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Als wir das Herrenhaus erreichten, atmete ich tief durch, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Meine Gedanken rasten. Tonis Drohung hallte noch immer in meinem Kopf wider, doch ich wusste, dass ich es klug angehen musste.

Der SUV kam auf dem Kiesweg zum Stehen und ich sah das Herrenhaus vor mir aufragen, imposant und ruhig. Ich wollte einfach nur rein, tief durchatmen und für einen Moment so tun, als wäre alles normal. Doch als ich ausstieg und mich dem Eingang näherte, fiel mein Blick auf den Fahrer, der mir folgte. Er schien nichts aus der Ruhe bringen zu können, jedoch erkannte ich die Entschlossenheit in seinen Augen. Er hatte vor, Lucio Bericht zu erstatten.

"Warten Sie hier", sagte ich leise und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten. Doch er ignorierte meine Worte und blieb direkt hinter mir. Ein leises Unbehagen breitete sich in mir aus, als wir die breiten Stufen zum Eingang hinaufgingen. Anschließend wurde die Eingangstür von einer Angestellten geöffnet, wobei ich Lucio entspannt auf der Terrasse stehen stand.

"Mila", begrüßte er mich mit einem leichten Nicken, als wir uns Lucio näherten. Lucios Blick wanderte sofort weiter in unsere Richtung. "Alles in Ordnung?"

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, doch der Fahrer kam mir zuvor. "Lucio, wir hatten einen Zwischenfall", begann er, seine Stimme fest und klar. "Ein Anruf von den Cortes. Ich denke, dass sie bescheid wissen."

Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog. Meine Augen weiteten sich leicht und ich zwang mich ruhig zu bleiben. Lucio verschränkte die Arme vor der Brust, seine Miene wurde finster. "Was hat er gesagt?" Fragte er und richtete seinen scharfen Blick auf den Fahrer.

"Er hat gedroht und gefordert, dass sich die Gracías aus der Angelegenheit heraushalten", erklärte der Fahrer ohne Umschweife. "Er scheint sicher zu sein, dass sie nicht allein ist."

Lucios Gesicht blieb ausdruckslos und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sein Verstand bereits auf Hochtouren arbeitete. Er wandte sich zu mir um, sein Blick war bohrend.

Ich spürte, wie mir das Blut in den Ohren rauschte. Die Atmosphäre um uns herum schien sich zu verdichten, als ob die Luft selbst vor Spannung knisterte. Ich wusste, dass ich mich zusammenreißen musste, also zwang ich mich, tief durchzuatmen und meine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen.

"Es ist nichts, was wir nicht handhaben können, Lucio", sagte ich, den Blick fest in seinen gerichtet. "Toni blufft vielleicht nur, um uns aus der Reserve zu locken. Wir sollten nichts überstürzen."

Lucio schien meine Worte abzuwägen. Seine Augen verengten sich leicht, als ob er versuchte, durch meine Worte hindurchzusehen und meine wahren Gedanken zu erkennen. Schließlich nickte er langsam doch ich wusste, dass er noch nicht überzeugt war.

"Blufft er, Mila?" Fragte Lucio leise, seine Stimme klang gefährlich ruhig. "Oder weiß er wirklich, dass du hier bist? Und wenn ja, wer hat ihn informiert?"

Mein Herz schlug schneller. Lucio hatte Recht. Die Tatsache, dass Toni überhaupt von meiner Anwesenheit wusste, bedeutete, dass jemand uns verraten haben könnte.

Lucio starrte ins Leere, während seine Gedanken in alle Richtungen rasten. Die Drohung von Toni hing schwer in der Luft, jedoch ließ er sich nichts anmerken. Er war überzeugt, dass meine Familie allein ihm nichts anhaben konnte. Toni mochte mit seiner Drohung glauben, uns zu destabilisieren, allerdings wusste Lucio, dass er die Oberhand hatte - solange wir unsere Pläne durchziehen.

"Toni bellt laut, aber beißt nicht", sagte er schließlich, fast mehr zu sich selbst als zu mir oder dem Fahrer. "Die Cortes sind isoliert, ohne Unterstützung. Sie würden es nicht wagen, gegen uns vorzugehen, wenn sie nicht ganz sicher sind, dass sie gewinnen können und das sind sie nicht."

Ich sah, wie seine Haltung sich wieder straffte. Meine Familie waren nicht das Problem und Lucio wusste das. Das Problem war, die richtigen Allianzen zu knüpfen, um die eigene  Position weiterhin zu stärken.

"Wir sollten uns auf das konzentrieren, was wichtig ist", sagte ich und versuchte, ihn weiter in diese Richtung zu lenken. "Die Baros und die Camorra werden morgen hier sein und wenn wir sie überzeugen können, mit uns ins Geschäft zu kommen, haben wir ein Bollwerk gegen Fabrice und Toni. Wir müssen ihnen zeigen, dass es sich lohnt, uns zu unterstützen."

