18. Geburtstag - Erwachsen (Teil 2)
unedited.
Es
heißt, wenn dein Leben vorbeigeht, zieht dir alles noch einmal am
inneren Auge vorbei, und dann weißt du, ob dein Leben wirklich
lebenswert war. Als Roman gestorben ist, hat er nichts davon gemerkt;
kurz aufflackernde Panik, der Gedanke, dass er das Richtige tat,
Schmerz – und Leere. Und als er aufgewacht war, hatte er keinen
Körper mehr und die Leere war ein stetig wachsender Teil seiner
selbst geworden, vergleichbar mit der gähnenden Leere des Hauses,
verlassen von allem, das er liebte. Und dann, nach endlosen,
eintönigen Jahren, in denen er allein war mit seinen quälenden
Fragen, da tauchte plötzlich ein Mädchen auf. Klein, mit
wuscheligen blonden Haaren und einem Teddybären unter dem Arm, ohne
den sie nicht schlafen konnte. Sie schien die Leere ein wenig
auszufüllen, mit Neugier, Intelligenz und Naivität, eine
Kombination, die einfach nicht spurenlos an ihm vorbeiziehen konnte.
Mit ihr kam auch wieder Hoffnung auf, die Erinnerung an geraunte
Worte, kurz bevor er sein Leben und seine Seele für seine Familie
aufgab, eine kratzige Stimme, die sagte, es gebe kaum einen Ausweg,
habe er sich einmal entschieden. Kaum.
Und
dann wurde ihm klar, dass sie nicht nur für ihn da war. Er musste
für sie dasein, denn ganz langsam, kaum merklich, war er ihr großer
Bruder geworden, der, der sie leitete, wie ein Vater, ein Vorbild. Es
war eine unglaubliche Last auf seinen Schultern, denn er wusste, er
würde sie nicht tragen können, nicht lange, und der Gedanke daran,
ihr wehzutun, tat ihm wiederum weh. Es war falsch, dachte er, doch
'falsch' war ein gesellschaftliches Konstrukt, und welche
Gesellschaft blieb ihm noch? Er hatte alles, verloren, sogar sich
selbst. Was wurde denn aus einem Menschen, wenn er alles verlor, was
er liebte? War er dann überhaupt noch ein Mensch, oder eher ein
Schatten, getrieben von Existenzangst und Hass? Vielleicht war es
Selbstzerstörung, Annie so nahe zu kommen, ein wunderschönes Stück
Selbstzerstörung.
Roman
lies all seine alten Gedanken Revue passieren, doch sie berührten
ihn nicht mehr. Sie hinterließen nur ein hohles Klingeln in seinem
Kopf, als ob sie eigentlich etwas auslösen sollten.
Er
saß gemeinsam mit ebenjenem Mädchen dort, wo für ihn alles
begonnen hatte. Als er jünger war, war er immer hierher gekommen,
wenn er wütend oder enttäuscht war oder einfach nur allein sein
wollte, so wie nach der Diagnose seiner Mutter. Seine Schwestern
waren im Haus, seelenruhig, sie wussten noch nichts, sein Vater war
weggesperrt in einer Klinik, seine Mutter lag weinend im Bett und er
saß hier, inmitten der Mitternachtsblüten, allein. Bis er
aufgetaucht war. Er mit seinen verheißungsvollen Worten,
mit den heiseren Versprechungen. Deine Seele, hatte er gesagt,
deine Seele für ihre. Er hat sie sich nach und nach geholt.
Roman erinnerte sich daran, dass er einmal gedacht hatte, es sei ein
Teufelskreis, in dem gute Menschen sich selbst zu einem traurigen
Schicksal verdammen.
Roman
blieb unberührt, doch Annie weinte, wie sie dort vor ihm auf den
verwelkten Blütenblättern kniete. Vor ihren Beinen, zwischen den
beiden, lag ein schlichter, grauer Stein. Er war quadratisch und
abgenutzt, doch keiner der beiden schenkte ihm viel Beachtung. Der
Busch, der die Mitternachtsblüten trug, war ein trauriger Anblick.
Er trug kaum noch Blüten; und die, die noch vorhanden waren, ließen
kraftlos ihre Köpfe hängen. Es war, als ob sie auch trauerten, als
ob sie auch Abschied nehmen würden, dachte Annie. Ihre Augenlider
waren rot und geschwollen, was ihre Augenfarbe deutlicher
hervorstechen ließ. Schniefend wischte sie sich die Tränen aus dem
Gesicht, wütend auf sich selbst. Hier war sie, verbrachte ihre
letzten Augenblicke mit Roman, und sie verschwendete sie mit Weinen.
Das Gewicht des Vorschlaghammers in ihrem Schoß schien den Kloß in
ihrem Hals nur zu verstärken.
