Kapitel 19: Sonnenuntergang (1.793)
„Sag mal, du hast noch immer nicht auf meine Frage geantwortet. Stattdessen hast du erfolgreich abgelenkt und wir sind wie auch immer bei mir gelandet, doch dennoch hätte ich gerne eine Antwort von dir, mein Engel. Was fasziniert dich so sehr am Sonnenuntergang?"
„Zuvor musst du mir eine Frage beantworten. Sag mir, Tae, glaubst du ans Nirvana und an ein Leben danach? Bitte sei ehrlich." „Nein, ich glaube nicht an sowas. Ich denke, jeder Mensch hat nur ein Leben und dann kommt die völlige Schwärze." beantworte ich leicht zögernd seine Frage.
„Naja, wenn das so ist, dann bin ich nicht sicher, ob du das wirklich hören willst." entgegnet Jungkook. „Wieso sollte ich es denn nicht hören wollen?" „Weil es für dich vielleicht nicht so schön sein wird, wie für mich." „Sag es mir doch einfach, Kookie. Dann kann ich selbst entscheiden, ob es mir gefällt oder nicht."
Er seufzt kurz, doch scheint sich dann geschlagen zu geben: „Ja gut, okay. Doch bitte halt mich fest und hilf mir zu atmen, wenn ich wieder kurz vor einem Anfall stehe." Direkt bekommt mich ein mulmiges Gefühl, doch dennoch nicke ich langsam.
Ich will nicht, dass er nur wegen meiner verdammten Neugierde erneut so einen Anfall bekommt, jedoch will ich ihn auch besser kennenlernen. Also ein vermutlich mehr als egoistisches Verhalten von mir.
Nein! Nein, ich will das nicht!
„Halt, nein, Jungkook. Ich will das doch nicht. Ich will nicht, dass du wieder einen Anfall bekommst, also sag es mir nicht." „Ich werde schon keinen bekommen, wenn du einfach genau so handelst wie Jin. Du mich also einfach umarmst und mit mir zusammen atmest. Okay? Das hilft mehr, als du ahnst. Es hilft, wenn man weiß, dass jemand bei einem ist, dem man etwas bedeutet." lächelt er mich an, also nicke ich mit einem noch immer mulmigen Gefühl.
„Sollte ich doch einen Anfall bekommen, dann mach dir nicht all zu große Sorgen, ja Tae? Du brauchst auch keinen Arzt oder Pfleger zu holen. Sobald der Anfall vorbei ist, falle ich einfach nur in einen tiefen Schlaf, weil mein Körper und mein Immunsystem dadurch geschwächt werden und anschließend zu schwach sind. Ich werde schon wieder aufwachen, also sei dann einfach bei mir, genau wie Jin heute früh. Du warst gestern Abend bei dem Anfall dabei, also handle genau wie mein Bruder und alles wird gut." erklärt er mir noch für den Fall der Fälle. Wieder nicke ich nur mit einem noch mulmigeren Gefühl im Magen, als zuvor.
Er atmet nochmal tief durch, ehe er dann beginnt zu erzählen:
„Weißt du, der Sonnenuntergang hat einfach was magisches. Der Wechsel von Tag zu Nacht ist die Zeit, in denen man den Toten am nächsten steht. Nicht etwa um Mitternacht, nein. Von Wechsel vom Tag in die Nacht. Meine Mutter hat mir früher immer Gute-Nacht-Geschichten erzählt, wenn ich nicht schlafen konnte und hat mich in diesen auch schon immer langsam darauf vorbereitet, dass sie und mein Vater irgendwann nicht mehr da sein werden. Sie...Sie hat mal eine Geschichte erzählt, die bis heute in meinem Gedächtnis geblieben ist und diese ist sozusagen auch noch heute mein Lebensmotto und sorgt auch für meine Lebenseinstellung. Sie spiegelt ziemlich genau alles wieder, was mir widerfahren ist, fast so, als hätte meine Mutter nicht nur meine Vergangenheit, sondern auch meine Zukunft gesehen. Warte, vielleicht bekomme ich sie noch irgendwie zusammen."
