Milan, 5

Als das Auto schließlich in die Auffahrt bog, war es erst dreiviertel zwei, aber Milan war bereits erschöpft, obwohl er nur seit ein paar Stunden auf den Beinen war. Er stieg aus und hielt die Tür für Coron auf, der schläfrig aus dem Fußraum des Fahrzeugs wankte. Er gähnte, dabei entblößte er seine spitzen Zähne und kleine Funken wirbelten um sein Maul herum. Milan ging zur Türe und klingelte. Natürlich hatte er heute seinen Schlüssel nicht dabei. Er verdrehte die Augen, als auch schon die Tür aufgerissen wurde. Jeny grinste ihn mit ihren weißen, geraden Zähnen an, neben ihr saß Suna, die ihn neugierig begutachtete. „Hi. Wo warst du? Ich dachte, du wolltest heute nicht in die Uni. Was war los? Ich bin auch grade erst nachhause gekommen. " Er drückte sich an ihr vorbei ins Haus: „Vergiss nicht zu atmen." Milan blieb stehen und drehte sich um. Er musterte seine Schwester. Lebhaft und nervig wie immer. „Ich bin krank und deswegen war ich gerade beim Arzt, klar?" „Oh. Was hast du denn?" Jen folgte ihm die Treppe hinauf. Sie war letztes Jahr von der verpflichtenden Gesamtschule für alle Kinder von sechs bis zwölf Jahren auf die Privatschule zur Förderung magischer und nichtmagischer Begabungen gewechselt und seitdem unersättlich an Wissen. Auch was private Angelegenheiten anging. „Nichts. Kopfschmerzen." „Und deswegen bist du zuhause geblieben und zum Arzt gefahren?"

Milan war jetzt in seinem Zimmer, stand im Türrahmen und verhinderte so, dass Jen auch in den Raum schlüpfen und weitere Fragen stellen konnte. „Ganz genau. Sag Ma, dass ich später runterkomme und dann mit ihr rede." Jen öffnete protestierend den Mund, aber Milan schnitt ihr das Wort ab: „Kannst du das machen? Ja? Danke." Er schlug die Tür vor ihrer Nase zu und schnell schnappte er sich noch zwei kleine Schmerztabletten. Dann setzte er sich aufs Bett, lehnte sich an die Wand und rieb sich mit dem Handrücken -bei den Handinnenflächen hatte er sich leider die Haut ein wenig abgewetzt- über die Stirn, um nachzudenken. Das Pochen und der Schmerz verblasste und so würde es auch die nächsten Stunden bleiben. Er hatte sich schon während der Autofahrt nachhause den Kopf über die Information zerbrochen, die er am Empfang erfahren hatte, war aber nicht wirklich schlau darüber geworden. Sie hatten also selten schwere Fälle. Und keine aktuellen. Plötzlich bekam Milan erhebliche Zweifel an seiner vorherigen Annahme, dass der Werwolf schon vorher so schlimm ausgesehen hatte. Was war, wenn der Aufprall vom Motorrad dem Wesen so zugesetzt hatte? Das würde erklären, warum der Werwolf danach nicht mehr laufen konnte, was er ja zuvor mehr als schnell getan hatte. Das war ja auch unmöglich, niemand konnte so schwer verletzt die ganze Landstraße hinaufhetzten. Es musste der Aufprall gewesen sein. Aber andererseits war der Werwolf ja nicht nur verletzt, sondern komplett zerfetzt gewesen. Er hätte tot sein müssen. Daran bestand kein Zweifel. Er überlegte weiter, es musste eine logische Erklärung für all das geben. Wenn es tatsächlich Milan war, der die Verletzungen ausgelöst hatte, dann mussten mehr als deutliche Blutspuren am Motorrad zu sehen sein. Plötzlich wurde Milan heiß und kalt zugleich. Er sprang auf, schnappte sich seinen Schlüsselbund vom Schreibtisch, zwang sich dann betont langsam und normal, die Tür zu öffnen und die Treppe hinabzusteigen. Er hörte Jenniver und Jeny im Wohnzimmer miteinander reden, ihre Stimmen verstummten plötzlich. „Milan!", hörte er seine Mutter rufen. „Gleich! Muss noch schnell was erledigen", rief er zurück, nahm sich seinen Helm von der Kommode im Eingangsbereich, schlüpfte in seine Sportschuhe und riss die Haustür auf. Coron musste seine aufgewühlte Stimmung gemerkt haben, denn der flitzte über seinen Kopf hinaus in die warme und stickige Luft und kreiste ein paar Meter über Milan unter der Nachmittagssonne. Der sprang gerade auf das Motorrad, als er eine Gestalt an der Türe stehen sah. „Mama sagt, du sollst sofort ins Haus kommen!", hörte Milan die genervte Stimme von Jen schreien. Egal, dachte Milan, soll sie halt sauer werden. Ich bin volljährig und kann machen, was ich will. Er wendete das Motorrad und fuhr auf die Straße hinaus, während die Stimme seiner Schwester immer leiser wurde und schließlich im Lärm der Großstadt verblasste.


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Noch nicht überarbeitet. Milan (Band 1) ist beinahe abgeschlossen und wird bald überarbeitet. Updates werden eher langsamer erfolgen, bis ich auch Band 2 und 3 fertig habe.
Feedback erwünscht.

Ines

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