Tag 4598 - Sich treiben lassen
u n e d i t e d
Es war eine Mittwochnacht. Eine Feriennacht, um genau zu sein – und deswegen war Annie auch noch vollständig angezogen, hellwach und scrollte auf ihrem Bett durch Tumblr, als Roman auftauchte. Mit einem kurzen Blick stellte sie fest, dass es ein durchschnittlicher Tag war – er flimmerte ein wenig und seine Augen leuchteten unnatürlich, doch er schien gut gelaunt zu sein. Sie klappte ihren Laptop zu und setzte sich auf, um sich mit dem Haargummi an ihrem Handgelenk einen unordentlichen Dutt zu binden. „Ist es echt schon Mitternacht? Man, mein Schlafrhythmus ist in den Ferien echt im Eimer“, merkte sie an und blickte ihn stirnrunzelnd an, als sie keine Antwort bekam. „Ist was?“, fragte sie, und Roman sah sie verwirrt an. „Was?“, fragte er, dann „Ach so, das war früher bei mir auch immer so.“ Er war kurz in Gedanken noch in der vorherigen Nacht gewesen, in der Annie bei ihrem Freund übernachtet hatte – auf den Fotos, die Annie ihm gezeigt hatte, wirkte er nett, ein großer Junge mit sanften braunen Augen und einem breiten Lächeln. Er hingegen war jemandem begegnet, den er wirklich nicht sehen wollte. Er war schließlich Schuld daran, dass er kein Leben hatte, er hatte Roman vorgeschlagen, sein Leben aufzugeben und gegen etwas anderes einzutauschen, seine Seele an ihn zu verkaufen. Irgendwo war ihm zwar klar, dass es seine Entscheidung gewesen war, doch die Schuld auf jemand anderen zu schieben, war nun mal leichter. Der bucklige, alte Mann hatte ihm auch noch kurz vor seinem Tod Hoffnungen gemacht, ihm verschwörerisch zugeflüstert, es gebe einen Ausweg aus dem Vertrag, eine Möglichkeit, nicht zu einem Dämon zu werden, doch dass er dazu jemand anderes brauchen würde, jemand lebendiges.
Und diese Hoffnung hat er ihm gestern genommen, mit den einfachen Worten, er habe ihn angelogen. Roman hatte rot gesehen, jegliche Sicherungen waren ihm durchgebrannt. Schlimmer als in dieser Nacht mit Annie und Minna, viel schlimmer. Er war nur froh, dass niemand lebendes in der Nähe war, dass er niemanden geschadet hatte. Er hätte es sich wahrscheinlich nicht verzeihen können.
Das gute an dem Ganzen war, dass er jetzt wenigstens keine Gewissensbisse mehr spüren musste, wenn er mit Annie redete. Er könnte natürlich versuchen, sie nun in Ruhe zu lassen, ihr aus dem Weg zu gehen, um sie aus den Schwierigkeiten, die auf ihn zukamen, herauszuhalten. Doch er war zu egoistisch dazu geworden, er wollte seine letzten Jahre mit seiner Menschlichkeit nicht allein verbringen. Also ließ er sich neben sie auf die Tagesdecke fallen und sah sie mit einem leichten, erleichterten Lächeln auf den Lippen an. „Und, was gibt’s neues?“ Annie presste die Lippen zusammen, öffnete kurz den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn wieder. „Ich hab... ich hab mir heute etwas machen lassen. Ich glaub nicht, dass ich es mal bereuen werde. Denke ich.“ Auf Romans verwirrten Blick und ein leichtes Flackern seiner Umrisse hin seufzte sie und hob die Seite ihres lockeren grauen Shirts so an, dass die Seite ihres Torsos frei lag. Dort, genau unterhalb des Stoffes ihres BHs, prangte das leicht gerötete Bild einer detaillierten, geschwungenen Feder, darunter in Druckbuchstaben die Worte 'I won't float'. Sie ließ ihr Shirt wieder sinken und sah Roman, der die Lippen geschürzt hatte, unsicher an. „Du bist doch noch nicht achtzehn“, sagte er und kurz huschte ein verletzter Ausdruck über ihr Gesicht. Doch sie fing sich schnell wieder und sagte: „Ja, aber Joshua hat mir einen gefälschten Ausweis besorgt. Ich habe ziemlich lange gespart, ich wollte mir eigentlich zu meinem 18. Geburtstag eins stechen lassen.“ Roman nickte langsam, dann lächelte er. „Ich find's schön“, sagte er und fragte dann sie der Bedeutung. „Ich habe da diese Vorstellung, es ist schon ein bisschen komisch“, setzte sie zögernd an, „Aber ich denke – wenn wir klein sind, wenn uns etwas beigebracht wird, ist es immer so oberflächlich. Sie erzählen dir davon, ein erfolgreiches Leben zu führen, glücklich zu werden und eine Familie zu gründen, doch niemand erklärt dir, wie du täglich klarkommen sollst. Nicht, wie du damit klarkommst, dass andere hinter deinem Rücken über dich reden, oder wie du eine Hausratsversicherung abschließt oder so etwas. Das ist, als würde dir gesagt werden, du sollst schwimmen und sie dir die Grundbewegungen kurz zeigen, und dann werfen sie dich mitten ins Meer. Dass man dann noch nicht richtig schwimmen kann, ist ja klar. Vielleicht lerne ich mit der Zeit dazu, aber so richtig gleiten, mich treiben lassen werde ich nie können.“
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