48~
Im Hotel riss Fiona die Zimmertür auf und verkündete lauthals, dass wir wieder zurück waren. Als Antwort hörten wir nur Lous leises Schnarchen, ihre schwarzen Haare konnte man gerade noch aus in dem Chaos aus Decke und Kissen erkennen. Von Orlando fehlte jegliche Spur, nicht einmal seine Schuhe waren hier. Leise hängten wir unsere tropfnassen Jacken auf und zogen uns um. Wir waren mit Carmen und Aline im Restaurant verabredet. Ein leises Klopfen an der Zimmertür liess mich zusammenfahren. Hastig zog ich mein T-Shirt an und öffnete. Ein klatschnasser Orlando stand vor der Tür. «Ah, ihr seid auch zurück», sagte er, während ich ihn reinliess. «Ja, seit ein paar Minuten», bestätigte Fiona. «Wir essen mit Carmen und Aline.» Orlando nickte. «Und Lou?» «Sollen wir sie wecken?», fragte ich, obwohl ich wusste das es Selbstmord wäre. Fiona schüttelte den Kopf. «Schreiben wir ihr einfach wo wir sind, sie kann ja immer noch nachkommen.»
Auf dem Weg zum Restaurant schrieb ich Esther Dubois, was ich mit Ann-Kathrin schon besprochen hatte. «Kann ich das so schreiben?», fragte ich Fiona und hielt ihr mein Handy unter die Nase. Diese runzelte die Stirn und las. «Ich denke schon, aber du fragst die Falsche. Unser Grammatikprofi schläft oben.» Ich schaubte. «Als ob du so schlecht wärst. Wie war das mit dem Fünfer im Zeugnis?» «Der Spescha hat aufgerundet.», verteidigte Fiona sich mit gespielter Empörung. Ich machte eine wegwerfende Handbewegung und versendete die Nachricht. Es war vollbracht. Carmen, Aline und ihr Pfleger Rico, erwarteten uns schon. «Bis ihr kommt sind wir schon zweimal verhungert», scherzte Aline und alle lachten mit. «Nein, jetzt mal ernsthaft. Hier zu warten, während man von der Küche her Pizza riechen kann, ist echt eine Qual», erklärte Aline grinsend.
Lou hatte glaub einen neuen Rekord im Langschlafen aufgestellt. Laut Orlando hatte sie seit gestern Abend um sieben geschlafen und hätte es auch noch weiter, wenn wir nicht nach Lignières gemusst hätten. So sass sie missmutig neben mir. «Ach komm schon Lou», hatte Fiona versucht sie aufzumuntern, «du hast über zwölf Stunden geschlafen, das kann doch kein Mensch.» Bei Lous stechendem Blick war sie verstummt. Heute war das Wetter besser und ich freute mich auf die Prüfung mit Bohemian Rhapsody. Später würde ich mit Chanel noch einen Sprung versuchen, damit wir vielleicht wieder zusammenfanden, denn nach dem Sturz klappte es nicht mehr wirklich.
Gemeinsam mit Carmens, Orlandos und Fionas Hilfe war Bohemian Rhapsody in kurzer Zeit bereit. Carmen hatte den Wallach sogar eingeflochten. Schon beim Abreiten fühlte sich der Wallach grossartig an. Wie der Zufall es wollte würde ich zwischen Lia Merlin Maier und Kevin reiten. Aus dem Augenwinkel beobachtete wie Marchesi Blù auf der Volte trabte. Mir fiel auf das er seltsam ruhig wirkte. Ein Transporter fuhr am Abreiteplatz vorbei und sogar Soda spitzte die Ohren und schaute, aber Marchesi schien es nicht zu stören. Auch nicht das ein Schimmel wegen dem Transporter senkrecht in die Luft sprang und somit direkt vor der Nase des Braunen landete. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Das dies niemandem komisch vorkam? Ich seufzte und trabte Bohemian Rhapsody an. Im Endeffekt war es nicht meine Aufgabe und ich sollte mich nicht ablenken lassen.
Beim Einreiten in den Parcours kreuzte ich eine geknickte Lia Merlin. Marchesi war etwas zu entspannt gewesen und hatte die Beine etwas sehr hängen gelassen. Mit 16 Strafpunkten und hochroten Wangen ritt sie vom Platz. Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, doch sie starrte mich bitterböse an, wie wenn ich höchstpersönlich schuld an ihrer schlechten Runde war. Ich atmete durch, schob das Bein zurück und willig galoppierte der Wallach unter mir an. In ruhigem Tempo ritten wir den ersten Oxer an. Soda sprang wie eine Eins. Nach der Kurve auf die Kombination kamen wir etwas dicht und nur der riesige Satz von Bohemian Rhapsody rettete uns vor einer fallenden Stange. Als Folge klapperte es beim Aussprung, aber die grün-weisse Stange blieb liegen.
