Milan, 2
Der Mond stand bereits hoch am Himmel, als sich Milan rührte, sich vorsichtig umsah und dann aus dem Grasmeer stieg. Seinen Helm hob er ebenfalls auf.
Es waren nach dem Unfall, wie Milan beschlossen hatte den Vorfall zu nennen, nur wenige Fahrzeuge vorbeikommen und keines hatte das Motorrad, geschweige denn etwaige Blutspuren auf dem Asphalt, bemerkt. Sie waren besonders hier im Mondlicht beinahe unsichtbar und wenn man nicht wusste, wonach man suchen sollte, würde man sie auch nicht bemerken. Außerdem waren solche Blutspuren nicht wirklich ungewöhnlich; man würde einfach annehmen können, es seien zwei Seelentiere gewesen, die sich etwas zu sehr gebalgt hatten. Mit einem kurzen Stich, dachte Milan an die beiden Seelentiere seiner Geschwister. Der weiße Fuchs von Jeny und Nolans Marder. Die taten das oft und nicht selten war ein Rangkampf der beiden erst gewonnen, wenn Blut geflossen war. Das tat natürlich auch der Beziehung ihrer Besitzer nicht gut; Nolan und Jeny waren beinahe immer im Streit. Milan schüttelte den Kopf, um diese Gedanken jetzt aus seinem Kopf zu verbannen, das war gerade nicht wichtig. Er ging auf die andere Seite der Straße, um sein Motorrad zu suchen. Und jetzt wusste er auch, warum es von allen übersehen wurde: Es war tatsächlich bis auf den Seitenstreifen gerutscht, wobei es hier nicht wie Milan von langen Halmen verschluckt wurde, sondern gegen einen mannshohen Stein geprallt war und dann in dem Dornengestrüpp, das die Felsengruppe stachelig schützte, liegen geblieben. Milan schloss die Augen und atmete tief ein. Es war nur ein Motorrad, dachte er, aber hoffte gleichzeitig, dass es nicht komplett durch den Aufprall zerstört wurde. Er drückte die Äste beiseite und fluchte, als die spitzen Dornen an den Ärmeln seiner Jeansjacke kratzten und den Stoff immer weiter aufrissen, je tiefer er sich dem Lenker des Motorrads entgegenstreckte. Schließlich bekam er ihn zu fassen und hievte ihn mit seinen steifen Gelenken wieder auf die Räder. Danach schob er das Motorrad wieder zurück auf die Straße und begutachtete im Mondlicht so gut es ging den möglichen Schaden. Das Blech an der Seite war etwas eingedrückt und das rechte Bremspedal war heruntergerissen. Verdammt, Milan fasste sich an die Stirn, hinter der sich schlimme Kopfschmerzen ankündigten. Er beschloss, morgen tagsüber zurückzukehren, um nach dem Pedal zu suchen. Nur um sicherzugehen. Milan wollte nirgends hineingeraten, nur weil er unvorsichtig war; aber jetzt in der Dunkelheit zu suchen, hätte keinen Sinn. Jetzt wollte er sowieso nur nachhause. „Oh nein", stöhnte Milan. Hazel. Er hatte ihr versprochen vorbeizukommen. Egal, ich entschuldige mich morgen bei ihr. Sie wirds verstehen. Milan setzte sich den Helm auf und schwang sich wieder auf seine Maschine, aber er zögerte noch loszufahren. Was wollte er eigentlich Hazel und seiner eigenen Familie erzählen? Das er gerade sowas wie eine versuchte Flucht von einem entstellten Werwolf beobachtet hatte und Leute von Alcedo den eingefangen hatten? Das klang sogar jetzt in Milans Ohren lächerlich. Er brauchte erst einmal einen klaren Kopf, dann konnte er das besser verstehen und überdenken. Milan startete den Motor und fuhr los, langsamer und vorsichtiger als noch vor ein paar Stunden.
