minho denn damit? „Und hast du was zum Bezahlen? Die akzeptieren hier nur hochwertige Materialien im Tausch und ich bezweifle, dass du davon genug hast. Kannst dich ja nicht mal selber vernünftig verteidigen.“ Argwöhnisch mustert Minho die Gegend, bevor er sich ein Brot von einem Stand nimmt und dann zügig Seungmin weiterzieht. Seungmin lässt das trotzdem nicht auf sich sitzen. „Entschuldige mal, wer hat dich denn gerettet? Ich finde, ich kann mich gut genug selbst verteidigen. Und woher soll ich all das wissen, wenn du meine Fragen nicht beantwortest?“ Minho schaut ihn von der Seite so an, als hätte Seungmin etwas sehr witziges gesagt. „Hast dus nach keine Ahnung wie vielen Jahren Apokalypse denn immer noch nicht verstanden? Je weniger man weiß, desto besser. Wer weiß, vielleicht bist du morgen tot und ich kann dann einfach mein Ding weiter machen, weil ich dich nicht gut genug kannte, um traurig zu sein.“ Wieder einmal nimmt er sich unauffällig etwas zu Essen vom Stand neben ihnen. Er scheint sehr trainiert zu sein, denn diesmal sieht Seungmin gar nicht genau, was es ist. Diesmal weiß Seungmin aber auch gar nicht, wie er antworten soll. Denn doch, das hat er gelernt, das wird er Minho nur ganz bestimmt nicht sagen. „Ich wusste nicht, dass sich das auch auf öffentliche Märkte bezieht. Was würde denn dieser Markt schon über dich aussagen?“ „Nichts“, antwortet Minho schulterzuckend. „Aber das ist doch genau der Punkt. Nach allem, was du über mich weißt, könnte ich auch ein geheimer Mafia Boss sein.“ Leicht muss Seungmin darüber schmunzeln. „Also bist du das nicht?“ Minho grinst ihn schief an. „Wer weiß.“
Nach einiger Zeit lassen sich die beiden auf einem Mauerüberrest in der Nähe eines Hauses nieder. Minho braucht eine Pause. Sein Bein scheint ihm immer noch sehr zu schaffen zu machen und die vielen Tempowechsel haben da wahrscheinlich nicht wirklich geholfen. Nach einiger Diskussion haben sie sich außerdem darauf geeinigt zumindest ein paar Lebensmittel einzutauschen, damit sie nicht allzu verdächtig aussehen. Deswegen ist Seungmin dabei seinen Rucksack zu entleeren, als er sie sieht.
Sie ist Vorgesetzte Haas und erinnert Seungmin an Zeiten, an die er sich nicht erinnern will. Sie macht Seungmin so unfassbare Angst, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Das konnte sie immer schon am besten. Vollkommene Kontrolle über Seungmins Körper haben. Sollte
sie ihn sehen, ist er geliefert. Dann kommt er zurück an diesen schrecklichen Ort. Denn
sie bekommt, was sie will. Und das ist jetzt ganz bestimmt Seungmin. Seungmin wollte
sie nie wieder sehen. Als ihr Blick in Seungmins Richtung schweift, wird ihm ganz schwindlig.
„Seungmin?“ Minho erlöst Seungmin aus seiner Starre. „Minho, wir müssen weg“, ist alles, was Seungmin herausbekommt. Seine Stimme ist extrem heiser. Hat er gerade die ganze Zeit nicht geatmet? Panisch greift er nach seinem Rucksack. Zeit zum Aufsammeln der Sachen, die er zum Handeln vorgeschlagen hat, hat er nicht. „Wir müssen weg“, wiederholt er und greift nach Minhos Arm. „Sollten wir nicht zumindest die Sachen mitnehmen?“, fragt dieser, als sei alles ganz normal. Ein Blick in ihre Richtung: Sie ist verschwunden. Panisch schüttelt Seungmin den Kopf und fängt an Minhos Arm zu ziehen. „Wir müssen weg“, wiederholt er nun schon zum dritten Mal. Er ist den Tränen nah. „Na gut, meine Güte“, sagt Minho. In Seungmins Kopf dreht sich alles um sie. Wie kommt er hier so schnell wie möglich raus ohne aufzufallen? Und das ohne Minho Schmerzen zuzufügen. Was wenn sie am Eingang auf ihn wartet? Was wenn sie ihn doch gesehen hat?
„Hey, du musst noch weiter Atmen. Nur so als Erinnerung.“ Seungmin schnappt nach Luft, vergisst sich aber sofort wieder. Wie weit ist es noch bis zum Ausgang? Hat er Minho jetzt in sein ganzes Dilemma mit hineingezogen? Wird er sie denn nie los? Er dachte die Mindless hätten das für ihn übernommen. Er wollte sie nicht wiedersehen. Er wollte alles aus diesem Lager vergessen. Warum ist sie also immer noch so präsent in seinem Kopf? Warum klingt ihre Stimme immer noch so klar in seinen Ohren? „Seungmin, steh gerade. Was soll denn dieser Gesichtsausdruck?“ War das jetzt Minho oder sie? Ist es wirklich schon so weit gekommen? Ist er wieder da? Wo ist er? Warum fühlt sich sein rechter Arm so schwitzig an? Und warum tut er weh? Ist es schon so weit gekommen?
Erschrocken reißt Seungmin die Augen auf und schaut sich panisch um. Er ist einem Wald. Allein. Nein, nicht ganz. Minho ist rechts von ihm und hält seinen Arm umklammert. Sie hocken auf dem Boden. „Seungmin, du musst Atmen“, Minho klingt verzweifelt. Aber vielleicht bildet Seungmin sich das auch nur ein. Er versucht sich die Atemübung wieder in den Kopf zu rufen, aber das Ringen in seinen Ohren ist zu laut und sein Kopf ist zu voll mit Bildern, die er nicht sehen will. Heiße Tränen laufen seine Wangen hinab, als er vergeblich nach Luft schnappt. Alles fühlt sich so eng an, fast so, als wäre er wieder da. Eingesperrt in seinem kleinen Raum. Kein Licht. Nur er und die Spinnen. Dann wird das Ringen in seinen Ohren durch eine leise Melodie ersetzt. Sie ist wackelig, aber Seungmin kennt das Lied. Er versucht sich ganz auf die Melodie zu fokussieren. Er fängt an im Rhythmus zu atmen, geht ganz in der Musik auf, während sie lauter wird und die Bilder überdeckt. Zuletzt findet Seungmin sich, wie er leise den Text mitsingt. Er kann sich nicht mehr an den Namen erinnern. Das wundert ihn ein wenig, denn es gab mal eine Zeit da hat Chan das Lied rauf und runter gehört. Jisung und Seungmin mussten immer mithören. Seungmin kann sich an unendlich viele Autofahrten erinnern, auf denen sie den Song zusammen sangen. Vor allem Jisungs schiefes Singen, nur, um Chan zu ärgern.
