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Fiona und ich sassen im Foyer des Krankenhauses und assen überteuerte Schokolade und Chips welche ich mit meinem letzten Kleingeld aus dem Selecta-Automaten in der Cafeteria geholt hatte. Fiona hatte unglaubliches Glück gehabt: Der Bruch war nicht kompliziert und sie musste auch nicht operiert werden, daher durfte sie heute schon wieder nach Hause. Jedoch würde sie für einige Zeit einen Gips tragen müssen. Müde warf sie einen Blick auf die Uhr über dem Schalter. Halb sieben. Ann-Kathrin wollte doch nur unsere Taschen ins Hotel bringen, doch das dauerte sicherlich nicht vierzig Minuten. «Magst du noch etwas Chips?», ich hielt Fiona meine halbleere Tüte hin. Sie schüttelte nur den Kopf.

Wir sassen weitere Minuten schweigend da, bis Fiona einen grauen Landrover vor dem Krankenhaus parken sah. «Ann-Kathrin ist da.» Die Fahrt ins Hotel verlief kurz und ereignislos. Ann-Kathrin hatte schon eingecheckt und so ging ich mit Fiona auf unser Doppelzimmer. Sie würde jedoch nicht hier übernachten, ihre Eltern waren auf dem Weg und würden sie abholen. Ann-Kathrin würde Dark Princess morgen nachhause mitnehmen. Wir stellten den Fernseher ein und zappten uns durch die Kanäle. Beim Sportkanal blieben wir hängen. Gerade lief eine Zusammenfassung.

«Nun von der Champions League zum Reiten. Die Topreiter verschiedener Nationen haben im Gründenmoos ihr Können unter Beweis gestellt. In der heutigen Hauptprüfung, dem Jagdspringen, konnte die Schweiz sogar den Sieg erringen. Werner Muff und sein Cosby belegte den ersten Platz, vor dem Briten William Whitaker auf Fandango und dem Franzosen Olivier Robert mit Vivaldi des Menaux. Mit Martin Fuchs, Nikolaus Rutschi, Phillip Züger und Edwin Smits sind vier weitere Schweizer in den Top Ten. Ein weiteres Hauptevent war die erste Runde der Schweizer Juniorenmeisterschaften. Hier übergebe ich das Wort an meine Kollegin Cecilia Almend, unsere Expertin für den Pferdesport.»

Der ältere Moderator wurde ausgeblendet und eine stark geschminkte, schwarzhaarige Frau übernahm. «Die Junioren haben sich heute morgen ein unglaubliches Duell geliefert. Aline Schwerenhof, Tochter des Juniorenkadertrainers Franz Schwerenhof, ging als grosse Favoritin ins Rennen. Auf ihren Pferden Camaccio und Red Africa gelangen ihr gleich zwei sensationelle Nullrunden, welche sie gleich auf Rang 1 und 5 gebracht haben. Rang zwei belegte der Berner Yannick Elsner auf seiner Hannoveranerstute The Symphony. Dritte wurde die Waadtländerin Angélique Chevally mit Trendy Leva. Die schnellste Zeit des Tages gelang Olivia Dreher auf ihrem Schecken Michelangelo. Bei ihrer waghalsigen Runde hatten sie jedoch einen Abwurf und landeten am Ende des Tages auf Rang 8. Für einen Schreckmoment sorgte Fiona Narrodini als ihre Stute Dark Princess durchging. Die Bündnerin wurde ins Spital eingeliefert.»

Als dann die Sequenz eingeblendet wurde in der Fiona stürzte, erbleichte meine beste Freundin. Ich sah ihr ins Gesicht, nicht auf den Bildschirm. Ich musste nicht sehen wie Dark Princess Fiona wie eine Puppe abwarf. «Und nun zum Rugby», sagte der Moderator fröhlich. Fionas Blick war eine Mischung aus «Ich polier dir gleich die Fresse» und «Wie um alles in der Welt habe ich diesen Sturz überlebt.» Ich legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie an mich. «Wollen wir irgendeine Serie schauen.» Sie sah auf ihr Handy. «Meine Eltern sind im Stau, es könnte noch sicher eine Stunde dauern», bemerkte sie. Wir legten uns aufs Doppelbett und lehnten mein Handy gegen das Kissen. «Wollen wir Sherlock weiterschauen?», fragte ich und öffnete Netflix. Ich hatte Fiona die Serie vor einigen Wochen schmackhaft gemacht. Wir waren erst bei der zweiten Staffel und ihr stand die letzte Folge, Der Reichenbachfall noch bevor. Fiona nickte begeistert.

