Risiko
Kurzgeschichte
Es war Freitag. Nachmittag.
Wie jede Woche saß sie in der Küche ihrer Großeltern und trank ihre heiße Schokolade mit Sahne und Streuseln, während ihre Oma und ihr kleiner Bruder Karten spielten. Gewöhnlicherweise scheute das Mädchen sich nicht davor, auch mitzuspielen, doch heute hatte sie aus einem Grund, den nur sie selbst kannte, keine Lust.
Dieser Grund hatte einen Namen. Einen Namen, der seit einigen Wochen zu ihrem Lieblingswort geworden war und der seitdem jede Sekunde ihre Gedanken und Sehnsüchte nährte.
Erfüllt von Melancholie und Selbstmitleid rührte sie langsam ihr Wohlfühkgetränk um und schaute aus dem Fenster, als wartete sie auf irgendetwas. Alle paar Minuten holte sie ihr Handy heraus und überprüfte ihre Nachrichten, doch nie tippte sie eine Antwort. Stattdessen steckte sie jedes Mal ein bisschen entnervter das Gerät zurück in die Hosentasche, während die Enttäuschung aus ihren Augen sprach.
Ihre Großmutter bemerkte es, wie es jede aufmerksame Großmutter bemerken würde, sagte jedoch nichts.
Sie hatte genug mit ihrem anderen Enkel zu tun, der nun wutentbrannt den Kartenstapel vom Tisch wischte und den Raum verließ. Er hatte verloren und das war nun einmal die übliche Reaktion von kleinen Kindern, wenn sie nicht gewinnen.
Für einen Moment schloss die alte Dame die faltigen Augenlider, dann erhob sie sich und ging ihm nach. Die Tür ließ sie einen Spalt breit offen.
Das Mädchen, das kaum etwas von dem Streit mitbekommen hatte, hörte plötzlich die behutsame Stimme ihrer Großmutter aus dem Wohnzimmer.
"Ich verstehe, dass du wütend und enttäuscht bist, aber so ist das nun einmal."
Das Kind gab eine trotzige Antwort, während das Mädchen den Blick schon wieder fiebernd auf ihr Handy gesenkt hätte, wo plötzlich "online" bei ihrem Grund zu sehen war.
Der Grund für so ziemlich alles in letzter Zeit in ihrem Leben.
"Du hättest nicht mit mir spielen müssen, niemand hat dich gezwungen. Doch du wolltest es und bist damit wissentlich das Risiko eingegangen, zu verlieren. Wir hatten die gleichen Chancen, und ich war dieses Mal eben besser. Nächstes Mal gewinnst du wieder."
Der Junge wurde weinerlich, knickte jedoch ein.
"Wenn du nicht verlieren willst, kannst du nicht mitspielen. Das muss dir bewusst sein. Es gibt nie eine hundertprozentige Garantie, dass du immer als Sieger das Feld verlässt. Entweder du bist bereit zu verlieren oder du lässt die Finger ganz davon."
Ganz berührt ließ das Mädchen ihr Handy sinken.
Nun war der Junge still und schmiegte sich versöhnlich an seine Großmutter, während sich in dem Mädchen vor Trauer alles verkrampfte. Die Küche kam ihr nun nicht länger wie ein warmer, geborgener Ort vor. Sie fühlte sich so klein und so . . . besiegt.
Erschöpft legte sie das Handy ganz weg. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten. Er würde nicht schreiben und das wusste sie.
Es hatte keinen Zweck, weiter zu verharren, wo er doch längst weitergezogen war.
Sie hatte gespielt. Und verloren.
Der Einsatz? Ihre Gefühle, ihr Herz, ihr Leid, ihr Schmerz.
Sie hätte es nicht an sich ranlassen müssen, hätte keine Zeit mit ihm verbringen müssen. Sie wusste, dass er nicht so für sie empfand, wie sie für ihn, und trotzdem hatte sie zugelassen, dass sie ihm nach und nach verfallen war. Das Mädchen konnte nicht leugnen, dass die Schuld auch zum Teil bei ihr lag. Wütend verkrampfte sich ihre Hand um die Platte des Küchentischs, als sie sich erinnerte, wie sie auf einmal immer Herzklopfen bei einer Nachricht von ihm bekommen hatte und wie sie ihn immer mehr begonnen hatte zu mögen.
Sie hätte genau da aufhören müssen, hätte da den Schlussstrich ziehen müssen.
Aber es war wie eine Sucht gewesen, eine Droge, von der sie nicht so einfach loskam. Nun war sie abhängig.
Sie hatte um ihn gekämpft, hatte all ihre Asse aus dem Ärmel geschüttelt und Trumpfe ausgespielt - und ihn trotzdem verloren. Obwohl er nie ihr gehört hatte.
Doch eines war ihn nun klar geworden, etwas, das sie schon längst hätte verstehen müssen.
Herzschmerz ist das Risiko, wenn Liebe das Spiel ist.
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