7~
Der nächste Morgen wartete mit einem unglaublichen Sonnenaufgang auf mich. Der Himmel strahlte in allen Nuancen von Orange und Rot, es war schon beinahe kitschig. Es war halb sechs, Ann-Kathrin fuhr im Auto zu den Stallzelten und wir hörten Radio. Es war eine beruhigende Atmosphäre, vor allem für meine Nerven, welche verrückt spielten. Ich hatte zu Frühstück gar nichts runtergebracht und mir war beinahe schlecht vor Aufregung. Und dass alles obwohl die Schweizermeisterschaften erst am Nachmittag waren. Und weil ich relativ gut platziert war, würde ich noch später starten.
Ann-Kathrin hielt an einem Drive-In an. «Kaffee?», fragte sie, stellvertretend für alle Arten von warmen Getränken und Gebäck dazu. Ich schüttelte nur den Kopf. Ann-Kathrin sah mich streng an. «Olivia du musst etwas essen, sonst kippst du um, bevor du auch nur gesattelt hast.» «Gut, eine warme Schokolade», gab ich nach. Mit Kaffee, Schokolade und Gipfeln eingedeckt, fuhr Ann-Kathrin weiter. Ich nippte einige Male lustlos an meiner Schokolade. Schlussendlich war mein Pappbecher fast leer als wir auf den Anhängerparkplatz fuhren. Ich kippte den letzten Rest hinunter und stieg aus. Die kühle Morgenluft verpasste mir ordentlich Gänsehaut. Vielleicht hätte ich doch eine Jacke mitnehmen sollen.
Hier herrschte trotz der frühen Uhrzeit ein ziemliches Gewusel. Dark Princess und Michelangelo waren nicht die einzigen Pferde die verpflegt werden müssen. Der Ablauf war fast der gleiche wie gestern Abend: füttern, tränken, misten. Dann putzten wir die Pferde und gingen spazieren. Ann-Kathrin telefonierte mit jemanden, so entschied ich mich dazu, meinen emotionalen Support, Lou anzurufen. Obwohl es kurz nach sieben war, nahm meine beste Freundin sofort ab. «Liv, weisst du wie spät es ist?», fragte sie vorwurfsvoll, aber kein bisschen verschlafen, woraus ich schloss dass sie schon wach gewesen war. «Zehn ab sieben», antwortete unschuldig. Lou lachte. «Lass mich raten, du brauchst emotionale Unterstützung. Ist Fiona nicht bei dir?» Sie wusste es anscheinend noch nicht. «Warst du gestern nicht im Gemeinschaftsraum?», fragte ich erstaunt. Im Normalfall liess sich Lou, wie die meisten Schüler, die Sportzusammenfassung nicht entgehen.
«Nein, ich bin seit gestern Mittag nicht mehr aus meinem Zimmer gekommen, hab mir irgend einen Virus eingefangen und den ganzen Tag geschlafen. Wieso, ist etwas passiert?» Ich hörte die Sorge aus ihrer Stimme heraus. «Du solltest es dir lieber selbst ansehen. Gib mal auf YouTube Fiona Narrodini CSIO 2018 ein.» «Warte einen Moment.» Ein Rascheln war am anderen Ende der Leitung zu hören. Dann ein leises «Pling», welches vermutlich von Lous Laptop stammte, der gerade gestartet wurde. Mittlerweile hatten Micky und ich das Turniergelände verlassen und bogen in den Waldweg ein, welchen ich gestern schon genommen hatte.
Am anderen Ende der Leitung erklang eine weitere, blechern klingende Stimme. «Für einen Schreckmoment sorgte Fiona Narrodini als ihre Stute Dark Princess durchging. Die Bündnerin wurde ins Spital eingeliefert» Dann hörte ich einen erstickten Schrei, welcher von Lou stammen musste. «Liv», Lous Stimme klang etwas hohl, «Bitte sag mir dass es Fiona gut geht.» «Sie hat sich den Arm gebrochen, aber sie konnte wieder nach Hause.» Ein erleichtertes Seufzen von Lous Seite war zu hören. «Ich werde sie heute Nachmittag besuchen, um mit ihr deinen Ritt zu schauen, du bist doch noch drin oder?» Ich nickte, erinnerte mich jedoch, dass Lou das unmöglich gesehen haben konnte, und seufzte. «Ja, ich bin aber so weit hinten, es ist kaum möglich dass ich noch nach vorne komme.»
Von Lou kam keine Reaktion ausser dem leisen Klicken ihrer Tastatur. «Wie schnell warst du?», kam es dann etwas später. «Ich hatte 72 Sekunden, aber warum-» Ich wurde abrupt von Micky unterbrochen, der anscheinend fand, jetzt ist ein guter Moment um Streicheleinheiten und Leckerlies einzufordern. Lou nahm das als Anlass loszureden. «Du oder Fiona, eine von euch hat mir vorgestern doch das Wertungssystem erklärt.» «Das war vermutlich Fiona», warf ich ein. «Wie auch immer. Jeder Strafpunkt wird als Sekunde zur Zeit dazugerechnet», quasselte Lou weiter. Ich schob den Kopf meines aufdringlichen Wallachs zu Seite. «Ja, ich habe aber vier.» Dann ging mir etwas auf. «Das macht 76 Sekunden», stellte ich fest. Mein Herz machte beinahe einen Salto.
«Wie viele Sekunden hat der erste Platz?», fragte Lou etwas aufgeregt. Ich dachte kurz nach, was ziemlich schwierig war, da meine Gedanken nur so rasten. «73 Komma irgendwas», antwortete ich. So genau wusste ich es nicht, ich wusste nur dass die ersten zehn Ränge extrem nahe bei einander waren. «Und auf welchem Platz bist du?», Lou schien schon etwas zu ahnen, ihrem Tonfall nach. «8. Ist alles ziemlich eng beieinander.» «Und du behauptest das kannst du nicht schaffen? Du musst nur drei Sekunden schneller sein als der oder die auf dem ersten Platz.» Lous Stimme überschlug sich fast. Ich teilte ihre Euphorie nur zur Hälfte. «Drei Sekunden sind recht viel», warf ich skeptisch ein. Trotzdem durchfuhr mich eine Motivation.
Ich hielt an und sah meinem Schecken tief in die honigbraunen Augen. «Micky», flüsterte ich. «Glaubst du wir können das schaffen.» Der Wallach machte eine leichte Nickbewegung, welche ich mir auch eingebildet haben konnte. Dann grummelte er leise. Ich wertete das als eine Zustimmung und fiel ihm um den Hals. «Liv, ich mag deine Pferdebeschwörung ja nicht stören, aber ich muss jetzt aufhören», klang die Stimme meiner Freundin aus dem Kopfhörer. «Ok, schade, viel Spass bei Fiona», verabschiedete ich mich. Lous Lachen klang durch die Leitung. «Wir drücken dir die Daumen.» Dann legte sie auf. Ich atmete tief aus. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, mein Herz schlug wie verrückt. Ich umfasste den Führstrick fester. «Micky», sagte ich in einem feierlichen Tonfall, «wir haben ein Turnier zu gewinnen.»
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