Ich startete die Folge und das uns wohlbekannte Intro begann. Ein kleines Lächeln stahl sich auf Fionas Gesicht. Innerlich musste ich grinsen. Wenn sie nur wüsste warum diese Episode mein armes Fangirl-Herz ruiniert hatte. Wir genossen die Folge. Ich fand den Reichenbachfall eine der besten Episoden der Serie, wenn es auch eine der traurigsten war. Der Abspann begann und sie setzte sich auf. Ich nahm ihre Tasche und gemeinsam gingen wir in das Foyer des Hotels um auf Fionas Eltern zu warten.

Kaum hatten wir es uns auf den Sesseln einigermassen gemütlich gemacht kamen schon Herr und Frau Narrodini in das hellerleuchtete Foyer. «Fiona», sagte ihre Mutter und umarmte ihre Tochter, darauf achtend ihren Gips nicht zu berühren. «Was machst du nur für Sachen?», fragte sie und löste die Umarmung. Fionas Wangen wurden rot und sie blickte auf ihre Schuhspitzen. Jetzt schaltete sich ihr Vater ein. «Hast du alles?» Fiona nickte. Sie winkte mir zum Abschied kurz zu, dann folgte sie ihren Eltern durch die Glastür und war verschwunden.

Mit einem Seufzen lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und sah auf die Uhr an der Wand gegenüber der Rezeption. Halb sechs, langsam bekam ich Hunger. Ich ging wieder auf mein Zimmer, duschte und zog mich um. Im Restaurant des Hotels gab es Fisch, nicht unbedingt mein Lieblingsessen aber die Beilagen, Nudeln, waren sehr gut. Während ich auf mein Dessert wartete, beobachtete ich die anderen Gäste des Hotels. Ich liess meinen Blick über die verschiedenen Tische schweifen, bis mir ganz hinten, neben den Toiletten zwei Gestalten auffielen. Ein älterer Mann, sowie ein Mädchen mit hellbraunen Haaren. Aline und Franz Schwerenhof. Die beiden schienen in eine hitzige Diskussion vertieft zu sein, als aus den Toiletten eine weitere bekannte Gestalt kam: Orlando.

Er entdeckte mich sofort und kam auf mich zu. «Na auch hier?», sagte er freundlich. Ich nickte. «Ja, du kannst dich gerne hinsetzen» Er setzte sich hin und wir schwiegen uns eine weile an. Als die Stille unangenehm wurde, begann Orlando zu reden. «Schwerenhofs gehen nachher noch zu den Pferden. Wenn du willst, kannst du sicher mitkommen.» «Das wäre richtig lieb, ich muss noch mein Pferd und das von Fiona verpflegen.» «Stimmt, Fiona hatte heute ja einen Sturz. Wie geht es ihr?», fragte er besorgt. Die Bedienung kam mit meinem Dessert und so wurden wir unterbrochen.

Sobald wir wieder ungestört waren, antwortete ich. «Den Umständen entsprechend gut. Sie hat sich den Arm gebrochen, konnte aber zum Glück schon wieder gehen. Ihre Eltern haben sie vor etwa einer Stunde abgeholt.» Ich probierte einen Löffel meiner Vanillecreme. Das süsse Aroma überwältigte mich beinahe. «Dann hat sie nochmal Glück im Unglück gehab.» Orlandos Stimme klang mitfühlend. «Ja das hat sie. Fiona ist auch sehr enttäuscht dass sie morgen nicht reiten kann. Ich glaube sie hätte gute Chancen gehabt.» Orlando lächelte etwas. «Das sieht ihr ähnlich. Egal wie verletzt man ist, reiten ist wichtiger.» Ich lachte leise, froh dass die etwas bedrückte Stimmung verflogen war. «Sind nicht alle Reiter so?» Jetzt lachte auch der junge Amerikaner. «Da hast du recht.»

