Milan, 1
Coron flog hoch über ihm, seine Flügel schimmerten grün in der abendlichen Sonne, die schwerfällig am Rand der Welt hing, und wie immer, wenn Milan Coron fliegen sah wurde ihm warm ums Herz und er dankte seinen Eltern stumm für dieses überaus privilegierte Geschenk. Mit Coron vergaß Milan, das sein eigenes Seelentier nie aufgetaucht war, denn der kleine schwarz-grüne Drache, war der beste Begleiter den sich Milan vorstellen konnte. Er stieß einen kurzen Pfiff aus und sofort drehte Coron ab und klappte seine Flügel zusammen. Ein schwarzer Blitz am blutroten Horizont. Stolz überflutete den schwarzhaarigen jungen Mann, als Coron seine Flügel wieder auseinanderriss und perfekt auf Milans ausgetreckten Arm landete. Er streichelte über die Schnauze des jungen Drachen und der ließ ein Schnauben aus seinen Nüstern ertönen. Schnell warf Milan eine kleine tote Ratte in die Luft, direkt vor Coron, welcher blitzschnell mit seinem Maul vorstieß und den kleinen Nager in einem Haps verschlang. „Braver Junge", murmelte Milan, ließ Coron mit einer schwungvollen Armbewegung wieder in die Luft steigen und ging dann voraus, zurück in Richtung der Hauptstadt von Zukunft. Der Drache glitt über den Kopf seines Besitzers und folgte ihm. Milan ging jeden Sonntagabend mit Coron an den Stadtrand, um den Drachen Wiesen und eine schier unendliche Weite erleben zu lassen; nicht nur die Enge und Hektik der Straßen von Zukunft. Wobei sich Coron selbstverständlich täglich über die gigantischen Gebäude der Stadt erheben durfte. Milan hatte vor ein paar Monaten, zu seiner Volljährigkeit, den vollen Drachenschein erworben, was ihm so ziemlich alle Freiheiten für Coron einbrachte. Zu dem Zeitpunkt war Coron etwas über zwei Jahre Jahre alt und Milan würde nie den Ausdruck purer Freude in den weit aufgerissenen, dunkelgrünen Augen von dem kleinen Drachenbaby vergessen, als er zum ersten Mal ohne Halsband und Leine draußen frei fliegen durfte.
Nachdem die beiden einen sanften Hügel überquert hatten, breitete sich das unendliche Lichtermeer der Stadt unter ihnen aus, wie ein gigantischer Teppich aus winzigen Glühwürmchen. Selbst die höchsten Gebäude erschienen plötzlich wie winzige Türmchen, die um die Vorherrschaft unter der Sonne kämpften und trotzdem nie gegen die gewaltige Natur, die Milan gerade umgab, ankommen würde. „Flieg nachhause, Coron.", flüsterte Milan und sah der kleinen, flinken Gestalt noch hinterher, bis er durch die tiefliegenden Wolken hinunter in die leuchtende Tiefe verschwand. Dann ging Milan zu seinem Motorrad, schwang sich auf den Sitz und schlängelte sich die Straßen zu Zukunft hinunter. Er würde noch bei Hazel vorbeischauen und vielleicht bis morgen, bis die Uni begann, bleiben. Der Fahrtwind trieb ihm Tränen in die Augen als er weiter beschleunigte, also klappte er das Visier herunter. Es war ein kühler Abend, aber es kamen ihm sehr wenige Fahrzeuge entgegen und er hatte die ganze Straße für sich. Übermütig trieb Milan sein Motorrad an die Grenzen seiner Geschwindigkeit und stellte sich für einen Moment die grenzenlose Freiheit von Coron vor, wenn der Wind sosehr um einen wirbelte, das man jeden Moment über allem schweben könnte. Bei der nächsten Kurve drosselte Milan etwas, aber er war trotzdem rasend schnell unterwegs und als der Wolf ihm mitten auf der Straße entgegen lief, konnte Milan nicht mehr bremsen. Der Wolf hatte seinen Kopf nach hinten gekehrt, riss ihm aber herum und wollte mit seinem mächtigen Körper noch ausweichen; einen Augenblick bevor er gegen die Maschine krachte. Bei der Wucht des Aufpralls hob es Milan aus dem Sitz und er wurde auf die Straße geschleudert. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und er versuchte verzweifelt, nach Luft zu schnappen. Seine Arme stützten sich am weichen matschigen Boden des Seitenstreifens ab und sorgten dafür, dass Milan notdürftig seinen Kopf drehen konnte. Er riss sich den Helm von seinem pochenden Kopf und machte reflexartig eine Bestandsaufnahme von seinem Körper. Hände Check. Beine Check. Kopf... Check. Stöhnend rieb sich Milan die Schläfe, spürte aber glücklicherweise kein Blut. Er atmete erleichtert auf, dankte still dafür, dass er nicht auf dem harten Teer gelandet war und blickte sich dann vorsichtig um. Der Wolf lag noch immer mitten auf der Straße, das Motorrad war nirgends zu sehen, -vermutlich war es auf die andere Seite der Straße gerutscht - und versuchte sich langsam aufzurichten. Sein Körper nahm menschliche Züge an. Fasziniert beobachtete Milan den schemenhaften Prozess. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der eine ganze Verwandlung zustande brachte; zu abgeschwächt war die Magie in der heutigen Zeit. Er kannte ein paar, die ihre Hände in Klauen verwandeln konnten oder ein besonders scharfes Gehör hatten, aber mehr auch nicht. Der da drüben musste wirklich mächtig sein. Doch sofort wich seiner Begeisterung Wut, als er sich seiner Situation entsann. Verdammte Werwölfe, dachte Milan grimmig und wollte sich eigentlich ebenfalls aufrichten, um ein ernsthaftes Gespräch mit ihm zu führen, aber noch bevor er es schaffte seinen zitternden Körper aus dem kniehohen Gras zu hieven, hörte er lautes Motorbrummen und Scheinwerfer, die Licht zu der unglücklichen Szenerie brachten. Milan kniff die Augen zusammen und musterte den Werwolf, der sich seltsamerweise nicht gänzlich zu einem Menschen zurückverwandelt hatte –so mächtig war er anscheinend doch nicht-, sondern eine halbgebückte, auf zwei Beinen stehende, menschliche Statur hatte, aber noch immer mit Fell bedeckt war. Milan wich instinktiv vor dem realen Geschöpf etwas zurück. Werwölfe traf man meist nur in einem Rudel in der Stadt oder auf Partys, aber natürlich stets menschlich. Ganze Verwandlungen sah man nur in Lehrbüchern über alte Magie oder vielleicht in irgendeinem abgeschiedenem Dorf aus dem Gebiet Harmonie, in dem naturverbundene Wesen versuchten, die Magie in ihren Körpern wiederzufinden. Aber was Milan plötzlich wirklich erschreckte, waren die entsetzlichen Wunden an dem Körper des Wesens. Das kann doch nicht nur der Zusammenprall gewesen sein, oder doch? Als das Licht näher rückte, entblößte es weitere blutige Details. Die Haut und das Fell schienen in Fetzen an dem Werwolf zu hängen; Blut schimmerte an jeder Stelle des Körpers. Ein Bein war vermutlich gebrochen, denn als das Wesen versuchte weiter nach vorne zu gelangen, humpelte und stolperte es so heftig, dass es nach den ersten Metern zusammenbrach und einen schrecklichen, gepeinigten Klagelaut von sich gab. Sein Gesicht zuckte hin und her und streifte dabei Milans Blick, obwohl dieser stark bezweifelte, dass der Werwolf ihn wirklich gesehen hatte. Doch das war Milan ohnehin egal, denn dieses Gesicht war alles an das er gerade denken konnte, selbst als zwei Wagen hinter dem Werwolf stehen blieben und mehrere Männer mit Betäubungswaffen ausstiegen. An ihrer schwarzen Kleidung war an der Schulter das blaue Symbol von Alcedo aufgedruckt. Der Eisvogel. Unterbewusst drückte sich Milan noch tiefer in das Gras, aber vor seinem inneren Auge hatte er noch immer das Wolfsgesicht. Das, was einst ein Wolfsgesicht gewesen sein muss. Die Haut war wie von spitzen Krallen aufgerissen worden und hatte sich in Streifen von den Knochen geschält. Als sei ein Häutungsversuch dieser armen Seele schrecklich schiefgegangen. Muskeln und Sehnen hingen nur noch vereinzelt zwischen Hals und Kopf. Fleischfetzen lagen noch unter den Augenhöhlen, bei dem das linke Auge nicht mehr als eine blutige Höhle war. Das zweite Auge zuckte umher, ein roter Schleier überzog es. Bleiche Knochen schimmerten in dem Licht entsetzlich weiß im Kontrast zu dem blutigen, dunklem Fell. Kein Wunder, das der Werwolf mein Motorrad nicht bemerkt hatte. Milan wurde Übel und sein Bauch begann zu rebellieren, aber er zwang sich kein Geräusch von sich zu geben. Die Angst entdeckt zu werden war größer, als jeder verdammte Reflex. Die Männer sprachen kurz miteinander und Milan versuchte die Worte aufzuschnappen, aber obwohl sie nur wenige Schritte von seinem unfreiwilligen Versteck entfernt waren, hatte er Probleme die schnellen Wortwechsel zu verfolgen; zu laut schrillte ein gewaltiger Tinnitus in seinen Ohren. Er drehte seinen Kopf leicht, Halme raschelten. Milan hielt erschrocken die Luft an, aber keiner der Männer drehte auch nur den Kopf in seine Richtung, stattdessen widmeten sie sich dem Werwolf, der erneut versuchte, auf die Beine zu kommen. „...Arbeit... lächerlich...", meinte Milan zu verstehen und er strengte sich noch mehr an die fremden Männer zu hören. „...lustig...heilen...", antwortete der andere, richtete seine Betäubungswaffe auf den entstellten Schädel des Werwolfs und drückte ab. Abrupt verstummte das Keuchen und Fiepen des Wesens und auch die Gespräche verstummten. Milan versuchte so flach wie möglich zu atmen und beobachtete, wie der Werwolf von behandschuhten Männern in einen Van gehievt wurde. Die Klappe wurde zugeschlagen. Die Männer stiegen wieder ein, starteten die Motoren und fuhren hinter die Kurve und den Hügel hinauf. Aber selbst als die Geräusche längst verhallt waren, die Lichter den Hügel bereits erklommen hatten und der Mond den Himmel erobert hatte, wagte Milan nicht sein Versteck zu verlassen. Der Schock verließ nur langsam seine Sinne, aber als das Adrenalin verschwand, blieb nur blanke Angst und Entsetzen übrig. Eine Träne löste sich aus Milans linkem Auge, dort wo der Werwolf nur noch eine leere Höhle besessen hatte.
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