Als Seungmin das nächste Mal seine Augen öffnet, hat sich nicht viel verändert. Minho hält neben ihm immer noch seinen Arm. Dieses mal lächelt er aber vorsichtig. „Du hast eine schöne Stimme“, sagt er, als ob nichts passiert wäre. Seungmin ist dankbar darüber. Mit Minho über seine Probleme sprechen, ist das Letzte, was Seungmin gerade machen möchte. „Danke“, sagt er also. Seine Stimme ist zittrig. „Ich hab früher mal Gesangsunterricht genommen. Wäre doof, wenn meine Stimme schlecht klingen würde.“ Minho lächelt dazu wieder schräg. „Du bist aber auch nicht so schlecht“, ergänzt Seungmin zögerlich. Minhos Lächeln weitet sich etwas. „Danke. Ich hab zwar keinen Gesangsunterricht genommen, aber wenn man so talentiert ist, wie ich es bin, braucht man so etwas niedriges, wie Gesangsunterricht, auch nicht.“ Daraufhin lacht Seungmin ein bisschen. Minho lächelt weiter. So ein richtig echtes Lächeln. Das hält aber nicht lange an, denn Minho sieht sich um und schlägt dann vor sich einen sicheren Ort für die Nacht zu suchen. Seungmin stimmt zögerlich zu. Er hätte es besser gefunden, wenn sie die Realität noch für einen Moment länger ignoriert hätten. Er will nicht zu der unangenehmen Stille zwischen Minho und ihm zurück.
Aber die Stille kommt nicht zurück. Minho fängt immer wieder Gespräche an, stellt Seungmin Fragen und gibt ausführlichere Antworten. Er ist wie ausgewechselt. Klar, es sind keine tiefgründigen Gespräche. Sie unterhalten sich über den Markt, den Wald um sie herum und ihre Lieblingstiere und an einem Punkt auch über das Wetter. Es stellt sich heraus, dass Minho den Weg schon häufiger gelaufen ist und dabei auch am Markt vorbeigekommen ist. Seungmin lernt auch, dass Minhos Lieblingsblumen lila Schleierkräuter sind, was Seungmin für äußerst niedlich hält. Anscheinend liebt Minho Katzen und findet Seungmins Liebe für Hunde unangebracht. Das erste Thema, bei dem sie sich dann wirklich einig sind, ist, dass sie Regen lieben, weil es Mindless fernhält. Es eine nette Abwechslung. Seungmin hat das gebraucht. Selbst als wieder Stille einkehrt, als Seungmin (als erster!) schlafen geht, fühlt er sich besser.
Seine Angst hat aber die Begegnung nicht vergessen. Sie lässt auch in dieser Nacht nicht locker und sucht Seungmin selbst in seinen tiefsten Träumen heim.
☆
Leise vor sich hin summend, schneidet Seungmin die Gurke auf dem Brettchen vor ihm in kleine Stücke. Minho und er haben ihr Lager in einer kleinen Wohnung aufgeschlagen. Hier gibt es genug Material, um einen Salat mit dem gestohlenen Gemüse vom Markt zu machen. Er hat sogar noch Salz und Pfeffer in einem der Schränke gefunden. Seungmin ist ein wenig aufgeregt. So etwas gutes hat er schon lange nicht mehr gegessen.
Minho dagegen ist nicht begeistert. Er liegt auf dem Sofa und starrt genervt an die Decke. „Kannst du das lassen?“, ruft er zu Seungmin hinüber. „Was? Salat machen?“ Über die letzten beiden Tage (also, seit Minho mit ihm spricht) hat Seungmin gelernt, dass man den anderen Mann sehr gut aufziehen kann. „Das am liebsten auch“, sagt Minho und richtet sich auf. „Dann könnten wir weiter gehen.“ Jetzt ist es Seungmin, der genervt ist. Er schüttelt den Kopf und deutet mit dem Messer in seiner Hand auf das Sofa. „Nichts da. Du hast dich gestern übel übernommen. Dir und deinem Bein geht es nicht gut, das hast du mir vorhin sogar noch gesagt. Heute machen wir Pause. Basta.“ Wie ein kleines Kind stöhnt Minho auf und lässt sich mit einem dramatischen ‚Flop‘ zurück auf das Sofa fallen. „Ich mag dich auch nicht“, sagt Seungmin, während er die Gurkenstückchen in eine Schale wirft. „Es geht hier nicht ums mögen, es geht ums Prinzip.“ Minho hat sich wieder aufgesetzt und starrt Seungmin entrüstet an. „Je länger wir warten, desto mehr Zeit verschwenden wir. Ich könnte in ein paar Tagen schon geheilt sein, aber du zögerst das raus.“ Seungmin schaut von den Tomaten auf. „Sag mal wie alt bist du nochmal? Du kannst doch nicht ehrlich glauben, dass das“, er zeigt auf Minhos Bein, „in ein paar Tagen geregelt ist. Oder haben die Jesus vor Ort?“ Minho schaut ihn perplex an und kann für einen Moment sein Schmunzeln nicht unterdrücken. Dann legt er sich wieder zurück auf das Sofa.
Nach einem Moment Schweigen sagt er: „Lass uns über was anderes reden. Was sind deine Hobbies? Oder vielleicht eher, was waren sie? Je nachdem.“ Seungmin blinzelt verwundert. Die Frage hat er lange nicht mehr gehört. „Ich mochte es sehr zu singen“, gibt er dann zu. „Naja, aber das wusstest du schon. Ich habe auch Klavier gespielt. Ich war nie so gut, wie mein Freund Chan, aber ich fand mich ganz gut.“ „Klavier spielt aber auch irgendwie jeder“, kommt es abwertend von Minho. „Kannst du es?“ Als keine Antwort mehr kommt, verdreht Seungmin genervt die Augen. „Meine Mom, Schwester und ich sind auch sehr häufig bouldern gewesen. Meistens haben wir daraus einen Wochenendtrip gemacht. Wir waren Wandern auf Routen, auf denen man sowohl klettern, als auch laufen musste.“ Seungmin muss lächeln bei der Erinnerung. „Hat mir später das Leben gerettet“, sagt er dann etwas leiser. Minho sitzt jetzt wieder und scheint Seungmin genau zu beobachten. „Ich hab getanzt“, sagt er dann bloß. „Wie? Das wars?“ Daraufhin sieht Minho ihn empört an. „Was meinst du ‚Das wars?‘? Das ist ein full time Job!“ Seungmin kann das irgendwie nicht wirklich glauben. „Ach ja?“ Minho nickt stark. „Aber sowas von. Ich war Leiter eines Teams in meiner Schule UND hab auch noch Tanzunterricht genommen. Dann kommen dazu auch noch Wettbewerbe, privates üben, Vorbereitung von Unterrichtsstunden, Choreos selber machen, …“, er zählt an seinen Fingern ab, scheint aber hängen geblieben zu sein. „Naja, wie dem auch sei, da ist eine Woche schon ziemlich voll.“ Er nickt zufrieden, als habe er es Seungmin gezeigt. Und das hat er. „Krass, hast du da auch was gewonnen?“ Minho lächelt, als sei das das einfachste der Welt. „Aber klar doch. Von der Schule aus waren wir so gut wie immer in den Top Drei. Alleine habe ich sogar schon mal Geld gewonnen.“ Seungmin legt sein Messer beiseite und klatscht beeindruckt. „Wow, du hast mich überzeugt. Wenn’s deinem Bein besser geht, will ich aber Beweise.“ Minho zieht seinen linken Mundwinkel nach oben. „Die kriegst du.“
„So, und jetzt essen.“ Seungmin salzt das Gemüse in der Schüssel noch einmal kräftig, holt zwei Gabeln aus einer der Schubladen und läuft dann hinüber zu Minho. „Bitteschön“, sagt er, als er die Schüssel vor Minho auf dem Tisch abstellt. Er reicht Minho eine Gabel und setzt sich dann neben ihn.
Sie essen in Stille, aber das ist in Ordnung. Vielleicht ist es nicht so schlecht mit Minho zu reisen. Und seine Angst kann ihn vielleicht auch nicht mehr umstimmen.
