Tag 4749 - 17. Geburtstag
u n e d i t e d
„Du?“ Fragend blickte Roman Annie an, die neben ihm mit den Spitzen ihres Haars spielte. Sie beide saßen auf dem Boden, die Rücken an das Bettgestell gelehnt. „Hm?“, brummte Annie leise, griff blind nach der Schere auf ihrem Nachttisch und trennte dann damit ein Stück Spliss vom betroffenen Haar. „Möchtest du vielleicht etwas besonderes machen? Wir haben noch Zeit“, merkte Roman an und deutete mit dem Kinn in die wage Richtung des Kirchturms. Es war gerade erst wenige Minuten nach Mitternacht, Roman hatte ihr kurz nonchalant gratuliert und dann hatten die beiden sich schon gesetzt. „Was denn?“, fragte Annie nach und legte die Schere weg, um ihn interessiert anzusehen. Kurz erstreckte sich das altbekannte Grinsen über sein Gesicht, dass, das seine Augen kleiner aussehen und gleichzeitig strahlen ließ. Er stand umständlich auf und reichte ihr seine Hand. Bereitwillig ließ sie sich von ihm hochziehen. „Komm her“, forderte er sie auf und streckte die Arme aus, „Und halt dich gut fest.“ Irritiert, aber erfreut von seiner für die letzte Zeit ungewöhnliche Unternehmungslust, nahm sie ihn in die Arme. Was das hier sollte, wusste sie zwar nicht, aber das würde sich ja schon zeigen. „Fester“, meinte Roman, und Annie verstärkte ihre Umarmung, bis sie meinte, ihm schon fast wehzutun. Kann ich das überhaupt? Ihm körperlich wehtun? Kurz dachte Annie darüber nach – er war zwar materiell da, aber wie funktionierte das? Konnte er physischen Schmerz spüren, konnte er überhaupt Berührungen spüren? Ihr Gedankengang wurde jedoch jäh unterbrochen, als urplötzlich der Boden unter ihren Füßen verschwand. Plötzlich saß sie, die Augen zugekniffen, den Atem angehalten. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Vor ihrem Gesicht befand sich irgendetwas sanft-gelblich leuchtendes, wie eine Glühlampe hinter Milchglas. Als sie den Kopf in den Nacken legte, um sich besser umschauen zu können, realisierte sie, dass es sich um ein riesiges, beleuchtetes Ziffernblatt handelte und dass sie auf Romans Schoß saß, mit dem Körper zu ihm hin. Sie setzte dazu an, ein wenig nach hinten zu rutschen, um wieder Abstand zwischen die beiden zu bringen, doch Roman umgriff sie fester, als er es bemerkte. „Vorsichtig“, sagte er mit flackernd glühenden Augen, „Guck mal hinter dich.“ Zögernd folgte sie sie seinem Hinweis und verlor vor Schreck beinahe die Balance. Die ganze Stadt erstreckte sich unter ihnen, all die kleinen Häuser mit vereinzelten erleuchteten Fenstern, die Straßenlaternen, die die Struktur der Kleinstadt mit ihrer stetigen weiß-gelben Tupfen betonten, die Leuchtreklamen des neuen Supermarkts in der Ferne. Wunderschön, dachte Annie. Es machte ihr irgendwie bewusst, wie klein sie war. Obwohl diese Stadt nicht groß war, wohnten so viele andere Menschen in ihren Häusern, liebten, litten, lebten dort, so wie sie. Sie war da nur eine von vielen, und ihre Probleme mit der Schule, mit Freunden kamen ihr nun so unbedeutend vor. Was war schon eine kleine Streiterei gegen tausende von Menschen, die jeden Tag nebeneinander und miteinander existierten?
Vorsichtig rutschte sie seitwärts von Romans Schoß hinunter, ließ sich dabei von ihm helfen. Einige Momente später saßen sie gemeinsam auf dem Vorsprung unter dem Ziffernblatt der Turmuhr, ließen wagemutig die Beine baumeln. „Dankeschön“, Annie atmete das Wort schon beinahe, „Das ist ein unglaubliches Geschenk.“ Roman lächelte ein wenig. Annie glaubte, aus dem Augenwinkel seine Umrisse kurz flackern zu sehen. „Als ich geworden bin, was ich bin“, sagte er, „Habe ich alles mögliche ausgetestet. Durch Wände gehen und so was – das ging eher schlecht als recht. Habe mir nur selbst wehgetan.“ Er gluckste ein wenig, tief in der Kehle. Also kann er Schmerzen fühlen, dachte Annie. Aber... „Jetzt kannst du so was doch“, vervollständigte sie ihren Gedanken laut, „Du kannst mich sogar einfach hier... hinzappen.“ Ihr war bewusst, wonach sie fragte. Ihr war bewusst, dass sie in Frage stellte, was Roman ihr über sich erzählt hatte. Die Worte des alten Mannes mit den grotesk verdrehten Augen hingen immer noch in ihren Gedanken fest, sie wurde sie nicht los. Sie wusste, was aus Roman wurde, doch sie wollte es endlich von ihm hören. Annie wollte einfach nur, dass Roman ihr vertraute, denn sie vertraute ihm. Trotz allem, was der Dämon gesagt hatte.