Er schweigt kurz und scheint zu überlegen, ehe ihm anscheinend ein Licht aufgeht und er beginnt zu erzählen:
„Es war einmal ein kleiner Junge. Schon in jungen Jahren musste er so einiges durchstehen. Noch als Säugling wurde er von seinen leiblichen Eltern in ein Waisenhaus gebracht. Dort führte er zwar kein schlechtes Leben, jedoch auch kein sonderlich gutes. Eine Frau arbeitete ehrenamtlich in jenem Waisenhaus und verliebte sich sofort in den kleinen, so hilflos wirkenden Jungen. Sie wollte ihn direkt ihr eigenes Kind nennen, jedoch ging das nicht so einfach, wie sie sich erhofft hat. Schließlich führte sie bereits ein Familienleben mit einem fürsorglichen Vater und einem bezaubernden Jungen. Erst nach drei Jahren konnte sie ihn adoptieren. Nun hatte der Junge eine wunderbare Familie und ein Dach überm Kopf. Er bescherte der so schon glücklichen Familie nur noch mehr Glück. Immer hatte er ein Lächeln auf dem Gesicht und zog jeden seiner Mitmenschen in seinen Bann. Im Kindergarten und in der Grundschule fand er schnell Freunde, doch in der Mittelschule wurde der kleine Junge erneut auf eine harte Probe gestellt. Seine Mitmenschen verachteten ihn. Er wurde geärgert und gemobbt, da sie einfach nicht akzeptieren konnten, wie jemand nur einen solch engelsgleichen Charakter haben kann. Doch selbst dann verlor er sein Lächeln nicht. Er blieb stark. Nicht nur für sich, sondern auch für seinen Bruder und seine Eltern. Niemals hätte er damit gerechnet, dass er so schnell erneut mit einer harten Probe und sogar mit einem großen Verlust konfrontiert wird."
Bei seinem letzten Satz spüre ich, wie er beginnt zu weinen und wie er leicht zittert. Aber dennoch erzählt er weiter:
„Dem Verlust der Personen, die ihn großgezogen und über alles geliebt haben. Seinen Eltern. Sie verschwanden aus seinem Leben und er fiel in eine tiefe Trauer. Zum ersten Mal verschwand das Lächeln des Jungen, da er diesen Verlust nicht wahrhaben wollte. Doch der Sonnenuntergang half ihm, denn er erinnerte ihn an das, was seine Eltern einst sagten. Der Moment, in dem der Tag der Nacht weicht, ist der Moment, in dem Himmel und Erde nah beieinander liegen. Die Sonne so tief am Horizont und der Mond still und blass am Himmelszelt. Wenn die Wärme der Sonnenstrahlen langsam der kalten und stillen Nacht weichen, dann kommen die Toten auf die Erde und besuchen ihre Angehörigen und diejenigen, die sie lieben. Sie sagen ihnen immer wieder, dass sie bei ihnen sind und ein Auge über sie haben und sie beschützen. Auch du, mein Hase, darfst das nie vergessen. Niemals, hörst du? Es wird ein Tag kommen, an dem dein Vater und ich nicht mehr da sein werden, doch denke immer daran, dass wir immer auf dich aufpassen und für dich da sein werden. Auch wenn wir es nicht mehr in Fleisch und Blut sind. Aber niemals, hörst du, niemals werden du und dein Bruder alleine sein. Dein Vater und ich werden immer an eurer Seite sein und über euch wachen. Bitte versprich mir, dass du dein Lächeln niemals verlierst. Selbst wenn du noch hunderte Schicksalsschläge erleiden musst. Denn dein Lächeln ist es, das anderen Menschen Mut gibt. Selbst wenn du vielleicht eines Tages todsterbenskrank sein solltest, darfst du nicht aufhören zu lächeln. Das Lächeln hilft nämlich nicht nur dir, sondern auch allen Menschen, denen du etwas bedeutest. Es zeigt, dass du ein glückliches und zufriedenstellendes Leben gelebt hast und nun ins Nirvana aufsteigen wirst, um in deinem nächsten Leben allen anderen Menschen genau so viel Freude und Glück zu bescheren. Das Glück der anderen, macht auch dich glücklich, Kookie. Das habe ich oft gesehen. Also lass dich niemals unterkriegen und bleib glücklich. Bleib du selbst, mein Junge."