Mit höchster Konzentration lenkte ich den Wallach auf den Wassergraben zu. Durch meinen leichten Schenkeldruck legte er zu, der Sand stieb unter den Hufen zur Seite. Ich zählte die Galoppsprünge bis zum Graben. Drei, Zwei, er stiess sich zu früh ab und streckte sich. Ob der Sprung weit genug war, wusste ich nicht, den schon kam der nächste Sprung, einen ockerfarbenen Steil, der kein Probleme darstellte. Ehe wir uns versahen waren wir schon auf der Schlusslinie. Nur noch der finale Oxer lag vor uns. Erst als wir gelandet waren, erlaubte ich mir einen Blick auf die Anzeigetafel. Null Fehler und in der Zeit. Mehr als zufrieden klopfte ich den Hals der Braunen. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht ritt ich vom Platz.
Am Ausgang kreuzte ich Kevin mit seinem Champ of Glass. Das Fell des Rappen schimmerte im Licht und der federnde Trab des Hengstes erinnerte mich an ein Dressurpferd. Champ of Glass war ein Hingucker.
Sobald wir vom Platz waren, wurden wir von meinen Freunden umringt. Carmen gab Soda einige Leckerlies, während ich den Sattelgurt ein Loch lockerte. «Guter Ritt», sagte Orlando, während er Bohemian Rhapsodys Hals streichelte. Ich lächelte. «Danke.» Lou hielt etwas Abstand, der riesige Wallach war ihr nicht geheuer. Als ich ihr ermutigend zulächelte, zeigte sie mit beiden Daumen nach oben. Fiona brachte mich auf den neuesten Stand der Zwischenrangliste. «Du bist gemeinsam mit Aline und vier weiteren im Stechen», informierte sie mich. «Aber du hast, neben Aline, die besten Chancen.» Fiona redete noch weiter, wie und warum sie das wusste, aber eine Ansage, welche über das Gelände schallte, unterbrach sie. Zwar redete der Ansager französisch, aber Fiona musste etwas rausgehört haben, denn sie sagte: «Kevin ist auch im Stechen.» Ich zuckte die Schultern. Was zu erwarten war.
Auf dem Abreiteplatz hing ich meinen Gedanken nach. Erst dann realisierte ich richtig was in den letzten Wochen eigentlich alles geschehen war. Michelangelos Kolik war erst etwa mehr als einen Monat her, aber es war so viel passiert, es kam mir vor wie Jahre. Vor ziemlich genau einem Monat war ich das erste Mal auf Soda, Chanel und Madame Chasseral geritten, Pferden, die ich vorher nie gesehen hatte. Erst letzte Woche war ich für die Europameisterschaft in Fontainebleau selektioniert worden und... Ich konnte es nicht fassen, es wirkte immer noch so surreal, Übermorgen würden wir aufbrechen. Übermorgen werden wir auf dem Weg nach Frankreich sein. Ich werde mit Chanel an den Europameisterschaften reiten. In diesem Moment befiel mich zum ersten Mal die Aufregung. Ich hatte mein Ziel beinahe erreicht, ich hatte die Finger danach ausgestreckt und es war zum Greifen nahe.
Das alles konnte doch nicht wahr sein. Ich mag nicht sagen es ist zu schön um wahr zu sein, denn gewisse Dinge waren gar nicht schön gewesen, aber in diesem Moment erwartete ich das Piepsen von Lous Wecker zu hören, gefolgt von ihrem Fluchen und kurz darauf im Internat die Augen aufzuschlagen. Ich konnte es nicht verkneifen und kniff mir in den Arm. Nein, das war echt, kein Traum. Lous Wecker und das Internat waren weit entfernt und konnten das nicht zerstören. «Liv, du Träumerin» Erschrocken fuhr ich zusammen, Soda machte einen Hüpfer zur Seite. Fionas Stimme holte mich zurück in die Wirklichkeit. «Du bist bald dran.» Ich sortierte die Zügel, die mir bei Sodas Sprung aus der Hand geglitten waren. Ich atmete durch und nickte. Ich nahm noch ein mal den Oxer, als letzten Sprung vor dem Stechen. Soda fühlte sich munter an, was ich mit Freuden feststellte.