Romans Bild flimmerte statisch, er wand sich angesichts der Frage unbehaglich. „Ich“, begann er, überlegte kurz, „Ich verändere mich, weißt du? Es hat etwas damit zu tun, was ich nun mal bin.“
Heiße Wut flammte in Annie auf. Er war schon wieder ausgewichen, wollte nicht mit ihr reden, dabei war es doch genau das, was er immer von ihr verlangte. Er vertraute ihr nichts an, gar nichts. Sie wusste kaum etwas über ihn, er benahm sich fast, als hätte er, bevor sie ihn kennen gelernt hatte, gar nicht existiert. „Ich weiß doch schon, was du bist, Roman, ich weiß alles! Du kannst mit diesem dämlichen Versteckspielen aufhören, der alte Typ mit den weißen Augen hat mir schon alles erzählt. Ich weiß, dass du ein Dämon wirst!“ Kurz geschah nichts. Annie blinzelte, Roman schwieg. Für ihn fühlte es sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Es war, als hätte sie ihn hintergangen. Und das auch noch mit diesem widerwärtigen... Er ballte seine Hände zu Fäusten, die plötzlich von einem blauen Licht umgeben schienen. Es wurde immer heller, lief seine Arme hinauf, leckte an seiner Haut wie prasselndes Feuer, doch er spürte nur Kälte. „Was hat er dir gesagt?“, knurrte er schon fast, seine Stimme unnatürlich laut. Sie schien nicht mehr aus seinem Mund, sondern aus allen Richtungen zu kommen. Annie sank in sich zusammen, versuchte angestrengt, gegen den Knoten in ihrem Hals anzukämpfen, der ihr sagte, sie könne nicht reden, gegen das Rasen ihres Herzens anzukämpfen, das ihr sagte, sie sollte Angst haben. Es ist nur Roman, sagte sie sich, nur Roman, auf dessen Schoß ich eben noch saß. Wenn er mir etwas tun wollte, hätte er es doch spätestens dann getan. Wenn er es denn kontrollieren konnte. Sie schluckte. „Er meinte nur, dass du zu einem Dämon wirst, und dass du versuchst, es auf meine Kosten zu verhindern.“ Ein plötzlicher Windstoß fegte durch ihre Haare, ließ sie wild um ihren Kopf fliegen. Sie klammerte sich mit ihren Fingern am Rand des Vorsprungs fest, doch der Wind war noch lange nicht stark genug, um sie zu beeinflussen. Vielleicht ein gutes Zeichen?
„Er ist schuld“, stieß Roman hervor, „Ich kann nichts dagegen tun, Annie, und du auch nicht. Als er mir das gesagt hat, hat er gelogen, wie der dreckige Hund, der er ist. Er ist schuld, er hat mich ins Grab gebracht!“ Während seiner Rede hatte der Wind sich wieder gelegt, und seine Stimme klang noch der Hälfte plötzlich nicht mehr wütend und voll, sondern klein und gebrochen. Sie kam jetzt nur noch von ihm, und er ließ die Schultern hängen. Das blaue Licht umgab ihn zwar noch, doch es ähnelte nun eher einem Glühen als tanzenden Flammen. Sofort entspannte Annie sich, gleichzeitig von Erleichterung und einem warmen Gefühl der Bestätigung erfüllt. Sie wusste, er würde ihr niemals etwas tun. Und er würde sie auch niemals ausnutzen. Sie hätte dem Alten nie glauben dürfen. In dieses warme Gefühl mischte sich jedoch schon bald bittere Enttäuschung. Roman wirkte so unreif, und so ein Verhalten hatte sie von ihm nicht erwartet.
„Ich glaube dir“, begann sie sanft, löste eine Hand vom Vorsprung, um sie vorsichtig auf Romans Oberarm zu legen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch die Kälte, die ihre Hand umgab, sobald sie in das blaue Licht eintauchte, war es definitiv nicht. „Aber... wie kannst du alle Schuld auf ihn schieben? Ich meine, klar weiß ich nicht alles, aber bist du sicher, dass du nicht irgendwie... auch deinen Beitrag geleistet hast?“ Fahrig drehte Roman sich zu ihr hin, sah sie aus leuchtenden Frostschutzmittel-Augen an. „Er hat... Ich habe vielleicht meine Seele an ihn verkauft, aber er hat mir glauben gemacht, dass es der einzige Weg ist. Dass ich ihnen nur so helfen kann, mit seiner Hälfte des Deals.“ Annie schwieg. Sie hatte einmal gelesen, dass wenn man redet, seine Worte besser als Schweigen sein müssen. Ihr fiel nichts ein, was besser was als Stille. Sie fühlte sich kleinlich und dumm, dass sie ihn so schnell verurteilt hatte, und sie hasste sich ein wenig selbst dafür, wie sehr sie sich von anderen beeinflussen ließ.
Roman richtete seinen Blick wieder auf die Stadt und seufzte. „Ich wusste es, ich wusste, dass ich nicht darüber mit dir reden kann. Du setzt zu viel auf mich, als dass du mir zuhören kannst. Du willst dich an mir festhalten, aber ich bin kein Anker. Ich kann kein Anker mehr sein, verstehst du, ich verliere den Grund unter meinen Füßen. Ich verliere mich selbst, ich werde wie er.“ Er klang halb erstickt. Langsam lehnte Annie sich an ihn, legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie hoffte, es half ihm mit der Verzweiflung fertig zu werden, wenigstens ein bisschen. Nach einigen Minuten seufzte Roman erneut und strich sich die aus der Gelfrisur gelösten, braunen Haare zurück. Er zog sie an sich und bedeutete ihr, auf seinen Schoß zu klettern. „Komm“, sagte er leise, „Es ist gleich halb.“
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