Milan, 6
Heute fuhr er weder zu langsam noch zu schnell, also brauchte er knapp eine halbe Stunde, bis er die Stelle erreichte, an dem sich gestern Abend der Unfall ereignet hatte. Zumindest glaubte er das, ganz sicher konnte er sich noch nicht sein, es war schließlich stockfinster gewesen. Milan stieg ab und zog sich den Helm vom Kopf. Erfolglos versuchte er seine Haare einigermaßen zurechtzurücken. Coron, der stets brav über ihm geflogen war, senkte sich jetzt auf den Teer und ging auf allen vieren neben Milan her, der den Straßenrand entlang schritt und die schrecklichen Bilder verdrängte, die sich in seinem Kopf auszubreiten drohten. Das half jetzt nicht, er musste die verfluchte Bremspedale finden und dann sein Motorrad nach Blutspuren untersuchen, um die Sache von gestern Nacht schnellstmöglich aufzuklären und dann wieder gut schlafen zu können. Milan atmete langsam aus und setzte seinen Weg fort.
Er hatte sich anscheinend doch ein wenig verschätzt, denn er musste noch gute hundert Meter gehen und Coron beschwerte sich bereits zischend, bis er nach einer Weile verdächtig stark eingedrücktes Gras am Rande der Straße fand. Kurz drückte er die Halme auseinander, um nach sonstigen Spuren zu suchen und tatsächlich fand er getrocknete Erde, die im Vergleich zu anderen Stellen, ziemlich aufgewühlt aussah. Der Drache schnüffelte munter umher, verschwand teilweise komplett in dem hohen Gras und trat dann noch mehr Gras nieder, wenn er empört über die fehlende Sicht umhersprang. Milan wollte sich schon wieder abwenden, als etwas im Gras, das Coron gerade niedergemäht hatte, in dem schwachen Sonnenlicht aufblitzte. Er beugte sich hinunter und schlagartig wurde ihm klar, was es war. Er hob sofort das schwarze lederne Armband auf, das eine silberne, sich um das ganze Band schlängelnde, Einlassung hatte. Hazel hatte es ihm vor ein paar Monaten geschenkt, als sie genau ein Jahr zusammen waren. Damals war das Kunstleder noch hart und unnachgiebig gewesen, aber nachdem Milan es jeden Tag am Handgelenk trug, wurde es nicht nur geschmeidiger, sondern leider auch abgewetzter. Das Silber dagegen glänzte jeden Tag genauso hell und blendend wie am Anfang und Milan hatte das Armband wirklich gerne getragen. Nur jetzt,... war es quasi zerstört. Das Leder war an einer Seite eingerissen und stand vom Rest des Armbands widerspenstig ab. Das meiste vom Silber war vom Matsch verdreckt und teilweise sogar ganz herausgerissen. Traurig betrachtete Milan das Geschenk und steckte es dann in seine Jackentasche. Sogar der Verschluss war durch den Aufprall von Milan abgerissen.
Danach ging Milan auf die Straße und horchte kurz, ob ein Auto zu hören war, aber alles war still, außer eine leichte Brise, die durch die Gräser rauschte und Corons Krallen, die über den Asphalt kratzten.
