Tag 2955 - Ausbruch

„Nur noch fünf Minuten“, murmelte Annie mit einen kurzen Blick auf die Turmuhr vor ihren Fenster in sich hinein. Sie runzelte die Stirn und blickte Minna an, die in pinken Boxershorts und einen schwarzen Tanktop im Schneidersitz auf ihrem Bett saß und das Ende ihres hohen Pferdeschwanzes um ihren Finger wickelte, während sie konzentriert die 'InStyle' studierte. Überrascht spitzte sie die Lippen. „Annie, wusstest du, dass Jennifer Aniston eine eigene Modelinie veröffentlicht?“ Annie atmete tief durch und versuchte, sich selbst zu überzeugen, dass das sie wirklich interessierte. „Echt? Ist ja cool“, sie seufzte und es klang falsch in ihren eigenen Ohren. „Ich wünschte nur, ich könnte mir die Klamotten aus der Linie dann auch leisten. Ich wette, sie werden toll.“ Sie ließ sich zu ihrer Freundin auf die geblümte Bettdecke fallen und fuhr unwillkürlich über den weichen Stoff. Dann streckte sie ihren Arm nach dem Magazin aus und klappte es zu. Minna machte einen protestierenden Laut und sah mit empörter Mine hoch. „Hey, was soll das?“ Annie nahm die InStyle und warf sie in Richtung ihres Schreibtischs, den sie erst letztens mithilfe ihrer Mutter unordentlich weiss angestrichen hatte. Sie landete auf dem Drehstuhl und rutschte von ihm hinunter zu Boden, doch Annie achtete gar nicht mehr darauf.

„Es ist gleich zwölf“, sagte sie eindringlich und sah ihrer Freundin in die Augen. „In-“, sie warf einen Blick auf ihr Handy, „-in zwei Minuten ist Mitternacht.“ Plötzlich sprang sie auf und bot Minna ihre Hand an, welche sie perplex ergriff. Annie lächelte verkrampft und gab zu: „Es könnte sein, dass ich Roman nicht erzählt habe, dass du heute da bist...“ Hastig sah sie sich um. Ihre Augen blieben an ihrem Schrank hängen, zu dem sie hinüberlief und die Tür öffnete. Sie gestikulierte auf die Türöffnung zu. „Versteck' dich einfach erstmal hier drin, ja?“ Hoffnungsvoll sah sie Minna entgegen, die eine Augenbraue hochgezogen hatte. „Bitte“, fügte Annie fast flehend hinzu.

Minna ließ die Augenbraue sinken und schürzte die Lippen, als würde sie innerlich debattieren, ob sie wirklich in einen Schrank krabbeln wollte. Dann gab sie sich einen Ruck und schlenderte auf den Schrank zu, um zögernd hineinzuklettern und sich hinzukauern. „Wehe, ich mach das hier umsonst“, zischte sie und zog die Schranktür zu. Nur einen kleinen Spalt ließ sie offen, durch den sie hindurchlinsen konnte.

Annie rieb sich die Stirn und hob die am Boden liegende InStyle auf, ließ sich auf den Drehstuhl fallen und schlug wahllos eine Seite auf, gerade rechtzeitig, bevor die Kirchuhr 12 schlug.

Kaum waren die Glocken verklungen, flimmerte die Luft vor dem Fenster und die Aussicht auf das gelb leuchtende Ziffernblatt wurde durch Romans grinsendes Gesicht ersetzt. Scheinbar unbeteiligt sah Annie von ihrem Magazin auf und erwiderte sein Lächeln, wenn auch nur halbherzig. Das hier würde ihm nicht gefallen, das wusste sie. Gut gelaunt begrüßte er sie, nahm ihr die InStyle vom Schoß und warf sie auf den Tisch. Immer noch schmunzelnd lehnte er sich mit dem staubigen Hintern an die Kante des Schreibtischs und zog eine Augenbraue hoch. „Und, was ist diese Überraschung, von der du mit erzählt hast?“ Er sah aus, als wäre es wie ein Lottogewinn für ihn. Annie schluckte. „Also, eigentlich glaube ich fast, dass -“ Dazu, den Satz zu beenden, kam sie nicht mehr, denn die Tür ihres antiken Schranks flog geräuschvoll auf und eine fassungslose Minna stolperte hinaus. „Ich glaub's nicht!“, rief sie aus, „Du hast wirklich die Wahrheit gesagt!“