Mit zusammengepressten Lippen visierte ich den Steilsprung. Meine Schenkel pressten sich gegen Bohemian Rhapsodys Flanke, der Wallach schnaubte und legte zu. Carmens Worte vor dem Einreiten hallten in meinem Kopf nach. «Zeig ihnen was du drauf hast!» Mit einem Klopfen auf Sodas Kruppe war sie zurückgetreten um uns zuzuschauen. Der Wallach unter mir hob den Kopf, sprang ab und segelte über den Sprung. Ich setzte mich hin, gab die Hilfen und schnalzte, der Braune jagte über den Platz. In meinen Ohren rauschte das Blut und übertönte beinahe den Rhythmus des Galopps. Bohemian Rhapsody streckte die Nase vor, warf seine langen Beine bei jedem Galoppsprung vor, seine Ohren steif auf den letzten Sprung gerichtet. Der Rhythmus der Huf verstummte als der Wallach sich in die Luft sties, nur um mit der Landung wieder einzusetzen. Ich lobte Soda ausgiebig, warf einen Blick auf die Anzeigetafel und unterdrückte mit Mühe einen Freudenschrei. Neue Bestzeit und mit nur noch einem Reiter nach mir war mir ein Podestplatz gewiss.
Wie vorher kreuzten wir wieder Kevin und Champ of Glass. Am Ausgang durfte ich gleich hinter der Schranke warten, schliesslich war gleich die Siegerehrung. Ich verfolgte die Runde, welche gewagt, aber sehr schnell war und fieberte mit. Als am letzten Sprung die Stange fiel, hatte ich Mitgefühl mit Kevin, was aber ziemlich schnell vom Hochgefühl, gewonnen zu haben verschluckt wurde. Die Stimme des Ansagers schallte blechern aus den Lautsprechern und ich hörte eine Reiterin hinter mir flüstern: «Er ist dritter.» Ich drehte mich um und es war Aline. Sie sass auf Camaccio, war aber laut Fionas Rechnungen mit Red Africa Zweite. «Habe in der Schule Französisch gelernt. Ausnahmsweise bringts was», meinte sie mit einem Grinsen.
Die Musik begann zu spielen und ich ritt, gefolgt von anderen Pferden und Reitern auf den Platz. Wir stellten auf, rechts von mir Aline, zu meiner linken Kevin. Der Ansager sagte irgendwas, das Publikum applaudierte und Aline flüsterte mir zu: «Leonie Stecher und Boulevard of Broken Dreams, Rang 10.» Ich drehte mich zu ihr um. «Danke», doch bevor sie etwas erwidern konnte, hörte ich wie sie selbst aufgerufen wurde und lostrabte. Das war wieder einmal typisch Aline. Gleich zwei Pferde gut platzieren. Mit einer Schleife am Zaum ihres Pferdes kam sie zurück und stellte sich wieder neben mich. Auch die weiteren Platzierungen flüsterte sie mir zu. Als sie bei «Kevin Bührer und Champ of Glass, Rang Drei», angelangt war beobachtet ich wie Kevin unter Applaus zu den Richtern ritt, die die Schleifen verteilten. Bohemian Rhapsody begann zu tänzeln.
Aline wurde abermals aufgerufen und der Wallach unter mir begann beinahe zu piaffieren. Ich ritt eine kleine Volte und er beruhigte sich wieder etwas. Und dann fiel endlich mein Name. Soda schien nur darauf gewartet zu haben, das ich ihn antraben liess, denn er eilte zügig zu den Richtern. «Toutes mes félicitations!», sagte die Richterin die mir die Hand schüttelte. Ich hatte zwar keine Ahnung was sie meinte, aber ich denke, mit «Merci», ist man nie falsch. Ich lobte Bohemian Rhapsody und nahm die Zügel auf. Jetzt kam der beste Part: die Ehrenrunde. Die Musik begann zu spielen, Soda hob kurz die Vorderbeine in die Luft, dann schoss er nach vorne, machte zwei Bocksprunge und galoppierte dann, wie wenn nichts gewesen wäre. Aber das konnte mein zufriedenes Lächeln nicht trüben. Ich liess mich von der Musik und dem Applaus berauschen.
Ein Wunder ist geschehen: zwischen diesem und dem letzten Kapitel liegen nicht Monate. Die Diagnosen für mein Handgelenk sehen zwar immer schlimmer aus, aber ich habe ausnahmsweise mal keine Schreibblockade und das muss genutzt werden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top