Tag 1461 - 8. Geburtstag (Teil 1)
u n e d i t e d
„Weißt du was?“, fragte Roman und lächelte Annie verschmitzt an. „Was denn?“, fragte diese neugierig zurück. Sie saßen sich auf dem Boden gegenüber, beide im Schneidersitz. Der weiße Flauschteppich, der vor Staub schon eher grau geworden war, machte es ihnen bequem in dieser Position.
Annie rutschte immer wieder ein Kichern heraus; sie fühle sich wie so ein Mönch, meinte sie. Dann hatte sie die Augen geschlossen und ein vernehmbares 'Ohm' von sich gegeben, gerade leise genug, um ihre Mutter nicht zu wecken. Roman hatte sich ein leises Glucksen nicht verkneifen können.
„Du kennst mich schon dein halbes Leben“, verkündete er nun, die Augen so funkelnd, das Annie schon fast glaubte, sie Funken sprühen zu sehen. Ihre Augen weiteten sich überrascht. Sie murmelte leise vor sich her und benutzte ihre Finger, während sie nachrechnete. „Ich bin 8, und ich hab dich kennengelernt, als ich 4 war“, wisperte sie, „8 geteilt durch 2 sind 4, genau wie 8 minus 4.“ Sie hob den Blick von ihren Fingern, die sie nun in ihren Schoß sinken ließ, und sah Roman erstaunt an. „Du hast Recht“, sagte sie verblüfft, und Roman nickte lächelnd. „Wow“, atmete Annie aus.
Roman sah zu Boden, dann stand er auf und bot ihr seine Hand an. Das Mädchen ließ sich von ihm hochziehen. Einen Moment standen sie sich nur gegenüber, schweigend. Dann breitete sich ein Lächeln auf Annies Gesicht aus. „Ich muss dir 'was zeigen“, verkündete sie und trat neben ihr Bett. Sie zerrte mit vollem Einsatz an der Matratze herum in dem Versuch, sie hochzuheben. Kurz darauf trat Roman neben sie und hob die Matratze für das Mädchen an, auch wenn er keine Ahnung hatte, was das Ganze werden sollte. Das Mädchen lehnte sich vor und streckte ihren Arm unter die Matratze und bewegte sie auf dem Lattenrot hin und her; sie schien etwas zu suchen. Ihre Stirn runzelte sich in Konzentration, und Roman versuchte, sich ein Lächeln zu verbeißen. Er hatte es vermisst, sich um jemanden zu kümmern. Nach einigen Sekunden hielt Annie inne und ihre Miene hellte sich auf. Sie zog ihren Arm unter der Matratze hervor und hielt triumphierend irgendetwas hoch, Roman erkannte es nicht genau. Erleichtert ließ er die Matratze zurück in ihre Lücke fallen.
Entweder ist die Matratze wirklich schwer, dachte er, oder ich hätte einfach mehr trainieren sollen, bevor ich gestorben bin. Irgendwie amüsierte ihn der Gedanke, das Ganze hatte eine gewisse Ironie. Er hatte gedacht, dafür hätte er noch alle Zeit der Welt, wenn er alt war.
Annie riss ihn aus seinen düsteren Gedanken, indem sie ihm ihren Fund unter die Nase hielt. Es war ein Blatt Papier, wie er nun erkannte. „Zeig mal her“, forderte Roman sie auf, nahm ihr sanft das Blatt aus der Hand und hielt es weiter von sich weg, um erkennen zu können, was darauf zu sehen war.
Es war ein Bild, eine Kinderzeichnung von einem Raum, mit Buntstiften gefertigt. Es gab einen Schrank, einen Schreibtisch, ein Bett und einen Teppich, der nur in Konturen gezeichnet war. Er sollte weiß sein, wurde Roman klar. Das Zimmer hatte auch ein Fenster in der Mitte, hinter dem eine Turmuhr zu sehen war, die auf 12 stand. Um sie herum war alles schwarz. Obwohl die Proportionen und die Einrichtung nicht passte, begriff Roman schnell, dass es Annies Zimmer sein sollte. Vor allem an den Figuren, die auf dem Bett standen, ein Mann mit kaputter Hose und weißem Hemd und ein blondes Mädchen in rotem Kleid, das seine Hand hielt.
„Hast du das gemalt?“, fragte Roman. Seine Stimme klang seltsam belegt, doch er wusste nicht warum. Annie nickt und lächelte ein breites, stolzes Kinderlächeln. „Schön geworden, oder?“, fragte sie und Roman stimmte zu, aber sein Gesicht blieb unbewegt. Als nach ein paar Sekunden immer noch Stille herrschte und keiner der beiden sich bewegt hatte, ergriff Annie wieder das Wort. „Ich hab's unter der Matratze versteckt, weil ich nicht wollte, das Mama es sieht. Ich hab schon mal ein Bild von uns gemalt, und da wurde sie plötzlich ganz traurig und hat gefragt, ob das mein Vater sein soll. Ich hab nein gesagt, aber sie hat mir nicht geglaubt.“ Der steinerne Ausdruck auf Romans Gesicht vertiefte sich, doch in ihm herrschte das reinste Gefühlschaos. Schuldgefühl, Stolz, Freude, Trauer vermischten sich zu einer einzigen Emotion, die er nicht bestimmen konnte und die ihm die Kehle zuschnürte.
Er versuchte, es zu ignorieren.
„Komm, ich muss dir auch etwas zeigen“, meinte Roman schließlich und nahm Annie bei der Hand. Er stieß das Fenster auf und kalte Nachtluft wehte hinein, die die Gardinen zum Flattern brachte. Kurz ließ er Annies Hand los, um sich auf die Fensterbank zu hieven, dann sah er zurück zu ihr. „Du musst mir jetzt einmal vertrauen“, wies Roman sie an, „Und ganz vorsichtig sein. Komm näher.“ Zunächst zögernd, dann sicherer ging das Mädchen auf ihn zu, bis sie kurz vor ihm stand. „Und jetzt dreh' dich um.“ Sie gehorchte, und Roman legte seine Arme um ihre Taille, um sie dann zu sich auf den Schoß zu heben. „Nicht bewegen“, erinnerte er sie noch einmal warnend, dann begann er, sich auf der äußeren Fensterbank aufzurichten. Die Vertiefung in der Fassade, in der Annies Fenster im 1. Stock lag, war kaum einen halben Fuß breit, und Roman hatte Schwierigkeiten, sich darauf zu halten, vor allem, da er immer noch mit Gesicht zum Zimmer stand. „Bereit?“, fragte er leise, und Annie nickte schwach, unwissend, was jetzt kommen würde.
Roman hob seinen rechten Fuß an und machte einen Schritt nach hinten.
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