☆
„Ich hasse diesen Tag“, sagt Seungmin schaudernd. Es regnet. Eigentlich sind Regentage ein Geschenk. Denn wenn es regnet, ziehen sich Mindless zurück. Wahrscheinlich machen sie das, weil das Plätschern des Regens zu laut für sie ist. Zumindest vermutet Seungmin das. Mindless sind sonst schließlich auch extrem Geräuschempfindlich. Dementsprechend sind Regentage ein Geschenk. Seungmin muss sich keine Gedanken mehr machen, ob er Geräusche macht und wenn ja, wie laut sie sind. Seungmin kann an diesen Tagen sich einfach mal entspannen. Das ist eigentlich ein Geschenk. Eigentlich. Denn heute ist definitiv kein Geschenk. Seungmin und Minho sind bis auf die Haut durchnässt. Sie laufen schon seit Morgengrauen und seitdem regnet es auch. Es muss jetzt inzwischen Mittagszeit sein, aber sicher ist sich Seungmin nicht. Der Himmel ist so grau, dass es genauso gut schon wieder dunkel werden könnte. „Ach nein, wirklich? Was kann man denn hieran hassen? Also ich finde es wunderbar. Diese Nässe. Die Pfützen. Die Kälte. Die Nässe. Könnte ich wirklich häufiger so haben“, sagt Minho. Seine Stimme ist voll Ironie. Seungmin verdreht die Augen. „Eigentlich mag ich Regen“, sagt er dann. „Von meiner Hütte aus wirkt er immer so friedlich. Im Winter kann ich mir ein Feuer anmachen und einfach den Frieden genießen, weißt du? Der Gedanke, dass Mindless nicht kommen werden, ist normalerweise so erleichternd für mich und jetzt hasse ich es. Ich hätte lieber gutes Wetter und das Risiko, dass Mindless kommen. Die Angst ist mir lieber. Ich kann gar nicht glauben, dass ich das sage. Ich hasse dieses Wetter.“ Minho seufzt leise. „Tja, hier draußen ist das Leben nicht einfach.“ Seungmin nickt leicht. So viel hat er auch mitbekommen. „Meine Prinzessin auf der Erbse macht die harten Natur Erfahrungen“, sagt Minho und stößt Seungmin seinen Ellbogen in die Rippen. Seungmin taumelt etwas zur Seite und sie fallen beinahe. „DEINE Prinzessin auf der Erbse?“, fragt Seungmin empört. Minho schaut ihn von der Seite ernst an. „Ja? Was bist du denn sonst?“ Für einen Moment fragt sich Seungmin, ob Minho das gerade ernst meint, dann verwirft er den Gedanken und schüttelt den Kopf. Egal was Minho denkt, eine Prinzesse auf der Erbse ist er definitiv nicht.
Es ist für eine Weile still, bevor Seungmin sich traut das Thema zu wechseln. „Wollen wir hier ein wenig Pause machen?“ Sie sind in einer kleineren Wohngegend angekommen. Hier könnten sie sich in einen Hauseingang setzten und warten, bis der Regen etwas abgenommen hat. Minho schnaubt spöttisch. „Siehst du? Prinzessin auf der Erbse.“ Diesmal bleibt Seungmin etwas empört stehen und dreht sich zu Minho. Dieser lächelt Seungmin schräg an. „Na komm“, sagt er dann und deutet über seine Schulter auf den nächsten überdachten Eingang. Seungmin rollt genervt die Augen, manövriert sie beide aber wortlos zu dem Eingang, auf den Minho gezeigt hat. Erst als Minho sich gegen die Wand gelehnt hat, lässt er Seungmin los und rutscht langsam zu Boden. Das verletzte Bein hat er dabei lang ausgestreckt. Es scheint ihm immer noch stark zu schaffen zu machen. Seungmin sagt nichts dazu. Was soll er schon machen?
So sitzen sie für eine Weile nebeneinander. Schulter an Schulter. Es ist still, nur das Pladdern des Regens auf dem Dach ist zu hören. Seungmin hat seinen Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. So fühlt er sich fast wieder Zuhause. Der Regen, der ihnen so viel Sicherheit gibt. Die Wärme, die von Minho ausgeht, fast so wie das Feuer Zuhause. Nur die Kleidung, die durchnässt an seinem Körper klebt, stört diese Illusion.
„Hattest du eigentlich Freunde vor diesem ganzen Schlamassel?“, fragt Minho aus dem Nichts. Seungmin öffnet die Augen und starrt Minho perplex an. „Natürlich.“ Was ist das denn schon wieder für eine Frage? „Keine Ahnung“, Minho zuckt mit den Schultern, „du wirkst irgendwie nicht so wie ein Typ, der Freunde hat.“ Seungmin lacht ironisch. „Dankeschön. Gleichfalls.“ Minho zuckt nur wieder mit seinen Schultern. „Jetzt hab ich auch keine Freunde mehr. Aber vorher hatte ich welche. Jisung und Chan habe ich doch bestimmt schon mal erwähnt“, erklärt Seungmin ihm dann. Minho verzieht das Gesicht nachdenklich. „War Chan der Typ der besser als du Klavier spielt?“ Seungmin nickt bitter. „Bei Jisung klingeln keine Glocken.“ Seungmin seufzt leise. „Okay kurze Zusammenfassung. Jisung Han, so alt wie ich, kenne ihn seit dem Kindergarten. Danach waren wir auf unterschiedlichen Schulen, aber Jisung hat attachment issues, deswegen haben wir Kontakt gehalten. Mein erster Cursh, mein erster Kuss, nichts draus geworden. Zusammen mit Chan einer der talentiertesten Musiker, den ich kenne.“ Seungmin hält einen Moment inne, dann korrigiert er sich. „Kannte.“ Die Realisation trifft Seungmin härter, als er zugeben möchte. Minho scheint das zu merken. „Chan?“, fragt er leise. Seungmin fasst sich wieder „Chan hat Jisung in seiner Schule kennengelernt. Drei Jahre älter als wir. Jisung war ein riesiger Fan von ihm und hat Chan so irgendwie in eine Freundschaft genervt. Jisung ist wirklich sehr niedlich, aber lass ihn das nicht hören. Chan hat nach dem Abi erst einen Freiwilligendienst in Australien gemacht und danach angefangen Musik zu studieren. Er wollte zusammen mit Jisung und einem Typen, den er auf der Uni getroffen hat, eine Band gründen, aber daraus ist nichts geworden.“ Seungmin macht eine grobe Handbewegung in Richtung Regen. Minho schweigt. Er scheint zu verstehen, was Seungmin meint. “Und du?”, fragt Seungmin. Minho zuckt mit den Schultern. “Ich war beliebt, wenn du es so nennen möchtest, aber wirklich befreundet war ich mit niemandem.” Seungmin schaut ihn etwas schockiert von der Seite an. “Wieso nicht?” Minho ist zwar etwas seltsam, aber dass er keine Freunde gehabt haben soll, kann sich Seungmin absolut nicht vorstellen. Minho seufzt. “Ich hatte reiche Eltern, war gut im Tanzen und sah einigermaßen gut aus. Ist das genug Erklärung für dich?” Seungmin nickt langsam. “Alle wollten mit dir assoziiert werden, aber niemand wollte dich wirklich kennen?”, hakt er nach und Minho nickt. “Klingt einsam”, sagt Seungmin leise. Minho nickt wieder. Seungmins Herz bricht ein wenig, wenn er Minho jetzt anschaut. Minho wirkt klein neben ihm. In sich zusammengesackt. Ängstlich. Deswegen gibt Seungmin ihm einen leichten Stups. Minho schaut in an, fragend. “Jetzt hast du ja mich.” Minho lächelt, scheint sich dann aber zu ertappen und unterdrückt das Lächeln wieder. Er hebt seine Augenbraue und fragt: “Wir sind Freunde?” Seungmin rollt seine Augen. “Dann wohl nicht, wenn du lieber alleine sein willst”, sagt er und macht sich daran aufzustehen. Natürlich greift Minho nach Seungmins Arm und zieht ihn wieder runter. Als Seungmin Minhos blickt trifft, leuchten Minhos Augen. “Du bist so blöd manchmal”, sagt Minho. Seungmins Arm lässt er nicht mehr los. “Gleichfalls”, sagt Seungmin.