Nachdem er zu Ende gesprochen hat, wischt er sich kurz über seine Wangen und sagt dann: „So ähnlich hat es meine Mutter kurz nach meinem elften Lebensjahr erzählt. Fast so, als hätte sie es vorausgesagt, wurde ich von der fünften bis zur siebten Klasse tatsächlich gemobbt und geärgert, doch ich dachte zurück an diese Geschichte meiner Mutter und ließ mir mein Lächeln nicht nehmen. Ich blieb stark. Für mich, aber vorrangig für meine Familie. Ich wollte sie stolz machen, zudem hielten sie immer zu mir und trösteten mich, wenn ich von den neusten Mobbingattacken erzählte. Genau wie es meine Mutter g-gesagt hatte, ließ ich mir m-mein Lächeln tatsächlich erst nehmen, als i-ich sah, wie...wie sie und m-mein Vater...Wie sie..."
„Hey, ganz ruhig atmen. Ich bin bei dir, okay. Ein-..." Ich atme ein. „und ausatmen." Ich atme aus. Genau wie Jin es tat, kurz bevor Jungkook einen Anfall hätte bekommen können, wiederhole ich diesen Vorgang zusammen mit Jungkook immer wieder und halte ihn fest in meinen Armen.
Tatsächlich beruhigte er sich etwas, jedoch weint er nun, genau wie damals, nur noch mehr.
„Ich bin bei dir, okay?" sage ich ruhig und streiche ihm über den Rücken und durch seine Haare. Auch einen Kuss drücke ich ihm auf seinen Haarschopf.
„Danke, Tae. Danke, dass du bei mir bist." murmelt er dann in meine Brust, ehe er seinen Kopf tiefer in dieser vergräbt.
„Weißt du, erst seit ich aus dem Koma erwacht bin, ist der Sonnenuntergang für mich etwas besonderes. Zuvor habe ich ihn nie wirklich beachtet. Seit ich aus dem Koma erwacht bin, wünsche ich mir nichts mehr, als den Sonnenuntergang nur einmal von draußen zu sehen und nicht nur durch diese dämliche Scheibe des Krankenhauses. Nur einmal würde ich gerne die letzten warmen Strahlen der untergehenden Sonne auf meiner Haut fühlen und genießen, bevor meine Tage gezählt sind und ich meine Eltern endlich wieder sehen kann. Wenn auch nur kurz, ehe ich in mein nächstes Leben gehe. Das ist mein größter Wunsch, bevor ich sterbe. Doch bisher ging es einfach nicht. Die Reha und die Regeln des Krankenhauses haben es einfach nicht zugelassen. Spätestens bei Sonnenuntergang sollen alle Patienten in ihren Zimmern sein, damit sie sich im Dunkeln nicht verletzen. Deswegen konnte ich den Sonnenuntergang immer nur von diesem Krankenhauszimmer aus sehen. Ich versuche seither mein bestes, diese Reha endlich zu beenden und entlassen werden zu können, doch irgendwie mache ich nie so richtig Fortschritte. Mein Körper ist zu schwach und mein Immunsystem scheint auch immer mehr nachzulassen, doch ich werde nicht aufgeben. Ich werde alles versuchen."
Ich bewundere ihn so sehr.
An sich sind Jungkook und ich grundverschiedene Menschen, doch dennoch hat uns das Schicksal irgendwie zusammengeführt.
Jungkook, der fröhliche, freundliche und glückliche Junge.
Ich, der nach außen hin meist gefühlskalt wirkende Junge.
Jungkook, der selbst nach so vielen Schicksalsschlägen und so viel Pech noch immer lächelt und lacht.
Ich, der schon aufgegeben hat, als mein Vater sich nicht gestellt hat und sich stattdessen lieber selbst verleugnet hat.
Mein Vater hat ohne Scheiß verdammten Mist gebaut und seit ich nun auch Jungkook kenne — die Person, die direkt wegen meines Vaters in ein solches Unglück gestürzt ist — ist meine Abneigung auf meinen so genannten Vater nur noch größer geworden.
Doch ich lasse das nicht mehr so einfach auf mir sitzen. Ich werde mich selbst nicht mehr verleugnen und mir stattdessen ein Beispiel an Jungkook nehmen und endlich etwas gegen diese verdammte Ungerechtigkeit unternehmen.
Ich werde meinen Vater mit allen Mitteln suchen und ihn dazu bringen, sich der Polizei zu stellen.
Egal, was es mit mir und meiner Familie macht: Jungkook und Jin verdienen es, dass dem 'Mörder' ihrer Eltern eine gerechte Strafe zuteil wird und dafür werde ich alles mir mögliche tun.
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