Nach zwanzig Minuten, in denen sich Milan mit kriechendem Tempo die Landstraße hinuntergeschlängelt hatte, bog er auf die Bundesstraße ab und fuhr danach weiter zur Hauptstadt. Die Straße wurde wieder belebter und zahlreiche Autos überholten Milan, einmal rannte sogar ein tiefschwarzes Tier an dem Fußweg neben ihm vorbei und obwohl es vermutlich nur ein schwarzer Seelenhund war erschreckte sich Milan dabei sosehr, dass er kurz nach links in die Gegenfahrbahn ausscherte. Grelle Lichter blendeten ihn und er hörte die summende Alarmanlage des Autos, das die brummende Straßengeräuschkulisse zerschnitt. Schnell riss Milan das Motorrad wieder zurück auf seine Seite der Straße. Das Auto fuhr haarscharf an ihm vorbei, das Summen verstummte. Danach war es still. Milan wagte einen kurzen Blick zum Fußweg, der leer neben ihm vorbeiraste. Reiss dich zusammen! Es gibt tausende Werwölfe in der Stadt und die Fußwege sind eben dafür da, dass sich Wesen auf ihnen fortbewegen, deswegen musst du nicht gleich nochmal in einen Unfall verwickelt werden. Ein zweites Mal hast du bestimmt nicht so viel Glück! Dann landest du vielleicht direkt zwischen den Reifen.
Milans eigene Gedanken wurden ihm unheimlich, obwohl er sich selbst nur ermutigen wollte. Er zwang sich an etwas Positives zu denken. Das viel ihm tatsächlich nicht schwer; Coron würde es fühlen, dass er heute doch nachhause kam, also würde er aus seinem Schlafnest tappen, durch die Klappe nach draußen spazieren und vor der Türe auf ihn warten. Dort würde er es sich gemütlich machen, bis Milan auftauchte und ihn dann mit seinen klugen grünen Augen mustern. Einen kurzen Moment überlegte Milan, warum Coron nicht zu ihm geflogen war, in der Zeit als er noch im Gras lag. Aber eigentlich wusste er die Antwort; Coron hatte zwar ein sehr gutes Gespür für Milans Gefühle entwickelt und konnte verstehen, was von ihm erwartet wurde, aber er hatte keine Seelenverbindung zu Milan, die über eine grenzenlose Distanz bestehen blieb, also konnte Milan nicht erwarten, dass Coron die missliche Lage seines Besitzers in so weiter Ferne wahrnahm. Er war kein echtes Seelentier, welches Milan eigentlich hätte haben müssen, aber nie aufgetaucht war. Bei seinen jüngeren Geschwistern war es anders; ihre Tiere waren bereits im Laufe ihres ersten Lebensjahres aufgetaucht. Mit derselben farbigen Musterung im Gesicht, wie ihre Besitzer. Nolans hellgrüne Punkte unter seinen Augen und den geschwungenen Linien über seine Wangen und seinem Nasenrücken spiegelten sich exakt so auf Neros Gesicht, seinem kleinen, flinken Marder, wieder. Dasselbe galt für den weißen Fuchs Suna von Jeny. Türkise Sprenkel, die bei Jeny wie Sommersprossen aussahen. Milan hatte sich früher, bevor er Coron bekommen hatte, immer gefragt, auf welchem Tiergesicht er seine dunkelgrüne, dreieckige Musterung unter seinen Augen finden würde. Aber darauf würde er wohl nie eine Antwort finden und Milan hatte sich damit auch längst abgefunden. Nur selten dachte er an sein eigenes Seelentier. Nur in Momenten wie diesen, wenn er sich anders als die restlichen Seelenfühler fühlte, weil er einsam und Coron nicht bei ihm war. Alle Seelenfühler besaßen solche Muster und die meisten hatten auch ihre zugehörigen Seelentiere. Die Seelenverbindung baute sich dann bei dem ersten körperlichen Kontakt auch für den Seelenfühler spürbar auf, davor konnten nur die Seelentiere ihren vorbestimmten Besitzer aufspüren.
Naja, bei den meisten. Milan schnaubte. Sein Dad hatte ihn immer getröstet und gesagt, manche Seelentiere schafften den langen Weg durch das Gebiet von Frieden, dann Harmonie und schließlich Zukunft einfach nicht. Das bedeutete aber nur, dass sein Tier mächtig gewesen sein muss und deswegen Wilderer es besonders darauf abgesehen hatten. Seelentiere wurden zwar auf ihrer Reise sehr streng geschützt und es stand unter hoher Strafe, ein Seelentier daran zu hindern, den Besitzer zu erreichen, aber dafür waren die gemusterten Felle auf dem Schwarzmarkt verdammt wertvoll.