Romans Schmunzeln fror auf seinem Gesicht fest, dann verwandelte es sich langsam in ein Aufeinanderpressen der Lippen. Einen Moment passierte nichts. Annies Blick klebte an ihrem Freund fest, sie wartete besorgt seine Reaktion ab. Würde er wütend auf sie sein? Sich Minna freundlich vorstellen, wie er es bei ihr getan hatte? Würde es etwas ganz anderes sein? Das einzige Geräusch war das Ticken der Uhr auf Annies Nachttisch. Minnas Gesichtsausdruck wechselte von überrascht zu irritiert, von irritiert zu belustigt und befremdet. Romans Kiefermuskel zuckte, und in dem Moment wurde Annie klar, dass sie einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Schließlich brach Minna die Stimme, trockener Humor schwang in ihrer Frage mit. „Sagt auch bald mal 'wer was? Ich meine, wir können uns auch weiter anschweigen, aber ich hab' eine Tonne von Fragen.“ Sie kicherte, und Romans Finger verkrampften sich um die Tischkante.

Und dann passierte plötzlich alles auf einmal.

Donner grollte auf und Blitze zuckten, erhellten das Zimmer und tauchten es in ein surreales Licht, wie in einer Geisterbahn. Ein leises Surren erklang, schwoll immer weiter an, bis Minna und Annie klar wurde, dass es von den Lampen kam. Die Schreibtischlampe sprang an, und plötzlich wurden alle Glühbirnen heller, so unglaublich hell, wie sie es noch nie gesehen hatte. Minnas krampfhaftes Lächeln entglitt ihr und machte einem Ausdruck purer Angst platz. „Was ist los?“ Panisch blickte sie sich um, schlang die Arme um sich, doch es gab nichts, was sie tun könnte. Das Surren wurde so laut, das Annie sich mit schmerzverzerrter Miene die Ohren zuhielt, und plötzlich zersprang die Deckenlampe. Ein Knall ertönte, es donnerte, Glas regnete auf sie herab, Minna schrie auf und stolperte zur Seite, doch Roman regte sich immer noch nicht. Die Steckdosen begannen, blaue Funken zu sprühen, und die restlichen Lampen zerbarsten: Nachttisch, Schreibtisch, über dem Bett, bis das Zimmer bis auf das Zucken der Blitze im Dunkeln lag. Nur von Romans Figur schien ein unheimliches, kaltes Glühen zu umgeben. Seine Augen schienen jegliche Farbe verloren zu haben, sie wirkten bleich und kalt, und als er dort am Tisch lehnte, der begann, unter seinen Fingern zu zerbersten, hatte Annie zum ersten Mal in ihrem Leben Angst vor ihm. Stumme Tränen liefen ihre Wangen hinunter, sie hatte sich die Unterlippe blutig gebissen ihm Versuch, sie am Zittern zu hindern. Ein besonders lautes Krachen folgte einen kalt-blauen Blitz, und Minna zuckte zusammen und wimmerte auf. Sie hatte sich in fötaler Position in der Ecke zusammengekauerte, so weit von Roman weg wie möglich, und ihr Gesicht war verzerrt.

„Hör auf“, wisperte Annie, „Bitte, bitte, bitte, mach das es aufhört.“ Romans Gestalt flimmerte, und plötzlich stand er vor ihr, doch sie erkannte ihn nicht wieder. Das war nicht der Junge, der sie getröstet hatte, wenn sie einen Albtraum hatte, nicht derselbe, der mit ihr unter leuchtenden Mitternachtsblumen saß und dessen Augen voller Staunen waren. Er war ein Fremder.

„Hör auf!“, schrie sie, ihre Stimme kreischte und brach in einer Tonlage, die sie sich selbst nicht zugetraut hatte.

Auf einmal war es draußen wieder ruhig. Minna hob verwundert den Kopf, Mascara in Streifen über ihr Gesicht verteilt. Nur noch das Mondlicht erhellte den Raum.

Angsterfüllt blickte Annie Roman an und sah, dass seine Augen wieder blau waren, doch das Glühen umgab ihn immer noch, seine Fäuste waren immer noch geballt.

„Du hast mich verraten, Annie“, wisperte es aus allen Winkeln des Zimmers, doch sein Mund blib geschlossen. Er legte den Kopf schief und seine Erscheinung flackerte, rauschte wie das Störsignal im Fernsehen, und dann war er verschwunden.

Aufatmend sank Annie zu Boden, dann schluchzte sie auf, unkontrolliert zitternd.

Ihre Zimmertür flog auf und Licht flutete aus dem Flur in das Zimmer. Marissa stand im Türrahmen und sie keuchte angesichts des Anblicks, der sich ihr bot, auf. Sie stolperte auf ihre Tochter zu, das Glas knirschte unter ihren Hausschuhen. Fest nahm sie ihre bebende Tochter in den Arm, drückte sie mit aller Kraft an sich.

„Was ist passiert? Gott, was ist passiert?“

 

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Tags: #fantasy