So etwas macht man einfach nicht!
Kurzgeschichte
Eine Mutter geht mit ihrem 7-jährigen Sohn an der Hand über die Straße, als ein alter Mann in Lumpen auf sie zu gehumpelt kommt und sie um etwas Geld für Essen bittet. Die Hand der Frau verkrampft sich um die kleine, weiche Hand ihres Sohnes und sie wechselt, ohne eine Antwort zu geben, die Straßenseite. „Warum hast du dem Mann kein Geld gegeben, Mama?", fragt der kleine Junge. „Er sah sehr traurig aus, findest du nicht?" Die Mutter sieht hinunter auf ihren Sohn, in diese unschuldigen, blauen Kinderaugen, die eine Erklärung wollen. Sie überlegt, ganz verdutzt, wie sie ihrem kleinen Sohn erklären soll, warum sie nicht einen, vielleicht zwei Euro für diesen armen Mann entbehren konnte, der das Geld doch so viel dringender benötigt als sie. Als sie zu keinem zufriedenstellendem Ergebnis gelangt, gibt sie verärgert zurück: „So etwas macht man einfach nicht!", und zieht ihren Sohn weiter, weg von dem bettelndem Mann.
Am Abendbrottisch, als die ganze Familie zusammen sitzt, erzählt der Vater von seinem Tag in der Firma. Seine Frau lässt vor Entsetzen die Vase mit Blumen auf den Boden fallen, als sie hört, dass er diesen Samstag wieder nicht mit zu ihren Eltern aufs Land fahren kann, da er kurzfristig zu einer Feier seines Chefs eingeladen wurde, zu der alle Angestellten kommen sollen. „Wirklich alle?", fragt seine Frau mit weit aufgerissenen Augen nach. „Ja, alle sind eingeladen", bestätigt ihr Mann. Bekümmert kniet sie sich hin und kehrt all die Scherben der zerbrochenen Vase zusammen. „Tja, da kann man wohl nichts machen", gibt sie reserviert zurück. Ihr Mann bleibt unbeholfen sitzen. „Ja, das stimmt wohl. Da kann man nichts machen." Da mischt sich der kleine Sohn der beiden, ganz traurig über die Nachricht, dass sein Vater nicht beim Wochenendausflug dabei sein wird, in die Unterhaltung mit ein. „Aber weshalb musst du denn dahin, Papa?", will er wissen, die unbesorgte Kinderstirn in Falten gezogen. Ungeduldig zieht er am T-Shirt seines Vaters, doch der 7-Jährige stößt auf Unverständnis. „Weshalb? Mein Sohn, das habe ich dir doch bereits erklärt: Ich wurde eingeladen." Noch einmal zieht der kleine Junge am T-Shirt seines Vaters. „Aber warum musst du denn dahin gehen, wenn du eigentlich gar nicht möchtest?", fragt er. „Willst du denn nicht lieber mit uns zu Oma und Opa fahren?"„Doch, schon", erwidert der Vater etwas verwirrt. „Doch, klar, natürlich möchte ich das!" Der Junge öffnet erneut den Mund, doch der Vater unterbricht ihn ganz ärgerlich: „Wenn ich nicht zu der Feier gehe, wird mein Chef meine Kollegen bei der nächsten Gelegenheit bevorzugen. Man muss doch einen guten Eindruck machen, nicht?" Da er nicht weiß, was er noch sagen soll, nimmt er einen großen Schluck von seiner Tasse Tee. „Aber warum denn? Wieso kannst du ihm denn nicht einfach sagen, dass du schon etwas anderes mit uns vor hast?" Ein weiterer Schluck Tee, um nicht antworten zu müssen. „So etwas macht man einfach nicht!", stellt der Vater dann genervt klar.
Später, als der kleine Junge in seinem Bett liegt, die Kuscheltiere fest an die schmale Brust gepresst, hört er unfreiwillig ein Telefongespräch zwischen seiner älteren Schwester und deren besten Freundin an, der sie erzählt, dass der Junge aus ihrer Klasse, den sie schon so lange so sehr mag, sie nicht beachtet. Ganz verzweifelt klingt sie, als sie meint, dass sie wohl nicht gut genug für ihn sei und sie sich so sehr wünscht, dass er sie zum Abiball bittet. Ihr größter Traum wäre das, sagt sie, mit ihm zum Abiball zu gehen. Nachdem sie aufgelegt hat, tappt der kleine Junge in den Flur hinaus, barfuß, wo das verliebte Mädchen steht, das Telefon noch in der Hand. „Warum schläfst du nicht?", fragt sie empört. „Warum sagst du dem Jungen aus deiner Klasse nicht einfach, dass du ihn magst?", will das Kind daraufhin wissbegierig wissen, ohne auf die Frage der Schwester einzugehen. Mit schräg gelegtem Kopf schaut er sie an, seine ältere Schwester, ganz neugierig mustert er sie. Er versteht nicht, warum sie sich selbst so viel Kummer bereitet, obwohl es doch alles ganz leicht ist. Das Mädchen wiederum mustert ihren kleinen Bruder, fast abschätzig wandern ihre Augen über seinen schmalen Kinderkörper. Kurz spielt sie mit dem Gedanken, ihm all die Gründe zu erklären, doch das wäre viel zu kompliziert für so ein kleines Kind, findet sie. Er würde es nicht begreifen, sagt sie zu sich selbst. Dass es eigentlich gar nicht so kompliziert ist, das will sie sich nicht eingestehen. „So funktioniert das nicht. Du verstehst das nicht. So etwas macht man einfach nicht!", gibt sie schließlich barsch zurück. „Also, wenn ich jemanden einmal gerne mag, werde ich ihm das auch einfach sagen", beteuert der Junge. Die Schwester schnaubt verächtlich. „So etwas macht man einfach nicht", wiederholt sie nur und geht zu Bett.
Als der Junge wieder unter seiner warmen Decke liegt, ärgert er sich sehr über das Verhalten seiner Schwester. „So etwas macht man einfach nicht. Wieso macht man so etwas nicht?", fragt er sich still in Gedanken. „Wo das geschrieben steht, das würde ich ja gerne mal wissen!" Er dreht sich auf die andere Seite, das Gesicht in Richtung der Wand, und schläft ein.
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