Sie
blickte kurz auf ihre silberne Armbanduhr, im Mondlicht waren die
Ziffern darauf klar zu erkennen. 15 Minuten nach Mitternacht. Die
Zeit wurde knapp. Sie musste sich jetzt zusammenreißen, sonst würde
sie sich nicht mehr verabschieden können.
„Irgendwie
dachte ich früher, du würdest immer für mich da sein", ihre
Stimme zitterte. Gott, bitte nimm das jetzt nicht als Vorwurf.
„Ich meine damit... du hast mir geholfen, die zu werden, die
ich heute bin. Du hast mir gezeigt, dass..." Annie räusperte sich
kurz. Ihr Gesicht war fleckig vor Tränen. „Man sollte seinen Wert
nicht durch andere definieren lassen, und das hast du mir gezeigt."
Roman blinzelte. Er fühlte sich hohl, als würde etwas fehlen.
Vielleicht war es der Nachhall eines Gefühls, dass er beinahe
vergessen hatte. Ein Vogelschrei zerriss die stehende Nachtluft.
„Was
ich damit sagen will, ist eigentlich... Danke. Du warst immer wie ein
Halt für mich, weißt du, auch wenn du dich selbst verloren hast,
warst du immer für mich da. Solange du konntest und du hast es immer
versucht, du hast dein bestes gegeben und ich will, dass du weißt,
dass ich das weiß." Mit zusammengepressten Lippen schluckte sie.
Schneller, schneller. Die Zeit rannte ihnen davon. Es musste heute
sein, was ist, wenn sie es sonst vergessen würde? Wenn es nur ein
Datum wie jedes andere werden würde? Der Gedanke machte ihr Angst,
und die Angst drängte ihre Zunge, weiterzureden. „Du hast mir
einmal gesagt, dass niemand wirklich stirbt, wenn es noch Leute gibt,
die sich an ihn erinnern. Für mich bist du unsterblich, du bist mein
Lumpenmann, der mich zum Lachen bringt und der mich immer beschützen
wird, weißt du noch?" Abermals schniefte Annie. Romans Lippen
öffneten sich leicht. Das Glühen, das ihn umgab, schien intensiver
zu werden. Seine Augen waren kaltes, blaues Feuer. Als sie ihn so
betrachtete, versuchte, sich seine Züge ganz genau einzuprägen, als
könne sie so das Vergessen, das alles zerfraß, aufhalten, traf sie
ein Gedanke wie ein Schlag. Die bisher so mühevoll zurückgehaltenen
Tränen rollten wieder ihre Wangen hinunter und tropften auf ihre
nackten Beine und den Stoff ihrer kurzen Hose, auf ihr lockeres,
graues Top und den staubigen Vorschlaghammer auf ihrem Schoß. Würde
die kleine Annie Roman jetzt treffen, hätte sie wahnsinnige Angst
vor ihm. Dabei war ihr ihr erstes Gespräch noch so nah. Und seine
Versprechen, ihr so schnelles Vertrauen. Wie sicher sie sich bei ihm
gefühlt hatte.
„Hast du
noch Angst?" - „Nein." - „Warum nicht?" „Du bist doch
da", kam die Antwort prompt „Du passt doch auf mich auf. Du
beschützt mich doch, oder?" Ein ewiges Versprechen. „Ich
werde dich immer beschützen."
„Aber
ich darf dich nicht mehr festhalten, nur weil ich Angst habe, alleine
zu stehen", fuhr sie mich zittriger, hüpfender Stimme fort. Sie
gehorchte ihr schon längst nicht mehr. „Du kannst mich nicht ewig
beschützen, nicht als diese Hülle und schon gar nicht als Dämon."
Sie schluckte. „Ich muss erwachsen werden."
Ihre
Worte klangen so groß, doch Annie fühlte sich in diesen Minuten
ganz klein. Ein übermächtiger Drang, sich einfach zusammenzurollen
und die Welt auszublenden, bis alles wieder gut war, drohte sie zu
überwältigen. Ihre Tränen und die unausgesprochenen Wort brannten
in ihrer Kehle und machten sie ironischerweise sprachlos. Doch sie
wusste, es war ihre Pflicht, ihre Verantwortung Roman gegenüber, es
zu tun. Sie musste zumindest versuchen, ihm etwas von all dem, was er
für sie getan hat, zurückzugeben. Er hatte vollkommen freiwillig so
viel Verantwortung auf seine Schultern geladen, jetzt war sie an der
Reihe, für Roman stark zu sein.
Zögerlich
legte Annie ihre Finger um den Knauf des Hammers, schloss ihre Hand
darum. Drückte zu. Fest. Für einen Wimpernschlag herrschte eine
energiegeladene, angespannte Stille. Dann erhob Roman seine Stimme.
„Ich habe dich sehr geliebt, Annie", sagte er. Seine Stimme klang
leicht heiser, wie von einem statischen Rauschen gestört, doch
ehrlich und vielleicht, vielleicht ein kleines bisschen weniger leer
als zuvor. Er fühlte kaum noch, doch er erinnerte sich.
