Milan, 3

Milan wurde aus seinem Schlaf gerissen, als ihn eine Hand energisch an der Schulter rüttelte. „Milan, du hast verschlafen!"

Der drehte seinen Kopf, seine verklebten Augen wollten sich kaum öffnen und so erkannte er nur verschwommen die kleine Gestalt seiner Schwester, ihre schwarzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die Hände vor der Brust verschränkt: „Mama sagt, du sollst sofort-"

Milan unterbrach sie ungeduldig murmelnd, „ich geh heute nicht." Damit ließ er Jen laut polternd die Treppe hinunterstürmen. Er schloss wieder die Augen, das Brennen unter seinen Augenlidern hörte augenblicklich auf und Milan fiel zurück in seinen ersehnten Schlaf. Aber dieses Mal war sein Unterbewusstsein nicht so gnädig mit ihm und es füllte seinen Kopf mit Bildern von zerfetzten Wölfen, die vor einem blutigen Horizont von einem Motorrad geschleudert wurden und dann laut kreischend eine unendlich tiefe Klippe hinabstürzten.

Einige Stunden später wachte Milan mit höllischen Kopfschmerzen auf und er bemerkte, dass seine linke Schulter schmerzte. Sein Mund war trocken und fühlte sich pelzig an, mit einem unangenehmen Nachgeschmack. Allgemein fühlte er sich verkatert und er wünschte sich es wäre tatsächlich nur das. Leider war ihm gestern Nacht nur allzu genau in Erinnerung geblieben. Keine Chance, dass das nur ein Traum war. Stöhnend richtete sich Milan auf und sein Blick richtete sich als erstes auf die runde Uhr, die neben seinem Bett an der weißen Wand hing. Elf Uhr dreizehn. Verdammt, er hatte wirklich lange geschlafen. Jeny musste ihn so circa um sieben Uhr dreißig, vielleicht sogar noch später, geweckt haben, da die erste Vorlesung schon um acht begann und ihre Mutter Jenniver es nicht leiden konnte, wenn Milan zu spät zur Uni kam. Es würde ein schlechtes Licht auf ihn werfen und das möchte sie nicht. Er seufzte, seine Mutter würde über seiner Entscheidung zuhause zu bleiben nicht erfreut sein und eine Erklärung verlangen. Die er nicht unbedingt liefern wollte. Er wollte zuerst selbst ausgiebig darüber nachdenken.

Egal, jetzt brauchte er erstmal was zu essen. Also rappelte er sich auf und ging schlurfend aus seinem Zimmer hinaus. Kaum hatte er die Tür geöffnet, sprang ihm schon ein aufgedrehtes Schuppenbündel entgegen und klammerte sich an sein T-Shirt. Die stumpfen Krallen drückten gegen den Stoff und Coron zischte vergnügt, während er am Ärmelsaum bei der linken Schulter mit seiner Schulter herumnestelte. „Na Kleiner. Hab dich auch vermisst", Milan streichelte gedankenverloren den schuppigen Kopf, bis er plötzlich zusammenzuckte und Coron aus Reflex wegdrückte. Dieser jaulte verwirrt, streckte seine Flügel aus, mittlerweile betrug die Flügelspannweite schon knapp eineinhalb Meter, und senkte sich auf das Geländer vor Milan nieder. Er beobachtete ihn mit scharfen Augen, während Milan fluchend sein T-Shirt abstreifte und dann seine malträtierte Schulter begutachtete. Sie war blau-violett verfärbt; anscheinend hatte er den Sturz doch nicht ganz unbeschadet überstanden. Wieso hatte er das gestern nicht mitbekommen? „Danke Adrenalin", murmelte Milan, zog sein Shirt wieder an, biss die Zähne zusammen und blickte seinen Drachen dann entschuldigend an. Schließlich stieg er die Stufen hinab, Coron folgte ihm elegant auf dem Geländer nach unten.

Seine Mutter musste seine Schritte gehört haben, denn er hörte sie durch den Flur rufen: „ Essen ist fertig und frisch zubereitet, Liebling." Milan grummelte nur und trat dann in das Esszimmer, in dem es köstlich nach Pilzsuppe roch. Die Haushälterin Martah brachte ihm eine Suppenschüssel mit Besteck. „Guten Morgen Milan", lächelte sie ihn an und er erwiderte den Gruß. Danach stellte Martah auch noch eine Schüssel für Coron an die Wand, der sich augenblicklich darauf stürzte. Der Drache war wirklich unersättlich.