Es herrscht wieder Stille zwischen den Beiden. Der Regen hat etwas nachgelassen. Trotzdem kann sich Seungmin gerade nichts Schlimmeres vorstellen, als wieder aufzustehen und weiter zu laufen. Also tut er es nicht. Minho schlägt es auch nicht vor und Seungmin ist dafür wirklich dankbar.
Minho meldet sich nach einer Weile wieder zu Wort. “Da wo wir jetzt hinlaufen, da hab ich auch einen Freund.” Seungmin nickt. Minho hat in diese Richtung schon mal was erwähnt, Seungmin hat sich aber nicht weiter getraut nachzufragen. “Er heißt Hyunjin. Wir sind ne Weile zusammen gereist, so wie du und ich. Aber dann sind wir auf ein Lager gestoßen und Hyunjin hat es so gut gefallen. Er ist dortgeblieben, wollte, dass ich auch bleibe, aber das passt nicht zu mir. Ich wollte das nicht. Also bin ich weitergezogen. Ich glaube Hyunjin hat das gar nicht gefallen. Aber ich hab ihn seitdem nicht mehr wirklich gesehen.” Seungmin nickt. Er kann das gut verstehen. Lager machen ihm Angst. “Machst du dir Sorgen deswegen?”, fragt Seungmin leise. Minho nickt. “Ich denke Hyunjin ist gut aufgehoben dort. Aber ich weiß nicht, wie er reagieren wird, wenn wir ankommen. Böse? Enttäuscht? Ich denke nicht, dass das letztendlich wichtig ist, ich brauche Hilfe und dann gehe ich wieder, aber trotzdem. Den Hintergedanken werde ich nicht los.” Seungmin nickt verstehend. Er wüsste auch nicht, wie er reagieren würde, wenn Jisung und Chan plötzlich wieder in seinem Leben auftauchen würden. “Es wird wahrscheinlich viel sein für ihn. Aber das ist es für dich ja auch. Und wenn er sehr negativ reagiert, ist das halt so. Du bist da, weil du Hilfe brauchst und nicht wegen seines Mitleids”, erklärt Seungmin. Minho nickt. “Und ich bin ja auch noch da”, ergänzt Seungmin und Minho dreht seinen Kopf ruckartig in Seungmins Richtung. “Ist das so?”, fragt er. Er klingt fast schon nervös.
Erst wundert sich Seungmin über Minhos Reaktion, denn wo sollte Seungmin schon hin? Aber dann fällt ihm auf, dass sie nie wirklich darüber gesprochen haben, was passieren wird, wenn sie am Lager ankommen. Minho wird verarztet, Seungmin bekommt seine Materialien und das wars? Seungmin schaudert bei diesem Gedanken. Er möchte Minho zumindest wieder alleine auf zwei Beinen stehen sehen, beschließt er.
Also nickt er enthusiastisch. ”Ich bin doch nicht den ganzen Weg gelaufen, nur um dann abzuhauen, ohne irgendwelche Ergebnisse zu sehen. Ich muss zumindest wissen, dass diese ganze Anstrengung bei dir auch was gebracht hat.” Minho verdreht die Augen, kann sein Lächeln aber ganz offensichtlich nicht unterdrücken. ”Außerdem”, fällt Seungmin ein, ”musst du mir noch was vortanzen.” Minho hebt seine Augenbrauen. ”Du hast es versprochen”, betont Seungmin. “Na gut.” Minho seufzt.
Erst viel später, als Minho schon neben ihm auf dem Boden zusammengerollt schläft, fällt Seungmin auf, dass er sich eigentlich gerade dazu bereiterklärt hat in einem Lager zu bleiben. Für eine längere Zeit.
Für einen Moment schnürrt die Angst ihm die Kehle zu, dann realisiert er: Es ist für Minho. Minho ist da. Und dann ist die Angst wie weggeblasen. Mit Minho hat Seungmin schon so viel geschafft. Das schafft er auch noch. Denn mit Minho ist er sicher.
Mit Minho kann ihm nichts passieren.
☆
Vielleicht kann ihm doch was passieren. Denn als sie heute unter einem Baum zusammengekauert sind, will Seungmin nichts mehr als nach Hause und sich richtig schön ausweinen. Es war ein beschissener Tag gewesen. Es hatte schon morgens damit angefangen, dass Minho und er einfach nicht in die Gänge gekommen waren. Erst hatten sie verschlafen, dann hatte sich Minhos Verband immer wieder gelöst und dann war ihnen aufgegangen, dass sie schon wieder zu wenig Essen hatten. Sie hatten zwar versucht über den Tag Essen im Wald aufzutreiben, aber das war ihnen nicht wirklich gelungen. Kurz: Seungmin hat Hunger und ist extrem müde.
Minho scheint es nicht großartig anders zu gehen. Auch er war den ganzen Tag über schlecht gelaunt. Bei jeder kleinsten Bemerkung von Seungmins Seite gab er einen bösen Kommentar zurück und verfiel danach in absolutes Schweigen. Seungmin hatte sich ein wenig in die ersten Tage zurückversetzt gefühlt.
Trotzdem sitzen sie jetzt dicht aneinander gekauert an einem Baum und Minho hält Seungmins Arm. Das hat nur einen simplen Grund: Die Mindless.
Natürlich hatte es nicht bei den schlechten Ereignissen des Morgens bleiben können. Die Sonne war dabei gewesen unterzugehen und Seungmin hatte das erste mal am Tag ein wenig Ruhe in dem orangen Abendlicht gefunden, als sie aufgetaucht waren. Es waren zwei Mindless. Ein Kind, schätzungsweise um die zehn Jahre alt und ein Mann, der wahrscheinlich auf seine Fünfziger zuging. Und Seungmin war einfach nicht in der Lage gewesen seine Waffen anzurühren. Minho hatte ihn immer wieder aufgefordert, aber Seungmin konnte es einfach nicht. Diese beiden hätten auch die nette Familie von nebenan sein können. Oder Seungmin und sein Onkel. Oder Minho und jemand, den er kannte. Mit dem Unterschied, dass diese beiden krank waren. Als die beiden etwas zu nah kamen, hatte Seungmin ein paar seiner Klicker geworfen, Minho kurzerhand Huckepack genommen und war so schnell gerannt, wie er konnte. Und jetzt sitzen sie hier dicht an dicht unter einem Baum, schnell atmend so leise es geht.