Sein Eindruck von gestern Nacht trügte ihn nicht; es war kaum Blut auf der Straße. Leichte Schlieren, mehr nicht. Milan ging ein paar Schritte die Straße hinunter und tatsächlich: auch hier waren bereits Blutspuren, obwohl Milan ja erst weiter oben mit dem Wesen zusammengeprallt war. Erleichtert atmete Milan auf, es war also nicht der Unfall gewesen, der das Wesen so zugerichtet hatte. Das würde er aber später noch an seinem Motorrad überprüfen. Dann ging Milan weiter zu dem Dornengestrüpp, an dem er jetzt wohl oder übel noch ein paar neue Kratzer bekommen würde. Coron dagegen blieb noch auf der Straße und schnüffelte hartnäckig an dem Blut; selbst nachdem Milan nach ihm pfiff. Er wuselte herum und ließ hin und wieder ein Zischen verlauten. Dann erst folgte er dem Befehl von Milan und gesellte sich zu ihm. Der Wind nahm an Geschwindigkeit zu und ließ Milans Haare in seine Stirn fliegen. Genervt versuchte er verzweifelt seine schwarze Mähne zu bändigen, aber er scheiterte gnadenlos. Ein Friseurbesuch war wirklich wieder fällig. Er drückte das Gestrüpp vorsichtig auseinander und ließ seinen Blick über die kleine freie Stelle am Boden wandern. Nichts. Also suchte er an einer anderen Stelle, während Coron die Gegend erkundete. Da. Das schwarze Pedal lag direkt bei dem Felsen, an dem sogar etwas Stein abgesplittert war. Ein Stein fiel von Milans Herzen, als er sie aufhob und ebenfalls in seiner Jackentasche verstaute. Ein Schritt war geschafft. Niemand konnte jetzt noch beweisen, dass er gestern hier gewesen war. Er pfiff Coron, der irgendwo in der Ferne rumorte, aber der kleine Drache reagierte nicht auf Milans Pfiff; das war ungewöhnlich. Coron war sehr gut trainiert worden. Es war jetzt deutlich abgekühlt, also steckte Milan die Hände in die Jackentaschen, ertastete links das Armband und rechts die Pedale. Dann ging er mit gesenktem Kopf die Straße entlang hinunter, um nach Coron zu suchen. Er musste nur ein paar Schritte weit gehen, dafür aber wieder ins Gebüsch. Milan seufzte und folgte dem Gemeckere seines Drachens, das aus einem Brombeerstrauch ertönte. „Coron...", setzte er an und dann hörte er das typische Einatmen von Coron, wenn dem etwas gewaltig gegen den Strich ging. „Aus!", brüllte Milan noch und stolperte ein paar Schritte zur Seite, aber da war es schon zuspät. Das Gebüsch vor ihm ging in Flammen auf; Corons Feueratem durchbrach die winzigen Ästchen und verwandelte die Brombeeren in glühend rote Kügelchen. „Aus!", rief Milan erneut wütend und sofort schwächte sich das brennende Rot vor ihm ab, aber trotzdem änderte das nichts daran, das der Brombeerstrauch bereits Feuer gefangen hatte. Erneut setzte Corons Heulen ein und Milan riss sich verzweifelt die Jacke vom Körper und versuchte die Flammen einzudämmen. Glücklicherweise legte sich genau jetzt der Wind ein wenig und das Feuer breitete sich nicht aus und Milan hatte es schnell erstickt. Er starrte jetzt mit pochendem Herzen auf den schwelenden, angekokelten Strauch vor ihm und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Zitternd und vorsichtig lugte Coron hinter den angesengten Blättern hervor. Seine grünen Augen blitzten unschuldig. Milan seufzte resigniert, als er sah warum sich Coron so aufgeregt hatte; sein linkes Hinterbein hatte sich in einem anderen Strauch verheddert, die spitzen Stacheln hatten sich trotzig in den Schuppen verbissen und Coron hatte es nicht befreien können. „Ruhig, Kleiner." Er streichelte Corons Kopf, während er sich an dem verbrannten Gebüsch vorbei zwängte, wobei etwas Ruß an seiner Hose hängen blieb, und dann an dem Bein von dem Drachen herumnestelte. Vorsichtig löste er einen Stachel nach dem anderen und befreite Coron schließlich ganz. Der zog sofort das Bein an und sprang munter hin und her und wollte sich an Milan schmiegen, aber der ging einen Schritt zurück und deutete auf den verbrannten Busch. „Nein! Das hätte einen ganzen Brand auslösen können! Wir hätten beide sterben können, verstehst du?" Coron fiepte und blickte ihn traurig an. Dann tauchte er wieder in einem mit Stacheln und Dornen geschützten Gebüsch unter, und nur sein Schweif lugte noch hervor. Milan runzelte die Stirn, ließ ihn aber. Coron schmollte nie oder beging denselben Fehler zweimal, also musste es einen Grund haben, warum er diesen Ort so dringend untersuchen musste. Er hoffte nur, es war kein Nagetier, dessen Spur der Drache erschnüffelt hatte.