Milan hatte kaum angefangen zu essen, da hörte er im Flur eine Tür, die geschlossen wurde, und kurze Zeit später trat Jenniver durch die Tür und lächelte ihren ältesten Sohn an. „Na gut geschlafen?", sie hob eine Augenbraue , aber ihr Lächeln blieb liebevoll. Nolan hatte sein Muster ganz klar von Jenniver geerbt. Die hellgrünen Streifen über ihrer Nase ließen sie lebhaft und immerzu fröhlich wirken. Hinter ihr hoppelte Milia, ein brauner Hase, von dem sich seine Eltern namentlich für ihr erstes Kind inspiriert haben lassen, in das Esszimmer. Sie legte ihren Kopf schief und wackelte mit ihren Ohren. Die grünen Streifen in ihrem Gesicht fielen Milan immer als erstes bei ihr auf.

Er blickte seine Mutter an. „Geht. Hab nur ziemliche Kopfschmerzen." Sie nickte, dann fiel ihr Blick auf seine Hände. Ihre Augen wurden schmal, „und die Kratzspuren?" Milan wich ihrem Blick aus, „tja, blöde Geschichte. Da war dieser Dornbusch und du weißt ja wie tollpatschig ich manchmal sein kann..." Er strich seine verwuschelten Haare verlegen nach hinten.

Jetzt verlor Jennivers Lächeln eine Spur an Geduld. „Milan", fing sie an, „dein Motorrad draußen ist beschädigt und Milia hat an meinem Bett gekratzt, als du um ein Uhr morgens nachhause gekommen bist."

Milan fühlte sich ertappt, obwohl er doch eigentlich nichts verbrochen hatte. Nur etwas beobachtet hatte, was ziemlich sicher nicht geschehen hätte sollen. Er schauderte, aber noch bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, sprach seine Mutter weiter: „Warst du noch mit Hazel feiern und hast dann dein Motorrad versehentlich in irgendeinen Graben gefahren?" Jetzt hatte ihre Stimme etwas vorwurfsvolles, aber Milan konnte auch mütterliche Sorge heraushören. Meistens traf Jenniver mit solchen Vermutungen ins Blaue, aber nicht heute. Milan räusperte sich, schüttelte den Kopf. Wenn er dieser Geschichte jetzt zustimmen würde, dann würde seine Mutter ganz sicher bei Hazel zuhause anrufen und nachfragen. Also versuchte er es mit der halben Wahrheit: „Ich bin gestern einfach zu schnell auf der Landstraße gefahren, mir hat's einen Reifen weggezogen und schon bin ich auf der Straße gelandet und war wahrscheinlich ein paar Stunden bewusstlos." Milan zuckte mit den Schultern und grinste schief, „ist halb so wild."

Jenniver schlug entsetzt die Hand vor den Mund und setzte sich neben ihren Sohn. Jetzt war sie definitiv besorgt. „Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte dich sofort abgeholt." Sie tätschelte seine Schulter und Milan zuckte zusammen. Verdammt, dachte er, jetzt gibt's Ärger. „Zeig mir deine Schulter", forderte Jenniver. Milan zog gequält das Shirt über die blaue, geschwollene Schulter und ließ es dann wieder zurück gleiten. „Ich bring dich sofort ins Krankenhaus! Die müssen sich um deine Schulter kümmern und dich auch wegen einer möglichen Gehirnerschütterung untersuchen. Wer weiß, was passieren kann bei so einem Unfall! Du musst mir versprechen vorsichtiger zu fahren Milan! Vor allem mit diesem altmodischen Fahrzeug." Besorgt blickte sie ihn noch ein wenig länger an, dann sprang sie auf und zog Milan vorsichtig vom Stuhl hoch. „Ich kann alleine zum Arzt gehen, Ma", maulte Milan und pfiff Coron. Kurz schien Jenniver mit sich selbst zu ringen, dann nickte sie ergeben. „Aber du nimmst das Auto und kommst dann sofort wieder nachhause, verstanden?" Milan nickte, ließ die halbvolle Schüssel stehen, wobei er Martah Bescheid gab, dass er das später noch aufessen würde und stieg dann die Treppe wieder hoch. Sein Magen knurrte protestierend, aber Milan würde auf dem Weg einfach noch beim Bäcker vorbeischauen. Jenniver blickte ihm stumm hinterher, selbst nachdem er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Schnell duschte sich Milan kalt und fühlte sich mit einem Mal frischer und gestärkt. Er wollte herausfinden, was genau gestern passiert war. Und jetzt hatte er auch einen Plan.

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