„Ich glaube sie sind weg“, raunt Minho Seungmin nach, was sich für Seungmin wie eine Ewigkeit anfühlt, zu. Seungmin nickt nur angespannt. Vorsichtig löst Minho sich von ihm und fängt an seinen Schlafsack aus seinem Rucksack zu holen. Als ein lautes Knacken aus dem Wald hinter ihnen kommt, greift Minho wieder nach Seungmins Arm und Seungmin kann fühlen, wie sich sein Körper unter Minhos Griff entspannt. Was elf Tage doch machen können. „Hör mal, ich bin nicht gerade der Beste in sowas, aber es tut mir leid, wie ich heute mit dir umgegangen bin. Ich hab gesehen, dass es dir nicht gut ging und hab trotzdem immer noch eine Schippe obendrauf getan“, meldet Minho sich nach einiger Zeit leise zu Wort. „Das ist schon okay. Es ging dir ja auch nicht gut“, winkt Seungmin ab. „Kann ja mal passieren, wenn man seine gesamte Zeit zusammen verbringt“, fügt er hinzu. Im Stillen ergänzt er, dass er das immer noch besser findet, als gar nicht miteinander zu reden. Anstatt eine Antwort zu geben, fängt Minho an Seungmin sanft über den Handrücken zu streichen.
Irgendwie ist es ein wenig ironisch. Seungmin war nie ein Mensch für physischen Kontakt. Seinen besten Freund Jisung hatte es immer gestört. Seungmin kann sein Gesicht noch vor sich sehen: Die vorgeschobene Lippe, die großen Augen und die weinerliche Stimme. Natürlich konnte Seungmin nicht standhalten, aber Jisungs Umarmungen waren nie ein grundlegender Baustein für ihre Beziehung gewesen. Selbst als Seungmin in Jisung verliebt gewesen war. Bei Minho ist das aber etwas anderes. Minhos Griff an Seungmins Arm gibt ihm Stabilität. Obwohl diese Stabilität nicht mal für Seungmin gedacht ist. Minhos Griff bedeutet aber auch „Ich bin für dich da“, „Keine Angst“ und „Alles wird gut“. Sie beide brauchen es irgendwie. Und so war der Griff ein wichtiger Bestandteil ihrer Beziehung geworden. Ohne, dass Seungmin das wollte.
“Wenn du magst, kannst du heute Abend zuerst schlafen gehen“, bietet Seungmin Minho an. Obwohl er extrem erschöpft ist, hat er das Gefühl, dass die Angst ihn nicht schlafen lassen würde. Und was Seungmin nun wirklich nicht gebrauchen kann, sind Albträume. Minho scheint das komisch zu finden, denn er sieht Seungmin fragend an. „Wieso?“ „Naja, ich bin noch nicht so müde“, versucht Seungmin sich herauszureden. Minho deutet vermutlich auf Seungmins Augenringe. „Das erzählt aber eine andere Geschichte. Eigentlich erzählt dein ganzer Körper eine andere Geschichte.“ „Dein ganzer Körper sieht aber auch nicht besonders begeistert davon aus, dass er jetzt noch ein paar Stunden warten muss, bis er schlafen kann.“ Und es stimmt, Minho sieht mindestens genauso erschöpft aus wie Seungmin. „Hast du meinen Körper gefragt?“, wirft Minho zurück. „Hast du meinen Körper gefragt?“, erwidert Seungmin ein wenig genervt. Ein weiteres lautes Knacken aus dem Wald lässt ihn heftig zusammenfahren. Danach sagt Minho nichts mehr, streicht nur immer wieder über Seungmins Handrücken. Als nach einiger Zeit wieder komplette Stille eingekehrt ist, wendet Seungmin sich wieder an Minho: „Du kannst ruhig zuerst schlafen. Ich schaff das schon.“ „Das weiß ich“, erwidert Minho. Inzwischen ist es fast komplett schwarz um sie herum, was es für Seungmin so gut wie unmöglich macht Minhos Gesicht zu erkennen. „Ich mag es nur einfach nicht, dass du mir ständig etwas verschweigst. Ich hab gedacht nach dieser Zeit zusammen hättest du endlich mal das Gefühl, dass du mir vertrauen kannst.” Er klingt ehrlich verletzt.
Die Realisation trifft Seungmin, wie ein eiskalter Wasserstrahl. Seungmin verschweigt Minho all seine Ängste. Seungmin hat ihm gegenüber noch nie erwähnt, warum er so schlecht schläft. Seungmin hat Minho auch nicht gesagt, warum er diese Panikattacken hat. Und das hat zwei simple Gründe: Seungmin kennt Minho erst seit fast zwei Wochen und Minho hat nie gefragt. Jetzt, wo Minho aber indirekt gefragt hat, weiß Seungmin nicht, was er sagen soll. Denn, wenn er jetzt so drüber nachdenkt, er hat noch nie mit irgendjemanden über den Grund gesprochen. Mit wem auch? Seungmin war bis jetzt immer alleine. Und das war immer richtig so. Seungmin brauchte nie andere Menschen. Er war immer sicher so. Alleine auf seinen Felsen, abgegrenzt von allem, die Erinnerung weit weit weg in den tiefen seines Gehirns versteckt. Seungmin war so glücklich gewesen. Es war ein wenig so gewesen, als sei alles einfach nicht passiert. Als sei Seungmin alleine auf der Welt. Als bräuchte er keine Angst zu haben. Doch seit Seungmin hier draußen ist, umgibt die Angst ihm vollkommen. Seungmin ist wie gefangen. Denn egal was er tut, die Angst wartet immer auf ihn. In der Dunkelheit. Im Schlaf. In Form von Minho.
„Seungmin? Seungmin! Du tust es schon wieder.“ Etwas benommen löst sich Seungmin von seinen Gedanken. „Hm?“ Minhos Griff um Seungmins Arm ist wieder fester – Halt-gebender. „Du wirst ganz still, starrst, hörst auf zu atmen“, reiht Minho auf. Er wirkt gehetzt. „Ich hab immer das Gefühl du stirbst“, fügt er leiser hinzu. „Oh“, ist alles, was Seungmin sagen kann. Er fühlt sich immer noch benommen. „Lass uns nicht weiter drüber reden“, fügt er nach kurzem Nachdenken hinzu. Er vertraut Minho. Wirklich. Aber nicht jetzt. Nicht hier. Das schafft er nicht. „Nicht weiter drüber reden?“, fragt Minho beinahe entgeistert. „Es tut mir leid Seungmin, aber du kannst doch nicht immer weiter von mir erwarten, dass ich dir zur Verfügung stehe, immer, wenn du eine Panikattacke hast. Ich finde ich verdiene wenigstens irgendeine Art von Erklärung. Einen Hinweis. Irgendwas. Wie kann ich das verhindern? Wie helfe ich dir am besten? Wir können das doch nicht ewig umgehen.“ Seungmin kann das jetzt aber nicht. Nicht wenn er die Angst überall um sich herum spürt, die nur darauf wartet sich auf ihn zu stürzen. Mit zusammengebissenen Zähnen sagt er also: „Können wir darüber nicht ein anderes Mal sprechen?“ Neben ihm seufzt Minho und löst sich dann bedacht von Seungmin. Währenddessen rutscht die Angst ein bisschen näher. Seungmin muss sich wirklich zusammenreißen, um nicht nach Minho zu greifen. „Ich geh dann jetzt schlafen“, sagt Minho leise. Seungmins Benommenheit ist wieder da – stärker als je zuvor. „Mhm.“ Dann ist da wieder nichts als Stille.
Stille
Stille
Stille
Stille
Und Seungmin befürchtet, dass er einen Fehler begangen hat.
Stille
Stille
Und die Angst rückt näher.