Annie
dachte, dass es vielleicht das gleiche Phänomen wie bei todkranken
Menschen war. Kurz, bevor sie dann wirklich starben, scheint es
wieder bergauf zu gehen, für einen letzten guten Tag. Es erinnerte
sie an ein letztes Aufbäumen vielleicht sogar der Seele, die danach
strebte, ein letztes Mal wirklich zu leben. Romans Seele bäumte sich
auf, um ein letztes Mal zu fühlen, und wenn es nur der Schatten
eines Gefühls war. „Ich war so unglaublich stolz auf dich, immer.
Dich aufwachsen zu sehen, ich habe davon als Geschenk gedacht. Als
Geschenk von mir an mich selbst, doch immerhin ein Geschenk – und
meine Sünde." Das gab Annie den Rest.
Schluchzende
warf sie sich nach vorn und schlang die Arme um Romans flimmernden
Körper, vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd und ballte ihre Hände
daran zu Fäusten. „Ich will nicht, ich will nicht, ich will
nicht", murmelte sie, „Ich will nicht, dass du gehst." Ihre
Stimme brach, wurde zu einem Flüstern. „Bitte nicht. Ich liebe
dich. So sehr." Langsam, unschlüssig legte Roman steif seine Arme
um Annies bebenden Körper. Instinktiv – so musste es sein –
strich er ihr durch die Haare. Er wusste nicht mehr, was er sagen
sollte – die tröstenden Worte waren ihm ausgegangen. Einen Moment
verharrten sie so, dann ließ Roman seine Arme sinken. "Komm",
forderte er sie mechanisch auf, „Wir haben nicht mehr viel Zeit."
Es war dieser Moment, in dem er entschied, dass er es alles beenden
wollte – er wollte nicht mehr so existieren. Er wollte nicht dieser
wachsenden Leere in ihm nachgeben. „Komm", wiederholte er, gab
sich Mühe, sanft zu klingen. "Ich
will, dass du es tust. Es soll jemand sein, dem ich etwas bedeutet
habe."
Annie
nickte an seiner Schulter und löste zögerlich ihre Umarmung.
Diesmal machte sie sich nicht mehr die Mühe, die Tränen
wegzuwischen. Sie versuchte, sie mit Stolz zu tragen. Ein letztes Mal
blinzelte sie ihn an – sie wollte auch nicht vergessen, auch wenn
das unmöglich war. Wenn er erst einmal verschwunden war, würde
nichts mehr an ihn erinnern – kein Foto, keine Aufnahme, nicht
einmal ein Grab. Es würde sein, als ob es ihn für sie nie gegeben
hätte.
Sanft
drückte sie ihre Lippen auf seine Wange, verharrte dort einen
Augenblick. Seine Haut fühlte sich kühl und unwirklich an. Er war
schon beinahe fort, und dieses beinahe tat unendlich weh. Sie atmete
tief durch und zog sich zurück, griff wieder nach dem
Vorschlaghammer, hob ihn mit festem, bestimmten Griff hoch. Wenn man
Pflaster schnell abreißt, entsteht am wenigsten Schmerz. Doch Roman
war kein Pflaster. Annie blickte den schmutzigen Grundstein vor ihren
Knien an. Ihn aus dem Kamin zu bekommen, hatte sie viel Mühe und
blutige Finger gekostet, doch es war egal. Sie hob den Hammer,
richtete ihre Augen auf Roman, versuchte ihn zu fixieren. Ohne dass
Annie es bemerkte, verließ ein gewispertes „Danke" ihre Lippen,
und Roman lächelte leicht. Es fühlte sich fremd an, dachte er.
Und
plötzlich sauste der Hammer zu Boden.
In
dem Moment, in dem er den Grundstein seines Elternhauses traf, schien
Roman aufzuleuchten. Nicht in dem üblichen Blau, sondern in einem
sanften Weiß, dass Wärme zu verströmen schien. Und da war es, sein
Grinsen, das Grinsen von früher. So breit, dass er seine blauen
Augen zusammenkniff, die zu Leuchten schienen. Es war ehrlich, und
das machte es wunderschön. Das Grinsen zitterte an den Mundwinkeln,
als eine Träne seine scharfe Nase hinuntertropfte.
„Du
musst keine Angst haben, Annie", versprach er. „Ich vergess' dich
nicht."
Die
Turmuhr schlug. Einmal, zweimal. Eine zweite Träne rollte seine
Wange hinunter, doch das Lächeln verließ seine Lippen nicht
Und
dann verblasste seine Gestalt und er verschwand, für immer.
Annie
saß allein mit ihren Tränen, den Trümmern des Steines, der Romans
Seele gebunden hatte und dem Hammer, mit dem sie ihn zerstört hatte.
Sie wusste, auch sie würde gehen müssen, denn diese Wände würden
nie wieder ein Zuhause für sie sein können.
Es wird noch ein Epilog folgen
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