Wenn Milan etwas auszeichnete, dann seine Geduld. Er lehnte sich gegen eine nahestehende Eiche, zog die Jacke wieder an, überprüfte ob beide Gegenstände noch da waren und wartete dann auf seinen Drachen. Coron brauchte weniger lang, als Milan erwartet hatte. Das Gebüsch raschelte und der Drache zwängte sich an den Stacheln vorbei, blieb dieses Mal nirgends hängen, und setzte sich dann brav vor Milan und zeigte ihm stolz seinen Fund. Ein schwarzes Band hing ihm aus dem Maul und Milan nahm es ihm behutsam ab. Es war kein Stoffband wie er zuerst vermutet hatte, sondern ein Plastikring, dessen Verschluss aufgegangen und an dem ein rotes Kärtchen befestigt war. Durch Corons Speichel war es etwas aufgeweicht und auch Matsch klebte daran, aber trotzdem war es noch einigermaßen lesbar. W7 – Tihmo stand da mit schwarzer Druckerfarbe. Darunter noch etwas. Milan wischte vorsichtig mit seinem Daumen darüber. V1. „Was ist das?", murmelte er zu sich selber und dann fiel es ihm siedend heiß ein. Matsch. Heute war es trocken, gestern Nachmittag dagegen hatte es geregnet und den Boden aufgeweicht. War es möglich, dass der Werwolf das bei sich hatte? Vielleicht um eine Pfote herum und es beim Unfall aufgegangen war? Aber wie war es in die Büsche gelangt? Wenn es auf der Straße gelegen hätte, hätten die Leute von Alcedo es bestimmt mitgenommen. Milan hob Coron hoch und ging mit ihm zur Straße und ließ ihn dann vor dem Blut wieder los. Er deutete auf den rötlichen Schimmer und dann auf das Kärtchen. „Hat das denselben Geruch? Hat dich diese Spur zu dem Band gebracht?" Coron blickte von der Straße hoch zu seinem Fund, dann wieder zurück. Er hechelte und bewegte seinen Kopf, was einem Nicken gleich kommen könnte. „Braver Junge, gut gemacht. Naja, außer das mit dem Feuer." Milan grinste leicht, dann ließ er das Band ebenfalls in die Tasche gleiten. Heute hatte er mehr gefunden, als er ursprünglich dachte. Kurz kam ihm der Gedanke, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er Coron nachhause geschickt hätte, statt ihn weiter suchen zu lassen und er nicht den Ring gefunden hätte. Ihn schauderte, als er an die merkwürdigen Buchstaben dachte. Außer Tihmo, das war klar. Der Name des Werwolfs. Oder verrannte sich Milan da in eine Sache? Er würde es herausfinden müssen.
Mittlerweile neigte sich sogar der Tag seinem Ende zu und Milan beeilte sich nun, zu seinem Motorrad zu gelangen und halb hatte er plötzlich das irrationale Gefühl, das es verschwunden sein könnte, aber als er zu der Stelle gelangte, an der er es abgestellt hatte, war es immer noch da. Pechschwarz und irgendwie einsam am Rand der Straße. Schnell checkte er es auch nach noch so kleinen Blutspuren, aber nur ganz vorne am Schutzblech klebte ein Büschel Fell mit einer blutigen Masse überzogen. Das war bei weitem nicht genug, um den Werwolf so zu entstellen. Er entfernte das Fell angewidert und wollte es erst ins Gras werfen, aber dann besann er sich und beschloss, es in der Stadt in einem öffentlichen Mülleimer zu entsorgen. Nur um sicherzugehen. Er quetschte es neben das Bremspedal in die Tasche und würgte fast. Dann wischte er mit dem Ärmel grob über das Blech, um das spärliche Blut zu verwischen. Auch das würde er zuhause gründlicher machen.
Erst nachdem Milan bereits wieder die Straße nach unten fuhr viel ihm auf, dass die ganze Zeit über kein Fahrzeug an ihm vorüber gefahren war. Die Straße war zwar wenig befahren, aber trotzdem nicht komplett non-existent für die Wesen. Coron flog die ganze Zeit still und leise wie gewohnt über ihm, als er plötzlich zu laut zu zischen begann. Milan wollte nicht anhalten, weil er schnellstmöglich wieder nachhause wollte, aber im Nachhinein wünschte er sich, er hätte auf die Weitsicht und Instinkte seines Drachens gehört, wie er es sonst auch immer tat.
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