Sie wussten es nicht

Kurzgeschichte

Es war einmal ein Mädchen, das hatte ganz viele Freunde. Ja, an Freunden mangelte es ihr wahrlich nicht, sie hatte immer Leute um sich herum, deren Interessen ähnlich wie die ihren waren und mit denen sie lachen konnte. Tatsächlich hatte sie so viele Freunde, dass sie nicht einmal durch das Schulhaus gehen konnte, ohne von beinahe jedem gegrüßt zu werden. Jeder wollte mit ihr befreundet sein, jeder wollte Teil ihres schönen Lebens sein.

Das Mädchen hatte auch ganz viel Schminke, die sie sich jeden Morgen ins Gesicht klatschen konnte, damit sie für jedermann hübsch anzusehen war.

Sie hatte auch eine Menge Klamotten, die alle sehr teuer und angesagt waren und ihre weiblichen Vorzüge gut zur Geltung brachten.

Doch was all ihre unzähligen Freunde nicht wussten, war, dass sie das ganze Make Up brauchte, um ihre Augenringe zu verdecken, die die schlaflosen, einsamen Nächte mit sich brachten, während ihre Mutter Nachtschicht hatte. Dass diese Farbe ihre verweinten Augen und die Blässe auf ihren Wangen verdecken sollte, damit niemand ihr ansah, wie schlecht es ihr wirklich ging.

Die Freunde wussten auch nicht, dass die tollen Klamotten, um die sie sie alle ganz schrecklich beneideten, lediglich dazu dienten, all die Narben zu verdecken, die sie sich an so manchen Tagen zugefügt hatte. Ach, die Narben, die furchtbaren, roten Narben auf ihrer weichen, bleichen Haut! Mit einem Messer hatte sie sich alles aufgeritzt, die Oberschenkel, die Unterarme . . . Es hatte ihren Vater nicht wieder lebendig gemacht, aber den seelischen Schmerz für ein paar Minuten verdrängt. Alles hatte sie sich aufgeritzt, sodass es geblutet hatte, das ganze Bad war voll mit Blut gewesen. Ihrer Mutter, die am frühen Morgen übermüdet heimgekehrt war, hatte sie gesagt, dass es das Blut derKatze war, die mit einer anderen Katze gekämpft hatte. Gelogen hatte sie, einfach gelogen, das mit Wasser getränkte Tuch gegen ihre blutigen Arme gepresst. Alles hatte sie sich aufgeritzt, immer und immer wieder. Nur die Pulsadern nicht. Nein, die Pulsadern nicht. Das hatte sie nicht über sich gebracht, das hatte sie ihrer Mutter nicht antun können. Nicht, nachdem ihr Vater tot war. Nein, das ging nicht.

Von all dem wussten ihre vielen Freunde nichts. Das Mädchen erzählte es ihnen nicht. Sie fragten auch nicht nach.

Sie wussten auch nicht, dass dasMädchen gerne etwas dünner wäre und deshalb paradoxerweise unter Fressattacken litt. Wenn sie eine dieser Fressattacken hatte, dann stopfte sie alles Essbare in sich hinein, das sie im Haus hatten. Sie aß und aß und fraß bis sie ganz voll war und sich trotzdem noch immer so leer fühlte.

Vor ein paar Tagen, erinnerte sich dasMädchen, hatte ihre Freundin doch tatsächlich mit einer Mischung aus Bewunderung und Gereiztheit bemerkt, dass das Mädchen einfach immer gut gelaunt sei. „Wie kann man denn immer so gut gelaunt sein?", hatte sie kopfschüttelnd gefragt. „Du lächelst auch wirklich immer, oder?", hatte sie gesagt.

Das Mädchen, nun, das Mädchen hätte fast laut aufgelacht.

Sie wussten ja nicht, dass ihr Lächeln nicht echt war. Dass sie es jeden Morgen wie eine Maske aufsetzte, ihr lächelndes Gesicht, damit sie anderen eine Freude bereiten konnte. Damit die anderen ihr blutendes Herz nicht sahen.

Sie wussten auch nicht, wie oft sie zuHause weinte. Wie oft sie zu Hause an ihrer verschlossenen Zimmertür hinunter rutschte und auf dem schönen Laminatboden liegen blieb, einfach, weil sie denn Sinn nicht sah, wieder aufzustehen. Wie oft sie dann weinte, wie viele Tränen auf den Boden tropften, auf den schönen, schönen Laminatboden!

Dass sie wegen ihm weinte, seit dem letzten Sommer, weil er gegangen war. Er, der ihr als einziger Mensch auf dieser Welt das Gefühl gegeben hatte, wirklich etwas wert zu sein. Er, der sie nicht wie alle anderen nur bewundernd angeschaut, sondern sie wirklich gesehen hatte. Direkt in ihr Herz. Er hatte ihren Mund zum Lachen, ihre Augen zum Leuchten und ihr Herz zum Hüpfen gebracht. Er hatte ihr einfach gut getan, verdammt. Klar, sie war bereits mit anderen Jungen zusammen gewesen, hatte sich eingeredet, sie zu lieben. Und wieder hatte sie gelogen. Bei anderen Jungen hatte sie sich immer verstellen müssen, hatte versucht, irgendwie zu wirken, irgendeinen Eindruck zu hinterlassen, der nicht der Wahrheit entsprach. Nicht so bei ihm, nein. Bei ihm war sie einfach gewesen, war sie selbst gewesen, bei ihm hatte sie gar nicht darüber nachdenken müssen, was sie sagte. Und dann war er einfach gegangen, zurück in die Stadt, aus der er kam. Die Stadt, die soweit von ihrer eigenen entfernt lag, die Stadt, in die er gehörte. Ein, zwei Nachrichten noch, und dann hatte er sie vergessen. Er verschwendete keinen einzigen Gedanken an sie, während all ihre Gedanken nur um ihn kreisten. Seit dem Sommer weinte sie wegen ihm. Jetzt herrschte Winter. Es war kalt um sie herum, alles war so unfassbar kalt.

All das wussten ihre Freunde nicht. Sie konnten es auch gar nicht wissen, weil das einsame Mädchen mit den vielen Freunden ihnen nichts davon erzählte.

Das Mädchen schickte weiterhin Smileysin ihren Nachrichten, hängte ein „haha" ans Ende jedes Satzes. Lachende Smileys, lächelnde Smileys, grinsende Smileys, doch dieTränen liefen ihr währenddessen über das Gesicht. Über ihr echtes Gesicht, wohlgemerkt.

Doch das konnten ihre Freunde nicht wissen, als sie die Nachricht lasen.

An einem Nachmittag im kalten, unbarmherzigen Winter, als sie ihren Vater ganz schrecklich vermisste und ihre Mutter ohne Auf Wiedersehen zu sagen zur Nachtschicht verschwunden war, ihre Freunde sich besonders uninteressiert und unempathisch verhalten hatten, sie sich so voll gefressen hatte, dass sie hätte kotzen können und als sie einfach nur bei ihm sein wollte, wo er doch längst ein neues Mädchen hatte, da dachte sie zum ersten Mal daran, all dem ein Ende zu bereiten. Vielleicht sollte sie sich doch die Pulsadern aufschlitzen, überlegte sie. Dann wäre das alles einfach vorbei, für immer.

Und ihre vielen Freunde? Ihre Mutter? Er?

Sie wussten es nicht.


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