Lucio nickte langsam. Ich konnte sehen, dass seine Gedanken in die Richtung wanderten, die wir brauchten- weg von der Sorge um Tonis Drohungen und hin zu der Gelegenheit, die vor uns lag.

"Die Camorra wird genau hinschauen", murmelte Lucio, seine Augen scharf, wie wenn er jeden Zug in einem Schachspiel berechnete. "Wir müssen ihnen zeigen, dass wir nicht nur verlässlich, sondern auch stark sind. Und die Baros-", er lächelte leicht. "Die Baros lieben ein gutes Geschäft. Wenn sie sehen, dass sie von einer Allianz mit uns profitieren können, werden sie an unserer Seite stehen und dann kann Toni nichts tun, außer weiter zu bellen.“

Ich sah, wie Lucio allmählich zu seiner gewohnten, selbstbewussten Ruhe zurückfand. Seine Sorgen waren nicht verschwunden, doch er wusste, dass morgen der Schlüssel war. Ein starkes Auftreten und erfolgreiche Verhandlungen mit den Baros und der Camorra würden einiges verändern.

Lucio fuhr sich erneut durch die Haare, seine Finger gruben sich tiefer hinein, als ob er versuchen würde, die wirren Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. Schließlich ließ er die Hand sinken und schloss für einen Moment die Augen.

Sein Gesicht spiegelte die Anstrengung und die Erschöpfung wieder, die sich über den Tag hinweg in ihm aufgestaut hatten. Die Stille um uns herum war dicht, durchdrungen von einer unausgesprochenen Spannung, die in der kühlen Abendluft schwebte.

"Es gibt noch viel zu tun", murmelte er schließlich, seine Stimme klang rau, fast heiser. "Mehr, als wir vielleicht dachten", seine Augen öffneten sich langsam und für einen Augenblick trafen sich unsere Blicke.

Es war, als würde er in meinem Gesicht nach etwas suchen, einer Bestätigung vielleicht oder einer Antwort auf eine Frage, die er selbst noch nicht ganz formuliert hatte.

Santiago, der Fahrer, stand noch immer in der Nähe der Terrasse und beobachtete das Gespräch mit der stillen Aufmerksamkeit eines Mannes, der wusste, wann seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich war. Er trat langsam einen Schritt zurück, seine Bewegungen vorsichtig und respektvoll. "Wenn du nichts mehr brauchst, Lucio-", begann er, seine Stimme war gedämpft, als wollte er den Moment nicht stören.

Lucio nickte kaum merklich, seine Augen jedoch lösten sich nicht von meinem Gesicht. "Nein, das ist alles für heute."

Santiago verneigte sich leicht, ein höfliches Nicken, bevor er sich umdrehte und aus unserer Sichtweite verschwand. Der Abend senkte sich über das Herrenhaus und die Schatten wurden länger.

Ich stand noch einen Moment neben Lucio und obwohl mein Blick auf die leere Terrasse gerichtet war, spürte ich, dass sein Fokus sich wieder auf mich verschoben hatte. Er war nicht mehr in Gedanken verloren. Stattdessen war da etwas Neues in seinem Blick. Als ich schließlich tief durchatmete und mich entschloss, ins Haus zu gehen, blieb sein Blick auf mir.

"Ich werde hineingehen", sagte ich leise. "Es war ein langer Tag."

Seine Augen folgten jeder meiner Bewegungen, als ob er mehr in mir sah als nur eine Verbündete, als ob er etwas suchte, das über das Gesagte hinausging. "Warte, Mila", sagte er plötzlich, seine Stimme war weicher, fast nachdenklich.

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. Sein Blick hatte sich verändert-er war nicht mehr abwesend oder distanziert, sondern fokussiert auf mich. "Ich weiß, dass es viel ist", begann er langsam, als ob er die Worte mit Bedacht wählte. "Aber ich schätze es wirklich, wie du heute damit umgegangen bist. Du hast Ruhe bewahrt."

Seine Worte trafen mich unerwartet und für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. "Danke, Lucio", erwiderte ich schließlich, meine Stimme leiser als beabsichtigt. Wenn er allerdings nur wüsste, was wieder in mich vorgeht.

Ein Lächeln, kaum mehr als ein Zucken seiner Lippen, erschien auf seinem Gesicht. Es war eine seltsame, intensive Art von Interesse, das sich in seinen Augen spiegelte.

Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. Die Art, wie er mich ansah, ließ mich für einen Moment alles um uns herum vergessen. Es war ein seltener Moment der Offenheit zwischen uns, einer, der nur schwer greifbar war.

"Gute Nacht, Mila", sagte er, was ich erwiderte und mit meinen wirren Gedanken alleine die Treppenstufen hinauflief. Es war tatsächlich wieder alles zu viel, doch ich fand allmählich einen Weg, um nicht in der Hilflosigkeit stecken zu bleiben. Die Tatsache, dass ich beschützt und mich geborgen fühlen konnte, ist etwas anderes.

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