Deswegen hatte Milan Coron zu seinem sechszehnten Geburtstag bekommen. Erst dann war es einem Wesen erlaubt, einen Drachen zu halten und das auch nur nach langen, komplizierten Aufnahmeverfahren und natürlich einem Haufen Geld. Aber darüber musste er sich bei seinen Eltern keine Sorgen machen, sie waren eine sehr alte, wohlhabende und noch sehr magische Familie, mit eigenen Immobilien in der Hauptstadt von Zukunft. Allgemein war die Magie bei den Seelenfühlern am stärksten erhalten geblieben. Schattenwesen, Gestaltwandler und Werwölfe dagegen hatten vor allem im Gebiet von Zukunft beinahe alle ihre Kräfte verloren.
Aber sogar sein Vater hatte viel von seinem Einfluss spielen lassen müssen, um die farbige Kombination von Coron zu finden. Der Grünstich von seinen Schuppen passend zu Milans eigener grüner Musterung im Gesicht. Die grünen Augen, die sich ebenfalls in Milans Gesicht wiederfanden und schlussendlich die schwarzen Haare, die dem schwarzen Körper von Coron entsprachen. Er glaubte, das war der glücklichste Tag in seinem Leben. Danach folgten natürlich viele anstrengende Trainingstage mit Coron. Zu dem Zeitpunkt war der winzige Babydrache gerade ein paar Monate alt und nicht größer als Milans Handfläche -größer als drei Meter Flügelspannweite würde Coron sowieso nie erreichen-, aber dieses Häufchen Schuppen und Neugier bedurfte größter Geduld und Liebe. Nach ein paar Wochen steckte Coron wenigstens nicht mehr sein Nest in Brand, weil er lieber auf Milans Kopfkissen schlafen wollte.
Milan grinste und erinnerte sich an die Tage zurück, an denen er eigentlich für seine Abschlussprüfungen hätte lernen sollen, sich aber mit einem unvorsichtigen und neugierigen Drachen herumgeschlagen hatte.
Schließlich wurde Milan langsamer und bog ab in eine kurze Auffahrt zu seinem Haus. Er stieg ab und zog den Schlüssel von seinem Motorrad, dann ging er die letzten Meter zur Haustür und sah einen schlafenden Drachen auf der Türschwelle. Milan hob Coron hoch, der verschlafen seine Augen öffnete. Nachdem er seinen Besitzer erkannte, grummelte er leise etwas, schleckte über Milans Hand und kuschelte sich enger an ihn und schlief einfach wieder ein.
Milan rollte nur mit den Augen, öffnete so leise wie möglich die Tür mit seinem Schlüssel und ließ Coron dann in ein Körbchen für Nero und Suna neben der Haustür gleiten. Coron war eigentlich viel zu groß dafür, aber Milan wollte jetzt wirklich keine fünfzehn Kilo schwere Echse zwei Treppen nach oben in sein Zimmer schleppen.
Aus dem dunklen Flur vor ihm funkelten ihm zwei kleine hellgrüne Punkte entgegen. Milan schnalzte mit der Zunge in Richtung von Nero und schwankte dann die Treppenstufen hinauf. Der kleine Marder war blitzschnell neben ihm auf dem holzgemaserten Geländer und ließ sich von Milan den Kopf streicheln. Nero wuselte nachts wie tags im Haus und im Garten umher und schien wie Nolan stets ruhelos. Milan seufzte und war unendlich froh endlich in sein Zimmer treten zu können. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es bereits ein Uhr morgens war.
Erst wollte Milan seine Klamotten einfach anlassen, aber ein kurzer Gedanke an das ganze Blut an dem Körper des Werwolfs ließ ihn erschaudern und plötzlich wollte er nichts lieber, als die Jacke und Hose so weit wie möglich von ihm wegzubringen. Am besten noch eine heiße Dusche, um die Erinnerung von seinem Körper zu brennen. Aber natürlich wollte Milan seine Geschwister und Eltern nicht wecken, also musste er sich mit der Boxershort zufrieden geben, die er sich gerade überzog. Seine verdreckten Sachen hängte er über den Schreibtischstuhl und versuchte sie so aussehen zu lassen, als ob sie nicht stundenlang in Matsch gelegen hatten, damit seine Mutter nichts merkte. Darum würde er sich morgen kümmern. Dann ließ sich Milan endlich in sein Bett fallen und obwohl er eigentlich erwartet hatte nicht gut einschlafen zu können, verschwand sein Bewusstsein in dem Moment, als sein Kopf das flauschige Kissen berührte und er seine Augen schloss.
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