Stille
☆
Die nächsten Tage ist Minho anders. Nicht auf eine besonders auffällige Weise. Er unterhält sich immer noch viel mit Seungmin. Sein Griff um Seungmins Arm ist immer noch der Gleiche. Minho ist immer noch genervt davon, wenn sie langsamer unterwegs sind. Er stellt Seungmin noch immer Fragen über sein Leben vor der Wandlung. Er lässt Seungmin abends immer noch als ersten schlafen. Auch seine Vorräte teilt er noch immer mit Seungmin. Nichtsdestotrotz fühlt sich alles ein wenig anders an. Die Stillen sind leiser als vorher, unangenehmer. Wenn Seungmin ihn anspricht, braucht es manchmal mehrere Versuche, bevor Minho reagiert. Minho schaut Seungmin nicht mehr so häufig an. Und Seungmin weiß, dass es seine Schuld ist. Es sollte ihn nicht verletzen, denn er ist derjenige, der Minho von sich gedrängt hat. Aber tief in seinem Herzen tut es doch weh. Und dieser Schmerz will einfach nicht weggehen.
Manchmal wünscht sich Seungmin anders zu sein. Auf der einen Seite möchte er Minho anschreien. Sagen, wie sehr er ihm vertraut, dass er nicht versteht, wie Minho auf irgendwas anderes kommen konnte, dass Minho die Person ist, bei der sich Seungmin sicher fühlt. Er möchte Minho schütteln, weinen, schreien. Minho soll nicht böse auf ihn sein. Auf der anderen Seite wünscht er sich Minhos Erwartungen entsprechen zu können: Ein mutiger Seungmin, der keine Angst hat und einfach so töten kann. Ein starker Seungmin, der einfach so über seine Gefühle spricht und sich nicht von anderen beeinflussen lässt. Ein Seungmin, auf den Minho bauen und vertrauen kann. Das wäre er gerne. Stattdessen ist er ein jämmerlicher Seungmin, der es nicht mal schafft über seine Ängste zu sprechen – das prominenteste Gefühl in seinem Leben. Seungmin fühlt sich so lächerlich. Lächerlich und dumm. Und einsam. Einsam in seiner Angst, in seinen Gefühlen.
Schnell setzt er sich auf. Das wird ihm zu viel. Eigentlich wollte Seungmin als erster schlafen gehen, aber ganz offensichtlich funktioniert das gerade nicht. Er blickt hinüber zu Minho, der sich einige Meter weiter niedergelassen hat. Er ist nach vorne gebeugt. Wahrscheinlich verbindet er seine Wunde neu, das macht er häufig in der Zeit, in der Seungmin schläft. Leise räuspert sich Seungmin und sagt: „Wenn du willst, kannst du als erster schlafen gehen.“ Minho zuckt sichtbar zusammen und schaut von seiner Wunde auf. Seungmin meint im Halbdunkeln erkennen zu können, dass sie beinahe rot leuchtet. „Hättest du das nicht ein bisschen früher sagen können?“, erwidert Minho in einem genervten Ton. Ja, Minhos Wunde sieht wirklich nicht gut aus. „Tut mir leid. Ich dachte ich kann schlafen, kann ich aber doch nicht“, versucht Seungmin sich zu erklären. Minho zieht sein Hosenbein runter, ohne die Wunde verbunden zu haben. „Hm, schon gut. Ich geh dann jetzt schlafen“, sagt er und rollt sich auf dem Boden zusammen.
Es herrscht einen Moment Ruhe, dann kann Seungmin seine Sorge nicht mehr zurückhalten. „Geht’s dir gut?“ In der Dunkelheit meint Seungmin erkennen zu können, dass Minho die Augen wieder geöffnet hat. Es bleibt aber ruhig. „Ich meine, vielleicht habe ich mich getäuscht, aber deine Wunde sieht absolut nicht gut aus und du hast sie nicht mal verbunden. Bist du sicher, dass wir morgen weiterlaufen können? Wir können auch mal einen Tag Pause machen“, schlägt Seungmin also vor. Jetzt setzt sich Minho auf. „Mir geht’s prima“, sagt er sehr kurz angebunden. Er legt sich allerdings nicht wieder hin. Also holt Seungmin seine alte Jacke aus seinem Rucksack. Sie benutzen häufiger Fetzen von der Jacke, um Minhos Wunde zu verbinden. Wahrscheinlich nicht die hygienischste Lösung, aber regulärer Verband war ihnen ziemlich schnell ausgegangen. Als Seungmin ihm die Jacke reicht, bedankt sich Minho leise und Seungmin kann spüren, wie die Schuldgefühle wieder hochkommen. Er will Minho nicht von sich wegstoßen. „Es tut mir leid“, sagt er deswegen bedacht. „Ich wollte nicht, dass du dich so fühlst, als ob ich dir nicht vertraue. Ich wollte unsere Freundschaft nicht belasten. Ich wollte dich nicht verletzen. Aber das habe ich und es tut mir leid.“ Minho nickt langsam. „Entschuldigung akzeptiert“, sagt er dann. „Ich möchte mich aber auch bei dir entschuldigen. Ich hätte dich nicht drängen sollen. Ich wollte nur das Beste für dich und war dabei nur aufdringlich und habe es übertrieben. Du kannst nichts für deine Panik und das hätte ich mehr berücksichtigen sollen.“
Jetzt laufen Seungmins Tränen. Minho kann doch so etwas nettes nicht sagen, nachdem Seungmin ihn so verletzt hat. Das ist unfair. Etwas trifft ihn hart am Knie. „Man Seungmin du sollst doch jetzt nicht weinen. Was soll das? Komm her.“ Als Seungmin nicht sofort aufsteht, wird er noch einmal getroffen. Diesmal ist es sein rechter Oberarm. Seungmin lacht durch seine Tränen. „Ist ja gut. Gib mir doch einen Moment.“ Anstatt einer Antwort kommt ein weiteres Objekt geflogen. Diesmal verfehlt es Seungmin jedoch. Seungmin muss wieder lachen. „Du hast mich nicht getroffen!“ „Das war beabsichtigt. Damit du endlich anfängst dich zu bewegen.“ „Das ergibt keinen Sinn“, murmelt Seungmin vor sich hin, steht aber trotzdem auf, um sich neben Minho zu setzen. Dort angekommen, ergreift Minho sofort seine Hand. „Du bist so ein Idiot“, sagt Minho dann leise und Seungmin fängt wieder stärker an zu weinen. „Was? Was hab ich jetzt schon wieder gemacht?“ Seungmin schüttelt mit dem Kopf. „Gar nichts.“ Manchmal hat er das Gefühl er hat all das nicht verdient. Minho, seine Freundschaft, sein Vertrauen. „Ich bin einfach dankbar“, fügt er dann hinzu. Minho sagt nichts mehr, streichelt nur wieder vorsichtig über Seungmins Handrücken.