Wir redeten noch eine Weile, meine Creme war schon lange fertig und die leere Schale abgeräumt, als Ann-Kathrin mit einem breiten Grinsen auf uns zu kam. «So geht das nicht, Olivia, einfach flirten, wenn es Pferde zu versorgen gibt», neckte sie mich. Orlando lachte. «Wir wollten gerade zusammen nach den Pferden sehen.» Ann-Kathrin zog eine Augenbraue hoch. «Bist du nicht der Pferdepfleger von Schwerenhofs?», fragte sie. «Ja der bin ich, Orlando», er stand auf, stellte sich vor und hielt ihr die Hand hin. Die Brünette, nahm seine Hand und schüttelte sie. «Ann-Kathrin, Olivias Trainerin.» Ich warf ihr einen leicht verwirrten Blick zu. Ann-Kathrin war doch im Normalfall nicht so.

Dann bemerkte ich dass die Schwerenhofs auf und zu kamen. Sie wollte also ein bisschen Eindruck schinden. Franz Schwerenhof hatte uns beinahe erreicht, Aline hielt sich etwas zurück. Ich stand jetzt auch auf. «Guten Abend, Sie sind also die Trainerin von Olivia Dreher?», fragte er meine Reitlehrerin. Diese gab sich unbeeindruckt. «Ja Ann-Kathrin Derungs mein Name, ich trainiere sie seit 5 Jahren.» «Interessant, ich habe noch nie von ihnen gehört.» Ann-Kathrins Blick verhärtete sich. «Ich bin früher selber bis S-Niveau gestartet. Den Durchbruch habe ich, im Gegensatz zu Olivia, wie es scheint nicht geschafft.» Franz Schwerenhof nickte nur.

«Aline», rief er seine Tochter zu sich. «Hier hast du den Autoschlüssel, fahr selber mit Turner zu den Pferden.» Erst jetzt fiel mir auf, dass ich Orlandos Nachnamen in fast dem Jahr, in dem er hier war, noch nie gehört hatte. Orlando räusperte sich. «Kann Olivia auch mitkommen? Sie muss auch ihr Pferd versorgen.» Aline Schwerenhof nickte nur wortlos und eilte aus dem Speisesaal. Orlando und ich hatten Mühe mit ihr Schritt zu halten. Sie durchquerte das Foyer und trat hinaus auf den Parkplatz des Hotels. Obwohl es abgekühlt hatte, brauchten wir uns keine Sorgen zu machen, dass es zu kalt wurde. Alines Ziel schien ein weisser BMW zu sein. Sie schloss auf und ich setzte mich auf die Rückbank.

Als wir losfuhren, bekam ich das Gefühl, dass Aline noch nicht so lange einen Führerschein hatte. Sie führ zwar nicht schlecht, aber sie war nicht die beste Fahrerin. Und fluchen konnte sie, was ich der zierlichen jungen Frau nicht zugemutet hätte. Ihre Beifahrer, Orlando und ich, schwiegen die ganze Zeit. Nachdem sie mehrere Autofahrer verflucht hatte, waren wir endlich wieder im Gründenmoos. Aline sagte zum ersten Mal etwas anderes als Verwünschungen. «In einer Stunde wieder hier, geht dass?», fragte sie mich. Sie war nicht direkt feindselig, aber eine leichte Abneigung schwang in ihrem Unterton mit. Ich nickte. Wir stiegen aus und ich ging über den Anhängerparkplatz zu Ann-Kathrins Hänger.

Es war nicht schwer ihn auszumachen, da gross Pferdesportzentrum Auenhof Bergstadt drauf stand. Ich nahm die Schüsseln mit dem Kraftfutter heraus, welche wir schon vor der Abreise vorbereitet hatten. Wie immer, musste Fionas auffallen. Sie war neongrün. Ich bevorzugte ein schlichtes dunkelblau. Während die Pferde ihr Kraftfutter frassen, füllte ich das Wasser auf und holte Heu, welches es hier für alle Teilnehmer zur freien Verfügung gab. Ich stopfte beide Heunetze voll, was ohne Fionas Hilfe doch ziemlich anspruchsvoll war. Nachdem die Pferde verpflegt waren, begann ich zu misten. Die Boxen hatten wahnsinnig viel Einstreu, weshalb ich nicht nachstreuen musste. Michelangelo hatte sich, ganz wie ich ihn kannte, in den grössten Dreck gelegt und stand über und über mit Sägespänen bedeckt in der Box und frass Heu. Ich bürstete den gröbsten Dreck mit einer Magic Brush herunter und deckte ihn mit einer Fliegendecke ein. Micky war echt garstig, was diese Viecher anbelangte. Dark Princess war wie immer, sauber und ordentlich. Ich schaffte das alles relativ locker in einer Stunde und trotzdem warteten Orlando und Aline schon am Auto.

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