„Ich habe ziemlich üble Träume“, fängt Seungmin nach einiger Zeit an zu erzählen. „Mir sind ein paar wirklich schlimme Sachen in dieser scheiß Apokalypse passiert, Minho. Und diese schlimmen Sachen suchen mich in meinen Träumen heim. Es ist wirklich unfair, weißt du? Jedes Mal, wenn ich eine Person oder ein Ereignis gerade wieder vergessen habe, taucht das wieder in einem Traum auf. Dann zerbreche ich mir den ganzen Tag den Kopf darüber und wie ich das um jeden Preis vermeiden kann.“ Minho hält Seungmins Hand ganz fest. „Manchmal fühle ich mich in eine Situation zurückversetzt. Auf dem Markt zum Beispiel habe ich jemanden aus meiner Vergangenheit gesehen. Die einzige Reaktion, die ich dann kenne, ist Angst. Todesangst, um genau zu sein. Dann geht alles ganz schnell. Ich verliere den Überblick darüber, was real ist und was nicht. Fühle mich beklemmt und eingeschlossen, ohne Ausweg. Verliere alle Hoffnung.“ Seungmin ist sich nicht sicher, warum er all das so sicher nacherzählen kann. Allein über die Angst, die er normalerweise in einer Panikattacke spürt, nachzudenken, fühlt sich so an, als würde Seungmin von genau dieser Angst umgerannt werden. Und jetzt sitzt er hier und spricht darüber. Und die Angst ist nirgendswo zu sehen. „Ich denke mir hilft in diesen Momenten nicht viel. Erinner mich vielleicht daran, wo ich bin, wer ich bin, wer du bist, was wir machen. Das Wichtigste ist glaube ich, dass du ruhig bleibst. Das hilft mir am aller meisten.“ Neben ihm nickt Minho stumm. „Wenn du noch irgendwas fragen möchtest, kannst du das auch gerne machen“, beendet Seungmin seine Erklärung. Ein paar Minuten ist es still. Minho scheint das Gesagte verarbeiten zu wollen. Dann sagt er: „Ich weiß nicht, ob das die richtige Reaktion ist, aber es tut mir leid. Es tut mir leid, dass du so schlimme Dinge erleben musstest, dass es dich immer noch so stark prägt. Wenn du jemals darüber sprechen möchtest, bin ich immer für dich da, Seungmin.“ Jetzt weint Seungmin wieder. Er nickt aber trotzdem. „Okay. Danke Minho.“ Erschöpft legt Seungmin seinen Kopf auf Minhos Schulter. Dieser nimmt das einfach stumm hin.
Da ist eigentlich noch so viel mehr, von dem Seungmin Minho erzählen will. Aber kann er das? Seungmin weiß nicht, ob er jemals bereit ist über das Lager zu sprechen. Er will es Minho wirklich erzählen, aber er denkt nicht, dass er es schafft. Es ist wie eine unsichtbare Wand in einem Videospiel. Seungmin rennt immer wieder in sie hinein, versucht sie zu umgehen, aber er schafft es einfach nicht. Es gibt keinen Weg drumherum, keine Möglichkeit sie zu durchbrechen. Und Seungmin steht hilflos davor. Umgeben von seiner Angst, der unsichtbaren Wand.
Minho bewegt sich leicht und Seungmin wird aus seinen Gedanken gerissen. „Du weißt doch, wie ich erzählt habe, dass ich getanzt habe, oder?“ „Mhm“, summt Seungmin. „Am Tag des Ausbruchs sollte ich in die USA fliegen. Meine Eltern hatten mir ein BWL-Studium organisiert an irgendeiner hochangesehen Hochschule. Ich wollte das absolut nicht. Ich wollte Tanzen, weißt du? Ich hatte mich an verschiedenen Hochschulen dafür beworben und sogar ein Stipendium bekommen, aber meine Eltern haben mir es verboten. Ich sollte ihr Unternehmen übernehmen. Wir hatten nie ein besonders gutes Verhältnis, aber an diesem Tag habe ich sie gehasst. Eigentlich hab ich alles gehasst, aber vor allem sie und ihr scheiß Unternehmen. Ich wollte, dass alles zusammenbricht. Irgendeinen Grund hierzubleiben. Dann ist das System wirklich kollabiert und ich war verloren an diesem Flughafen. Überall Menschen, die von krank, zu tot, aber doch lebend übergingen. Ich hatte so Angst Seungmin. So schreckliche Angst. Als ich endlich aus dem Flughafen kam, hatte ich meine Sachen hauptsächlich verloren. Keine Möglichkeit meine Eltern oder irgendwen sonst zu kontaktieren. Also bin ich einfach losgezogen. Ungefähr in die Richtung, in der ich wusste, dass mein Zuhause war. Ich war gerade mal achtzehn. Ich bin wochenlang gelaufen. Wochenlang hatte ich absolute Todesangst. Als ich dann endlich irgendwie in meiner Heimatsstad angekommen bin, war nichts mehr da. Sie ist komplett von den Mindless überrannt worden.“ Minho schweigt für einen Moment. „Ich finde die Vorstellung so schrecklich, dass du diese Angst, die ich in diesen paar Wochen gespürt habe, eigentlich die ganze Zeit fühlst. Das hat niemand verdient. Besonders nicht du, Seungmin.“ Seungmin schweigt. Er weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. Also drückt er vorsichtig Minhos Hand als Zeichen von Verständnis. „Irgendwie ist es aber auch etwas bewundernswertes“, sagt Minho. „Ich kenne nicht viele Menschen, die so eine Angst dauerhaft aushalten können würden. Du bist was Besonderes, Seungmin“; schlussfolgert Minho. Seungmin muss schmunzeln. „So hab ichs noch gar nicht gesehen“, sagt er. „Na dann, eine niegel-nagel-neue Perspektive für dich!“, triumphiert Minho. „Yay“, sagt Seungmin müde. Jetzt möchte er doch wirklich sehr gerne schlafen. „Möchtest du schlafen?“, fragt Minho. Er kennt Seungmin so gut. Seungmin nickt und schmiegt sich mehr an Minho. Dieser stupst Seungmin leicht an. „Du brauchst noch deinen Schlafsacks. Dann kannst du so viel auf mir liegen, wie du willst.“ Müde richtet Seungmin sich auf und sucht nach seinem Schlafsack. Sobald er ihn gefunden hat, schlüpft er hinein und kuschelt sich wieder an Minhos Seite.
Innerhalb von kürzester Zeit ist er eingeschlafen. Ohne Angst.
☆
Als Seungmins Ende dann wirklich gekommen ist, hat er so viel Angst, dass er sie nicht mehr wirklich spürt. Es ist wie eine Art Resignation. Das wars. Es ist gelaufen. Ein Wunder, dass ich überhaupt so lange ausgehalten habe.
Seungmin steht Seite an Seite mit Minho. Sie sind umzingelt von Mindless. Seungmin hat keine Ahnung wie viele es sind und er glaubt nicht, dass er in der Lage ist, sie zu zählen. Es ist eine Horde. Groß und klein. Alle mit dabei. Wenn Seungmin sich von Minho wegbewegt, gibt er den Mindless freie Angriffsfläche auf Minho. Minho, der verletzt ist. Minho, dessen Chancen deswegen gleich null sind. Wenn Seungmin Minhos Seite verlässt, würde er sich das niemals verzeihen. Wenn er denn überleben würde. Wenn Seungmin hierbleibt, sind sie beide tot. Seungmins Klicker hat er, im Versuch die Horde von sich fernzuhalten, alle aufgebraucht. Er hat nur noch sein Messer und seinen Hammer, beide fuchtelt er wild vor sich hin und her, als ob das die Mindless wegscheuchen würde. Minho lehnt sich stark auf Seungmin. Er ist gerannt, als sie noch dachten, dass sie davonkommen würden. Seungmin wundert sich, dass er überhaupt noch stehen kann. Müde hält Minho einen Stock vor sich, aber er ist schwach. Es ist hoffnungslos. Aber wenigstens werden sie zusammen sterben. Das ist das einzige, was Seungmin an der Situation beruhigt.
„Minho du musst wach bleiben“, haucht Seungmin Minho zu. Der ältere kann kaum noch stehen. Von links kommt ein Mindless angesprungen und Seungmin sticht wild zu. Das Mindless fällt zu Boden, zumindest für den Moment ist es gelähmt. Seungmin zieht Minho wieder auf und schlägt ein weiteres Mindless so stark er kann in den Kopf. Von der Wucht taumelt er ein paar Schritte vorwärts und fällt beinahe in die Arme von einem anderen Mindless, das er mit einem Hieb von seinem Hammer (hoffentlich) erledigt. Minho ist wieder zu Boden gefallen und Seungmin muss ihn wieder hochziehen. Mit Minho in seinen Armen und den Waffen immer noch in seinen Händen schaut Seungmin sich nach einem Ausweg um. Es gibt keinen. Aus Frustration muss Seungmin schreien und ist im nächsten Moment schockiert von der Lautstärke. Jetzt taumeln die Mindless noch schneller auf sie zu. Es hat keinen Sinn mehr. Seungmin schließt seine Arme um Minho. Es ist irgendwie witzig, die erste Umarmung wird wohl auch die letzte sein. Seungmin kann die Mindless jetzt riechen, ihre Hände spüren, es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis sie beide gebissen sind.
Dann hört Seungmin einen lauten Schrei aus dem Wald. Einige Mindless halten inne, andere machen einfach weiter. Und Seungmin? Seungmin ist wie ausgewechselt. Er verfrachtet Minho in einen Arm und schlägt mit dem anderen wild um sich. Ein weiterer Schrei ist zu hören, diesmal deutlich näher. Seungmin hat sich inzwischen etwas Freiraum erkämpft. Dann stehen drei Männer auf der Lichtung. Sie sind extrem schnell. Kaum sind sie da, liegen viele der Mindless regungslos auf dem Boden. Seungmin schlägt und sticht weiter um sich. Den Hammer hat er irgendwo verloren, das Messer tut seinen Job aber auch sehr gut. Innerhalb kürzester Zeit haben sie sich einen guten Fluchtweg erkämpft und die drei Männer winken Seungmin ihnen zu folgen. Seungmin verfrachtet Minho in seinen Armen in Braut-Stil und rennt den Männern so schnell er kann hinterher. Die Mindless lassen sie jetzt leicht zurück.
Nach einer Weile verfallen die Männer in ein leichtes Joggen und Seungmin holt zu ihnen auf. Er ist inzwischen sehr außer Atem. „Geht es euch gut?“, fragt der größte der drei. Er hat langes braunes Haar und scharfe Gesichtszüge. Er ist außerdem einer der schönsten Menschen, die Seungmin jemals gesehen hat. Er schüttelt den Kopf. „Pause“, keucht er dann. Die Männer tauschen untereinander Blicke aus und deuten Seungmin ihnen ein zweites Mal zu folgen. Erschöpft tut Seungmin das. Sie halten endlich in einem etwas dichter bewachsenen Gebiet. Hier werden sie wahrscheinlich nicht so leicht gesehen. Erst jetzt bekommt Seungmin Angst. Er ist zu erschöpft, um zu fliehen. Minho ist bewusstlos. Sie sind irgendwo im nirgendwo. Was werden die Männer ihnen jetzt antun?
Die Männer mustern Seungmin und Minho. Seungmin hält Minho immer noch fest in seinen Armen. „Geht es deinem Freund gut?“, fragt der größte wieder. Soll Seungmin ihnen von Minhos Verletzung erzählen? Wahrscheinlich ist Ehrlichkeit sinnvoller. Seungmin wurde immer stärker bestraft, wenn er gelogen hat. Deswegen schüttelt Seungmin wieder den Kopf. „Er hat sich sein Bein verletzt. Wir sind auf dem Weg, um Hilfe zu suchen“, erklärt er hastig. Wieder tauschen die Männer Blicke und ein Angstschauer läuft Seungmin den Rücken hinunter. „Du brauchst keine Angst vor uns haben“, sagt einer der Männer, die bislang geschwiegen haben. Er hat eine erstaunlich tiefe Stimme, findet Seungmin. Überzeugt hat ihn die Aussage des Mannes allerdings nicht. Also schweigt Seungmin einfach. Der große Mann seufzt. „Zeig die Verletzung deines Freundes mal. Vielleicht können wir ihm helfen.“ Seungmin mustert ihn argwöhnisch. „Du brauchst keine Angst haben“, beteuert der große Mann. „Guck.“ Um es zu beweisen, zeigt der Mann Seungmin Verbandmittel in seinem Rucksack. Also lässt Seungmin Minho vorsichtig zu Boden und streicht ihm die Haare aus dem Gesicht. Als Seungmin wieder zu dem großen Mann aufblickt, ist dieser ganz steif geworden. „Ist das Minho?“, fragt er dann langsam. „Minho Lee?“ Und es macht ‚Klick‘ in Seungmins Kopf.
Minho hatte schon vor einigen Tagen erwähnt, dass es nicht mehr allzu weit zu dem Lager entfernt sein sollten. Zu dem Zeitpunkt hatte Seungmin das allerdings noch nicht für wahr gehalten. Jetzt ist es aber wohl wahr geworden. Das ist dann wohl Hyunjin. Oder jemand, den Minho in seiner Zeit im Lager getroffen hatte. Oder jemand aus seiner Vergangenheit. Aber das hält Seungmin für nicht besonders wahrscheinlich.
„Hyunjin?“, fragt er deswegen vorsichtig. Dieser schnalzt mit seiner Zunge. „Er erzählt also von mir. Nachdem er einfach so verschwunden ist. Und mich ganz offensichtlich ersetzt hat.“ Seungmin seufzt. „Können wir die persönlichen Differenzen für den Moment in der Vergangenheit lassen und uns auf jetzt konzentrieren? Minho ist vorhin gerannt und das hat ihm gar nicht gut getan.“ Hyunjin steht dort immer noch wie versteinert. Dafür setzt sich jetzt der dritte Mann in Bewegung. Er ist von den dreien definitiv der jüngste. Er hockt sich neben Seungmin. „Wo ist die Verletzung denn? Und er ist sicher nicht gebissen worden?“ Seungmin zieht Minhos Hosenbein hoch und deutet auf den improvisierten Verband. Er ist wieder ziemlich rot. Die Wunde ist also wieder aufgegangen. „Nein, er ist nicht gebissen worden. Er hat eine Glasscherbe in den Unterschenkel bekommen. Ich weiß nicht genau, wie das passiert ist“, erklärt er dem Mann. Dieser nickt und beginnt den Verband zu lösen. Seungmin bleibt neben ihm hocken und beobachtet, wie der Mann die Wunde säubert, desinfiziert (woher er wohl das Desinfektionsmittel bekommen hat?) und dann neu verbindet. Minho schreckt kurz hoch, als der Mann das Desinfektionsmittel aufträgt, ist aber nach wenigen Sekunden wieder weg. Er muss wirklich an den Enden seiner Kräfte sein. Erst als der Mann fertig und aufgestanden ist, setzt sich Seungmin etwas bequemer hin. Er kann jetzt nicht mehr stehen. „Wir sollten die beiden mit ins Lager nehmen. Minhos Wunde sieht wirklich übel aus. Sie muss defintiv genäht werden“, sagt der dritte Mann in die Runde. Hyunjin sieht immer noch sehr sauer aus, nickt aber trotzdem. „Das wäre das sinnvollste“, sagt er. Auch der zweite Mann stimmt zu. Seungmin wird nicht nach seiner Meinung gefragt und Minho ist immer noch bewusstlos. Also steht es fest: Seungmin geht mit drei Fremden, von denen einer etwas gegen Seungmins Weggefährten hat, in ein Lager. Seungmins Albtraum geht in Erfüllung. Die Angst steht wieder neben Seungmin. Einen Moment fällt es Seungmin schwer von ihr wegzuschauen. Dann schließt er die Augen und macht seine Atemübung. Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden halten und dann acht ausatmen. Das ist alles für Minho. Minho braucht Hilfe und Seungmin hat versprochen, dass er bleibt, bis er Minho auf zwei Beinen stehen und tanzen sieht. Seungmin schafft das. Für Minho.
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